Tourismus als Globalsystem
Tourismus gilt als Weltphänomen mit einer kaum mehr überschaubaren, megadimensionierten Gesamtstruktur. Seine Relevanz ist ablesbar an einer alles durchdringenden Prägungskraft in gesellschaftlicher, politischer, kultureller und besonders in ökonomischer Hinsicht. Tatsächlich haben wir es mit dem am stärksten wachsenden Industriezweig zu tun: Die World Tourism Organization (WTO) veranschlagte das diesbezügliche Volumen 2007 auf jährlich 904 Millionen Menschen, die als Touristen unterwegs waren und 855 Milliarden US-Dollar ausgaben.1 Sie stützen so ein Globalsystem mit geschätzten 100 Millionen Beschäftigten, welche im Dienst einer modernen Freizeit- und Erlebnisindustrie stehen. Für die Befriedigung touristischer Bedürfnisse von mobilen Individuen, Gruppen und Massen sorgt ein weltweit vernetztes, hochkomplexes Gefüge von darauf ausgerichteten Anbieterstrukturen. Der Tourismus polarisiert, seit es ihn gibt: Er enthüllt zahlreiche Positionen zwischen totaler Zustimmung zu einer bereichernden Seinsverwirklichung mit Erholungsanspruch und kritischer Ablehnung aufgrund der Annahme von systematisch verursachten Schadenswirkungen durch Unterhaltungsverdummung und vermeidbare Umweltzerstörung.
Im deutschsprachigen Raum formierte sich seit den 1920er Jahren eine stark auf betriebs- und volkswirtschaftliche Probleme gerichtete frühe Fremdenverkehrslehre, die seit den 1960er Jahren durch eine immer breiter werdende Tourismusforschung abgelöst wurde. Sie gibt vielen Disziplinen Raum, sich dem Gegenstandsbereich Tourismus (bzw. Teilaspekten davon) fachspezifisch zu nähern. Spricht man heute von Tourismuswissenschaft, meint man einen pluridisziplinär daherkommenden Forschungsverbund im Sinn einer offenen "Querschnittsdisziplin"2, durchaus unter Einschluss möglicher Anwendungen. Was fehlt, ist eine ganzheitlich orientierte Tourismusforschung. Was dagegen vorliegt, sind unzählige Gegenstandsbehandlungen, Fallstudien, Zugänge, Theorien und Perspektiven in Einzeldisziplinen, darunter sind vor allem die Ökonomie, Geographie, Psychologie, Architektur, Ökologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Medizin zu zählen.
Nach einer ökonomisch-betriebswissenschaftlich und auch institutionell gefestigten Tourismuslehre3 reihen sich kulturwissenschaftliche Zugänge, Gesamtdarstellungen4 und historische Beitragsleistungen5 auffallend spät ein. Kultur- und Sozialgeschichte und ebenso die historische Anthropologie6 öffnen sich touristischen Problembereichen zwar seit einiger Zeit7, werden aber in ihrer Bedeutung gegenüber ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen anders wahrgenommen. Dabei kommt man an den historischen Voraussetzungen und Entwicklungen von Reisegewohnheiten und Urlaubsstilen nicht vorbei, wenn man die touristischen Erscheinungsformen der Gegenwart verstehen will. Das bezieht sich nicht allein auf gegenstandsbezogene Begriffe und Konzepte, sondern ebenso auf fachspezifische Erkenntnisziele. Historische Tourismusforschung im Rahmen der Geschichtswissenschaft zu betreiben ist nicht deckungsgleich mit dem Vorhaben, eine Geschichte des Tourismus (oder einzelner Teile davon) zu schreiben.8
Der vorliegende Beitrag ordnet sich dem zweiten Zugang zu. Er versteht sich als Versuch einer Überblicksdarstellung, welche klassische Prozesse, Etappen, Typen und Trends des modernen Tourismus aufnimmt, um sie vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung einzuordnen. Allgemein besteht Konsens darüber, den Tourismus als ein Phänomen der Moderne zu begreifen und dessen Entstehungsphase im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts anzusetzen. Dies schließt aber historisch ältere, "verwandte" Reisetypen nicht aus, an die hier wenigstens erinnert sei. Nicht jedes Reisen ist auch touristisches Reisen; die Mobilität kennt viele Modalitäten. Sinnvoll ist es, Reisen als Mittel zum Zweck (z.B. Vertreibung, Wanderung, Krieg, Religion, Handel) und Reisen als Selbstzweck im touristisch kodierten Sinn (Bildung, Erholung, Muße, Freizeit, Geselligkeit, Unterhaltung) kategorial zu unterscheiden.
Frühe Reiseformen und Reisetypen
Erholungs- und bildungsgeprägtes Reisen gab es bereits in der Antike und zuvor im ägyptischen Pharaonenreich. Hier sind Reisen belegt, deren Motive in Luxusgebaren, Zeitvertreib, Erfahrungserweiterung und Erholung lagen. Privilegierte Bevölkerungskreise pflegten erste Reisen zum Vergnügen. Sie besuchten, wie aus ihren Inschriften ersichtlich ist, berühmte Monumente und Zeugnisse der altägyptischen Kultur, darunter z.B. die Stufenpyramide von Sakkara, die Sphinx und die großen Pyramiden von Gizeh – "Bauwerke, die gut tausend Jahre zuvor errichtet worden waren"9. Die Griechen folgten ähnlichen Traditionen. Sie reisten nach Delphi, um das Orakel zu befragen, nahmen an den Pytischen Spielen (Musik und sportliche Wettbewerbe) teil oder fuhren zu den Olympischen Spielen. Mit Herodot (um 485–424 v. Chr), dem weit gereisten und historisch wie ethnographisch interessierten Schriftsteller, der Ägypten, das nördliche Afrika, das Schwarze Meer, Mesopotamien und Italien besucht hatte, verbindet sich der neue Typus der Forschungsreise.10
Auch die römische Antike verhalf dem Reisen und ausgewählten Urlaubsformen zu Schubkraft. Der Reiseverkehr gewann aufgrund des infrastrukturellen Ausbaus zunehmend an Bedeutung. Um 300 n. Chr. stand ein Straßennetz mit 90.000 Kilometer Überlandverbindungen und 200.000 Kilometer kleineren Landstraßen zur Verfügung, das neben Truppen- und Warentransport auch dem Personenverkehr diente. Davon profitierten in erster Linie begüterte Bildungs- und Vergnügungsreisende. Seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert bestand "eine regelrechte Fremdenverkehrswirtschaft, die Einzel- und Gruppenreisen organisierte, Auskünfte erteilte und für Unterkunft sowie Verpflegung sorgte"11: Der vornehme Römer suchte im Sommer Erholung in den Seebädern im Süden oder verweilte an den Stränden Ägyptens und Griechenlands. Die Antike kannte aber nicht nur den Typus "Badereise" – sie entwickelte auch eine Frühform der "Sommerfrische" in mondänen Thermalbädern und Luxusorten, von denen reiche Stadtbürger während der heißen Monate Gebrauch machten. Was vordergründig gesundheitsmotiviert daherkam, mutierte touristisch bald zum Vergnügungs- und Unterhaltungsurlaub, der auch mit Glücksspiel und Prostitution verbunden sein konnte. Mit dem Niedergang des römischen Reiches verfielen zahlreiche Straßen. Reisen wurde beschwerlicher, unsicherer und aufwändiger.
Die Mobilität der ständischen Gesellschaft des Mittelalters formte eigene Reisetypen mit Wertvorstellungen aus, die auf diverse Gruppen zugeschnitten waren, etwa Kaufleute, Studenten, Soldaten, Pilger, Gesellen, Bettler, Vaganten und Räuber. Seit dem 12. Jahrhundert gewann das Wandern fahrender Scholaren mehrfach an Bedeutung. Das Wandern zu berühmten Bildungsstätten in Frankreich (Paris, Montpellier), England (Oxford) oder Italien (Bologna) wurde Brauch und Ausbildungselement zugleich. Das Erfahren der Welt geriet zu einem individuell einmaligen Lebensprinzip. Das Reisen entwickelte sich vom Mittel zum Zweck: Man reiste nun, um unterwegs zu lernen, und entwickelte dabei auch Reise- und Lebenslust, nicht selten bis hin zu Zügellosigkeit und Sittenverwilderung. Hinsichtlich der Reisemotive zeichnet sich hier ein wichtiger Prozess mit Folgewirkungen ab – Reisen und Wandern gilt seither als Auseinandersetzung mit sich selbst und Selbstverwirklichung. "Das subjektive Reiseerlebnis wird zu einem Kennzeichen der beginnenden Neuzeit: auf Reisen erlebt das eigene Ich seine Befreiung".12
Als eine Art Pendant zur reisegeprägten Lebensschulung fahrender Schüler lassen sich die Wanderjahre der Handwerksgesellen einordnen. Handwerkswandern, Gesellenwandern, Wanderjahre oder Burschenschaft, wie das Phänomen auch bezeichnet wird, gehört zum traditionsverpflichteten Handwerks- und Zunftwesen und ist seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bezeugt. Seit dem 16. Jahrhundert verordneten die Zünfte die europäisch verbreitete Wanderpflicht als obligates (oft drei bis vier Jahre dauerndes) Ausbildungselement, das institutionell mit einer reichen und streng kodierten Brauchkultur bis ins 18. Jahrhundert überlebte. Tragende Idee war dabei, dass man auf Reisen reifen könne und lerne, die Welt zu erfahren und das Handwerk zu verbessern, um durch eine Bewährungsprobe erwachsen zu werden bzw. als gestandener Mann zurückzukommen. Die Wanderschaft war Teil des persönlichen und fachlichen Qualifikationsausweises. Dass nicht alle Gesellen reüssierten und oft verhängnisvoll verkamen, bezeugt der im 17. und 18. Jahrhundert kursierende Befund einer "Seuche der Handwerksreisen".13
Vorläufer des modernen Tourismus
Als Frühform und Vorläufer des modernen Tourismus erscheint die Grand Tour – die von jungen Adeligen vom 16. bis ins 18. Jahrhundert absolvierte Kavaliersreise. Sie verfügte über eigene, neue und klare standesbezogene Strukturen: Diese waren primär auf Bildungserweiterung, Abschluss der Erziehung, Aneignung und Verfeinerung der weltmännisch-gesellschaftlichen Umgangsformen gerichtet, schlossen mit der Zeit aber verstärkt Muße und Vergnügungen ein. Zum einen formierte sich hier ein differenziertes Paradigma des Reisens "als eine Kunst"14, zum anderen deutet sich mit dem Anspruch auf Amüsement und Lebensgenuss auch ein Element von Reisen als Selbstzweck15 an. Die klassische Grand Tour dauerte ein bis drei Jahre und wurde bezüglich Route, Ablauf, Kontakten sowie Erziehungs- und Bildungsprogramm minutiös geplant. Die Adeligen reisten im Tross, in ständiger Begleitung von Reisemarschällen, Hofmeistern, Mentoren, Tutoren, Projektoren, Protegés, Domestiken, Kutschern und weiterem Begleitpersonal. Sie alle sorgten mit spezialisierten Zuständigkeiten für Sicherheit, Bequemlichkeit, Bildung, Erziehung, Kontrolle und Muße.
Von England führten die Reisen zum Beispiel nach Frankreich und Italien. Besuche der antiken Stätten Italiens bildeten die Höhepunkte der Reise, aber auch große Städte in anderen Ländern wurden besucht: London, Paris, Amsterdam, Madrid, München, Wien und Prag vermochten besonders anzuziehen. Auf diesen Reisen wurden immer auch fremde Höfe und Adelshäuser besucht, sollte doch der Nachwuchs die entsprechenden Umgangs- und Lebensformen praktisch erlernen.16 Die Adeligen sprachen bei Fürsten vor, sie lernten am Hofe richtig aufzutreten und nahmen dann an Gesellschaften und Festen teil:
Ausbildung in Tanz, Reiten und Fechten, Erwerb und Verbessern von Sprachkenntnissen, Besuch von Universitätskursen, Anknüpfen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verbindungen, Praxis im standesgemäßen Auftreten und in gewandten Umgangsformen – all das stand auf dem Programm der Adeligen während der Reise.17
Die Reiseziele waren also hauptsächlich durch politische, gesellschaftliche und berufliche Motive innerhalb des adeligen Stands geprägt, schlossen aber Kunst, Muße und Vergnügungen ein. Mit Angehörigen anderer Schichten und Gesellschaftsgruppen kamen die Adeligen kaum in Berührung, dafür sorgte schon die soziale Kontrolle durch die Begleiter. Es handelte sich um einen eigenen Dirigismus: sozial stark normiert, exklusiv, elitär und auf die eigene Herrschaftssicherung ausgerichtet. Zwei Dinge werden für die Geschichte touristischen Reisens bedeutsam: die Reiseziele und die Begegnung mit fremden Ländern und Sehenswürdigkeiten, interessanterweise an der Schnittstelle eines vermeintlichen Kulturgefälles zwischen Nord und Süd:
Sie [die Adeligen] bereisen Italien im Bewusstsein der eigenen politischen Stärke und organisatorischen Effektivität, des wirtschaftlichen Erfolges und des technischen Fortschritts. Zugleich aber in Bewunderung der kulturellen und künstlerischen Leistungen Italiens und dessen sublimen und kultivierten gesellschaftlichen Umgangsformen. Die Reise nach Italien wird zum Blick zurück in eine als niveauvoller bewertete Kultur, an deren Grundwerten sie sich noch orientieren. Die neue Welt zollt der alten Welt ihren Respekt – ein Grundmuster des Tourismus, das auch in den Reisen von Römern nach Griechenland oder in der Europa-Reise von Amerikanern wiederzufinden ist.18
Bildungsreisen des (gehobenen) Bürgertums markieren tourismusgeschichtlich eine aufschlussreiche Etappe seit der Aufklärung und reichen bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die Reisen des Bildungsbürgertums wurden prototypisch durch prominente Dichter und Philosophen modelliert, unter ihnen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Charles Baron de Montesquieu (1689–1755), Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)[], Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Johann Gottfried Herder (1744–1803) und andere mehr. Sie alle waren mit Bildungsdrang nach Italien oder Frankreich gereist und thematisierten das in der Fremde erworbene Wissen und die gemachten Erfahrungen in literarischen Werken, Reisejournalen und -romanen. Zur Verbreitung der Bildungsreisen trugen später weitere Bürgerkreise und kürzere Aufenthalte bei. Man reiste in Kutschen, erschloss Landschaften und Städte, besuchte Sehenswürdigkeiten, um so Natur, Kultur und Kunst direkt vor Ort aufzunehmen und die eigenen Kenntnisse darüber zu vertiefen. Neben der bürgerlichen Bildungs- und Kunstreise entwickelte sich der Typus einer besonders auf Kultur, Industrie und Technik gerichteten Reise. Es handelte sich um Informationsreisen, deren Antriebe zumeist durch Berufsinteressen und ökonomische Motive gelenkt waren. Die Exponenten einer bürgerlichen Unternehmerschicht reisten so gezielt in Frankreich, England und Deutschland, um sich über die technischen Fortschritte und Innovationen der Industrialisierung zu informieren. Das Augenmerk galt den aktuellen Entwicklungen in Handel, Landwirtschaft, Industrie, Technik und Manufaktur, die wiederum im individuellen Direktkontakt erkundet wurden.
Die Früh-, Vor- oder Entstehungsphase des modernen Tourismus wird allgemein zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts angesetzt.19 In dieser Phase war touristisches Reisen zunächst einer Minderheit begüterter Adeliger und Bildungsbürger vorbehalten. Für sie war Reisen ein expressives Standeszeichen, welches Macht, Status, Geld und Muße repräsentierte. Zwei Merkmale zeichnen sich ab: Zum einen werden Erziehungs- und Bildungsmotive verstärkt von Vergnügungsinteresse überlagert, zum anderen versuchen begüterte Bürger, sich den adeligen und großbürgerlichen Reisehabitus anzueignen. So sah sich der Adel gezwungen, wollte er einer Durchmischung mit aufrückenden Bürgern entgehen, andere Destinationen und Mußestile zu exklusivieren.20 Davon zeugt, dass er neu auf Badereisen setzte und sich an mondän-luxuriösen Kurorten mit hier aufkommenden Spielcasinos niederließ. Im Mittelpunkt standen nun Gesellschaftsleben, Empfänge, Bälle, Pferderennen, Abenteuer und Spiele z.B. in Baden-Baden, Karlsbad, Vichy oder Cheltenham. Auch da wurde der Adel von Großkaufleuten und Fabrikbesitzern "unterschichtet" und kreierte in der Folge einen standeskonformen Urlaub im Seebad. Der britische Adel bevorzugte Brighton, genoss die Côte d'Azur oder hielt sich im Winter auf Malta, Madeira oder in Ägypten auf.
Zur Konstituierung des neuzeitlichen Tourismus
Mit dem Begriff "Einführungsphase" wird die Gesamtheit aller Entwicklungen, Strukturen und Innovationen des neuzeitlichen Tourismus zwischen dem ersten Drittel des 19. Jahrhundert bis etwa 1950 bezeichnet.21 Diese beginnt wiederum selbst mit einer sogenannten "Anfangsphase", die bis 1915 dauert.22 In dieser Zeit wird ein umfassender Prozess eingeleitet. Er ist gekennzeichnet durch einen prototypischen Aufschwung bürgerlicher Reisekultur und deren Formierung, Popularisierung und Diversifizierung. Er bereitet so massentouristische Urlaubsreisen gemäß moderner Freizeitprägung vor. Die Entwicklung vollzieht sich schubartig und gründet sich auf eine Reihe veränderter Gesellschaftsbedingungen und -faktoren. Zu den gewichtigen Entstehungsgründen dieses markanten Aufschwungs zählen unzweifelhaft fortschreitende Industrialisierung, Bevölkerungsentwicklung, Verstädterung und Verkehrsrevolution, aber ebenso die Verbesserung sozial- und arbeitsrechtlicher Verhältnisse, gesteigertes Realeinkommen und, davon ableitbar, veränderte Bedürfnisstrukturen.23
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erzielte die Erschließung des mitteleuropäischen Verkehrs- und Transportwesens gewaltige Fortschritte, die die Einstufung als "revolutionäre Entwicklung" tatsächlich verdienen. Sie strahlte auch auf die touristische Reisemobilität und -kultur aus und führte zu neuen Trends. Kürzeres Reisen und Tagesausflüge wurden populär und machten sich die modernen verkehrstechnischen Errungenschaften zunutze. Die Benutzung der Dampfschifffahrt begann 1812 in Schottland, während der dauernde Dampfschiffverkehr auf deutschen Gewässern seit 1820 folgte und die Schweiz 1823 ihr erstes Dampfboot auf dem Genfersee sah. Zu erhöhter Mobilität trug auch das Transportmittel Eisenbahn bei. Erste Strecken wurden in England seit 1825 eröffnet, in Frankreich seit 1828, in Deutschland seit 1835, in der Schweiz seit 1844/1847 und in Italien 1839, wenngleich die Erschließung und Popularisierung touristischer Wege und Ziele mit der Bahn etwas später einsetzte, jene durch Bergbahnen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Vitznau-Rigi-Bahn (Schweiz) machte als erste Bergbahn Europas 1871 den Auftakt. Die neuen Verkehrsmittel ermöglichten nicht nur den Ausbau vieler Transportkapazitäten, sondern senkten zunehmend auch die Transportkosten. Darüber hinaus veränderten sich durch das Reisen mit Bahn und Schiff die touristischen Blicke und Orientierungsweisen – es kommt zu einer eigenen Wahrnehmung im Sinne der Panoramatisierung (Hintergrund anstelle von Vordergrund) und zur Beschäftigung mit der Textsorte Reiselektüre.24
Zwar wurde die Eisenbahn nicht geschaffen, um den Tourismus zu fördern, doch machte sich dieser ihre Annehmlichkeiten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunutze. Sie gilt zu Recht als Geburtshelfer des frühmodernen Massentourismus.25 Es bleibt zu beachten, dass touristisches Reisen zunächst privilegierten Bürgerkreisen vorbehalten war.26 Diese Reisen funktionierten "als eine Form auch der bürgerlichen Selbsttherapie, der Herauslösung des bürgerlichen Selbst aus seinem Schattendasein in der alten aristokratischen Welt", um so die Moderne über eine Modellerfahrung zu erkunden.27 Bis Mittelstand und Arbeiter Urlaub machen konnten, sollten noch einige Jahrzehnte vergehen. Sie mussten sich vorerst mit Tagesausflügen per Bahn und Schiff begnügen, um kurzzeitig den Städten zu entfliehen. Trägergruppen des bürgerlichen Tourismus waren, summarisch gefasst, "die Fabrikanten- und die Kaufmannsfamilien, die beamteten Bildungsbürger in Staatsverwaltung, Schule und Universität, dazu die neuen 'freien Berufe' der Schriftsteller, Journalisten, Anwälte, Künstler, die diese ersten Schritte heraus aus der Ständegesellschaft tun können"28. Seit den 1860er Jahren deuten sich Vorboten einer Popularisierung an. Reisen wird zu einer Art Volksbewegung und Antwort auf das Erholungsbedürfnis breiter Schichten im Zuge fortschreitender Industrialisierung und Verstädterung.
Zugeschnitten auf bürgerliche Bedürfnisse nach Reisen und Urlaub, lassen sich einige Lenkungsinstrumente, Innovationen und Urlaubsformen fü29, die bereits im 18. Jahrhundert Vorläufer hatte und auf touristische ("präparierte") Ziele und Wahrnehmungen hinweist. Exemplarisch wirkten etwa Briefe über die Schweiz (1784–1785) des Göttinger Professors Christoph Meiners (1747–1810)30 oder Heinrich Heideggers (1738–1823) Handbuch für Reisende durch die Schweiz (1787)31. Den größten Erfolg bei Produktion und Absatz deutscher Reisebücher im 19. Jahrhundert verbuchte Karl Baedeker (1801–1859) [] . Seinen Reisebuchverlag gründete er 1827 und vertrieb danach seriell konzipierte Bücher mit zuverlässig recherchierten Präsentationen. Aufgrund standardisierter Aufmachungen vermittelten diese Bücher rasche und einfache Orientierungshilfe und prägten eigene Vermittlungsweisen.32 "Reisen à la Baedeker" beinhaltete aber mehr als Informationen und Empfehlungen, definierten doch die Herausgeber zugleich Reisestile und Sehenswürdigkeiten: "Doch aus der Sehens-Würdigkeit wurde bald eine Sehens-Notwendigkeit, die Besichtigung wurde zum Pflichtprogramm".33 Ähnliche Ziele verfolgte John Murrays (1808–1892) Verlagsbuchhandlung in London, die seit 1836 unter dem Beinamen "Red Book" erste Reiseführer über Holland, Belgien und das Rheinland erfolgreich auf den Markt brachte. Mit eigenem, stark normiertem Bildungsgut reihen sich Reiseführer in eine interessante Geschichte der Gebrauchsliteratur ein.34
Massentouristischer Aufbruch im 19. Jahrhundert
Neu geschaffen wurde ab den 1840er Jahren die organisierte Gruppen- oder Gesellschaftsreise, bei der zur Entlastung der Reisenden das Prinzip eines Pauschalarrangements zur Anwendung gelangte. Thomas Cook (1808–1892), ein genialer Unternehmer aus England, gilt als ihr Erfinder35 und Wegbereiter eines kommerzialisierten Massentourismus. Seine erste Pauschalreise führte 571 Personen 1841 mit dem Zug von Leicester nach Loughborough, Verpflegung und Blasmusik eingeschlossen. Seit 1855 bot Cook geführte Reisen ins Ausland an, 1863 z.B. in die Schweiz. Sie bedienten eine gemischte Klientel, von Staatspräsidenten und Fürsten bis hin zu Durchschnittsvertretern aus Mittelstand, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft. Letztere wollte er, von deutlichen sozialpolitischen Motiven beflügelt, mit billigen sonntäglichen Ausflügen vom Elend und Alkoholismus in den Städten ins Grüne locken. Mehr Erfolg, auch bei ausländischen Zielen, hatte Cook aber mit günstigen Pauschalreisen für den Mittelstand. Innovativ war die Einführung von Hotelcoupons (heute: vouchers) und touristischer Kundenzeitschriften.36
Cooks Vorreiterrolle im Kontext eines aufkommenden Massentourismus ist anerkannt, ablesbar an später eröffneten Reisebüros in Deutschland, allen voran mit den Namen Rominger (Stuttgart, 1842), Schenker & Co (München, 1889) und der Gebrüder Stangen (Breslau, 1863) verbunden. Carl Stangen (1833–1911) organisierte Reisen durch Europa, 1873 nach Palästina und Ägypten, bevor es 1878 erstmals um die ganze Welt ging. Inzwischen vermochte sich das Reisebüro als spezialisierte Institution zu etablieren. Sie kanalisierte die immer stärker aufkommenden Ansprüche auf Erholung und Abwechslung breiter Schichten: Reisen wurde seit den 1860er Jahren zu einer Art "Volksbewegung" und popularisierte sich. "Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit", so vermerkte der deutsche Schriftsteller Theodor Fontane (1819–1898) 1877, "gehört das Massenreisen. Sonst reisten bevorzugte Individuen, jetzt reist jeder und jede ... Alle Welt reist ... Der moderne Mensch, angestrengter, wie er wird, bedarf auch größerer Erholung".37
Die touristische Erschließung der Alpen zählt ebenfalls zu den wesentlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert. Ihr vorausgegangen war ein durch Aufklärung und Romantik verändertes Naturgefühl mit idyllischer Verklärung der Bergwelt. Sie bewirkte, dass sich im Sog von Albrecht von Haller (1708–1777), Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799) [] und Rousseau bald als touristisch zu bezeichnende Scharen von Gebildeten, Forschern, Adeligen, Künstlern, Malern, Literaten sowie aufsteigenden Bürgern zur Sehnsucht nach Natur und Alpen mobilisieren ließen. Der Angst vor dem Berg im Mittelalter folgte die Verehrung der alpinen Harmonie, mit spürbarer Touristisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts. In deren Dienst stellen sich vorerst zwei Trägergruppen, nämlich der Adel und das junge Bürgertum. Pionierhaft voraus gingen alpenbegeisterte Engländer, die in der Schweiz exklusiven Bergsport betrieben, Gipfel stürmten, durch ihre fortgesetzte Präsenz infrastrukturelle Impulse vermittelten (Ausbau von Hotellerie, Berghütten, Bergbahnen, anglikanische Kapellen etc.) sowie Spuren eines neuen Kulturtransfers hinterließen. Es steht die Deutung im Raum, wonach "die als Eroberungen ausgegebenen Bergbesteigungen nichts anderes als die Fortführung imperialer Politik mit anderen Mitteln darstellten, zunächst in den westlichen Teilen, dann ... in den östlichen Teilen der Alpen, danach zunehmend in Hochgebirgsregionen außerhalb Europa, vor allem in Asien".38
Der Stellenwert der kontinental gegründeten Alpenvereine als "Schrittmacher" ist erheblich. Den Auftakt machte bezeichnenderweise der in London eröffnete Alpine Club (1857), dem der Österreichische Alpenverein (1862), der Schweizerische Alpenclub (1863), der Club Alpino Italiano (1863) und der Deutsche Alpenverein (1869) folgten. Die meisten Vereine verschrieben sich breiteren Zielen als der britische Club, der ein aristokratischer Sportverband bleiben wollte. Die Wirkung der rasch beliebten (eher konservativ gesinnten) Alpenvereine war enorm. Es erschienen Vereinsnachrichten, Jahrbücher und Routenplaner, während sich die Mitgliederbestände massiv erhöhten und die Infrastrukturen (Hotels, Fremdenzimmer, Hütten, Bergführerangebote, Wege und Seilbahnen) ausgebaut wurden. Die Alpenvereine und ihre Sektionen belebten bald eine mittelständisch-bürgerliche Massenbewegung zum Alpinismus, dessen Schwergewicht zu Beginn auf die Schweiz gerichtet war.39 In der Tendenz öffnete sich die Bewegung sozial nach unten, um zuletzt um die Jahrhundertwende auch proletarische Touristenvereine in der Art der "Naturfreunde" (Wien, 1895) und danach die bündnische Vereinigung "Der Wandervogel" (Berlin, 1905) einzuschließen. Hier manifestierte sich nach der Verbürgerlichung eine Proletarisierung der allgemeinen Alpenbegeisterung. Das Kennzeichen dieses frühen Sozialtourismus liegt in neuen kollektiven Gesinnungsstilen, durchsetzt mit nicht-kommerziellen Elementen, die als Vorboten eines "sanften Tourismus" gedeutet wurden.40 Diese verbanden sich mit eigenen Formen der Geselligkeit, bewusster Umweltwahrnehmung und Rücksicht auf Bevölkerung, Landschaft- und Kulturgüterschutz.
Die Urlaubspraxis in der Zwischenkriegszeit
Die Tourismusentwicklung des 20. Jahrhunderts lässt diverse Periodisierungen erkennen, gängig und plausibel ist die Eingrenzung einer "Entwicklungsphase" zwischen 1915 und 1945.41 Sie hat mit der touristischen Stagnation durch den Ersten Weltkrieg zu tun, aber ebenso mit Übergangsentwicklungen, die systemisch bedeutungsvoll werden. Vorausgegangen war ein markanter Aufwärtstrend, stieg doch die Zahl der Fremdenübernachtungen in Deutschland zwischen 1871 und 1913 um ca. 471 Prozent an, gut siebenmal schneller als die damalige Wohnbevölkerung.42 Darunter war ein Gros bürgerlicher und bald auch mittelständischer Urlauber, die sich an die vielen neu eröffneten Seebäder an der Nord- und Ostsee sowie in die Heilbäder, Kurstationen und Spielbäder begaben. Die Badereise, gegenüber dem englischem Vorbild vergleichsweise spät aufgenommen und zunächst aus gesundheitlichen, später rekreativ-geselligen Beweggründen unternommen, wurde immer beliebter, wie die Entwicklung berühmter Orte, Seebäder und Strände zeigt. Der Verlust ihrer einstigen Exklusivität und die Motivverlagerung in Richtung Unterhaltung und Ablenkung markieren soziale Öffnungen,43 während beispielsweise die neue Ski- und Wintertouristik um die Jahrhundertwende noch einer mondänen Klientel zustand.
Motivlich dominierte bei Reisen und Urlaub nach 1900 die Regeneration, doch werden Anspruch und Erholungsgedanke nur auf geistige Arbeit bezogen – sie erreichten neben Adel, Bildungsbürgern und hohen Beamten nunmehr auch Unternehmer, Kaufleute, mittlere Beamte, Angestellte und Lehrer.44 Das hat ohne Zweifel mit der tariflich-gesetzlichen Ferienregelung zu tun. In den meisten europäischen Ländern bestand vor 1900 noch kein fester Urlaubsanspruch: Mehrtägiges und entlohntes Aussetzen der Arbeit wurde gesetzlich erst nach dem Ersten Weltkrieg verankert, von einigen Vorläufern abgesehen. In Deutschland machte das Reichsbeamtengesetz 1873 den Anfang. Es galt vorerst nur für Beamte, während Urlaub für übrige Arbeitnehmer bis zum Ersten Weltkrieg noch die Ausnahme blieb und erst danach möglich wurde, in Österreich mit dem Arbeiterurlaubsgesetz seit 1919. Ähnlich verlief die Entwicklung in der Schweiz: Ferien für Beamte der eidgenössischen Verwaltung wurden 1879 geregelt, gesetzlich aber erst 1913 verankert. Was die Gewährung von Ferien in der Industrie betrifft, so vollzog sich diese Entwicklung viel später. Von 100 Fabriken in der Schweiz gewährten z.B. im Jahr 1910 11,9 Prozent Beschäftigten bezahlte Ferien, 1944 waren es schon 87,9 Prozent.45 Der Ferienanspruch, so wie er heute im Normalarbeitsvertrag festgelegt ist, ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. In der Schweiz ist das Ferienrecht nicht einheitlich geregelt worden. Die Entwicklung verlief kantonal, wobei die seit den 1930er Jahren ausgestellten Gesamtarbeitsverträge wichtig werden; eine Woche bezahlte Arbeitsaussetzung war das übliche Maß. Erst nach 1945 weiteten die meisten Kantone ihre Feriengesetze dann auf die gesamte Arbeiterschaft aus. Deutschland erließ erst 1963 eine allgemeine Urlaubsgesetzgebung.
Eine innovative Öffnung zu einer weiteren Urlaubsform, die auch Familien mit Kindern einschließen sollte, brachte die "Sommerfrische". 1836 erstmals belegt, steht der Terminus ab den 1870er Jahren für eine mittelständische Ferienpraxis, während der Sommerzeit Erholung auf dem Land zu suchen, gleichsam als Pendant zur Badereise. Die Sommerfrische lässt sich "als eine über einige Wochen ausgedehnte Serie von Tagesausflügen verstehen, bei denen für diese Zeit die Wohnung in der Stadt mit einem einfachen Gasthof oder Privatzimmer in ländlicher Gegend vertauscht wird, oft nur wenige Bahnstunden vom Wohnsitz entfernt. Sie dient vor allem der Erholung der Familie, insbesondere der Kinder, nicht der Teilnahme an einem kostspieligen Vergnügungsbetrieb oder an gesellschaftlichen Veranstaltungen"46. Eine Sommerfrische mit der Familie konnten sich Kleinbürger und Arbeiter vorerst noch nicht leisten, während bürgerliche Milieus den sonntäglichen Ausflug bis 1914 zur Gewohnheit werden ließen, etappenweise auf das ganze Wochenende und schließlich auf einige Tage ausgedehnt.47
Nach den Krisenjahren des Ersten Weltkriegs passte sich die Sommerfrische als einfacher, gesunder und ökonomischer Erholungsaufenthalt an, an welchem seit den 1920er Jahren nunmehr auch untere Angestellte und Arbeiter teilnehmen konnten. Die Liebe zur Natur und die stadtkritische Hinwendung zur Einfachheit des ländlichen Lebens, bevorzugt in schönen Regionen des Mittelgebirges erlebt, scheinen auf eine eigene deutsche Spielart einer Sommerfrische zu verweisen, die sich von Aufenthalten in skandinavischen oder russischen Ferienhäusern und –hütten unterscheidet. Die Verhaltensweisen deutscher Sommerfrischler bestimmen ein Repertoire und werden zentral:
Anhänglichkeit an den einmal gewählten Erholungsort, Familienanschluss mit echter Sozialbeziehung zwischen dem Städter und den Landleuten, familienähnliche Beziehungen zwischen den Wirtsleuten und den Sommerfrischlern im Gasthaus; kaum vorhandenes Verdienststreben oder konkurrenzenges Denken der Gastgeber; zuvorkommend-dienendes Verhalten des Gastgebers gegenüber dem als überlegen angesehenen vornehmen Städter; im Tagesablauf viele Ausflüge; je nach finanzieller Möglichkeit war man bestrebt, ein Sommerhaus zu kaufen.48
Die Präsenz von Sommerfrischlern hinterließ erste Zeichen infrastruktureller Touristisierung, etwa mit der Markierung von Wanderwegen oder dem Ausbau von Pensionen, Schutzhütten, Waldgaststätten, Aussichtstürmen und Vergnügungsangeboten.
Neue Impulse, zunehmende Reiseintensität und massenbezogene Urlaubspraxis brachte der Nationalsozialismus in Deutschland ab 1933 bis 1939. Die Entwicklung überwand im Kern eine bislang vorherrschende bürgerliche Reisepraxis durch die Schaffung eines Sozial- oder Volkstourismus in Form eines staatlich organisierten Urlaubs- und Freizeitstils. Dass dieser Tourismus im Dienst des politischen Systems und der nationalsozialistischen Ideologie stand, braucht kaum betont zu werden. Etappierungen und abgestufte Nutzungsmuster eines neuen Tourismus fallen auf – geradezu ein Schulbeispiel für dessen politische Verfügbarkeit zuhanden eines Machtregimes mit allem, was dazu gehört. Es kommt zum Massentourismus im Dritten Reich.49 Tourismusgeschichtlich prägt sich der gelenkte Urlaub mit Demokratisierungsanspruch für eine breite Arbeiterschaft, das "Volk", ein. Hitler wollte, "dass dem Arbeiter ein ausreichender Urlaub gewährt wird und dass alles geschieht, um ihm diesen Urlaub sowie seine übrige Freizeit zu einer wahren Erholung werden zu lassen. 'Ich wünsche das, weil ich ein nervenstarkes Volk will, denn nur allein mit einem Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft große Politik machen'".50
Umgesetzt wurde dieses Vorhaben mittels der 1933 geschaffenen Freizeitorganisation "Nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude" (KdF) und einem Amt "Reisen, Wandern, Urlaub" (RWU), beide der Partei unterstellt. Um allfälligen Widerstand bei der gesellschaftlichen Umgestaltung zu vermeiden, sprach man den Arbeitern vorerst drei bis sechs Tage Urlaub im Jahr zu. Seit 1937 hatte die Mehrheit der Lohnempfänger Anspruch auf eine sechs- bis zwölftägige Jahresfreizeit51 und konnte von neuen (sehr günstigen) Urlaubsangeboten und Reisen profitieren: Wanderungen, Zugreisen und Kreuzfahrten mit Unterkunft und Verpflegung sicherten eine große Popularitätswelle. Sie schlägt sich in statistischen Rekordentwicklungen, in einem nie gekannten Reiseboom nieder – von 2,3 Millionen Reisen 1934 stiegen die Zahlen auf fünf Millionen 1935, 9,6 Millionen 1937 bis 10,3 Millionen im Jahr 1938.52 In den sechs Jahren vor Kriegsausbruch wurden über die KdF 43 Millionen Reisen, Kurzfahrten und Wanderungen konkurrenzlos billig verkauft, etwa sieben Tage Norwegen für 60 Reichsmark oder 18 Tage Madeira für 120 Reichsmark.53
Die massenmäßig über eine staatsideologisch konsequent genutzte "Volksgemeinschaft" reisenden KdF-Touristen blieben unter sich und stießen bei bürgerlichen Reisenden an vornehmen Orten und auf Kreuzfahrten oft auf Missfallen. Alles in allem lässt sich verallgemeinern, dass die KdF-Bewegung zur Entwicklung massentouristisch-seriellen Reisens und damit zu einer gewissen Demokratisierung derselben einiges beigetragen hat, wenngleich dieser Prozess auf Kosten der breiten Masse bzw. zugunsten des NS-Regimes erfolgte. Der Erfolg der KdF-Reisen beruhte auf dem Zusammenspiel von drei Faktoren: Urlaub und Geld waren nicht mehr unabdingbare Voraussetzungen für Ferienteilnahmen; die Reisen ließen sich mit Niedrigstpreisen umsetzen, und die Organisation verfügte über ein engmaschiges effizientes Vertriebsnetz, das auf den Arbeiter zuging und nicht umgekehrt.54 Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass auch das private deutsche Tourismusgewerbe zeitgleich einen ungemeinen Aufschwung verzeichnete, sei es mit dem Ausbau von Jugendherbergen und Zeltplätzen, sei es mit mittelständischen Urlaubern, die "allmählich zu gehobeneren Formen des Tourismus zurückkehrten"55. Mit dem staatlichen KdF-Tourismus, so ein Fazit, "waren die Deutschen zwar noch nicht zu einem 'Volk auf Reisen' geworden, aber die NS-Diktatur hatte den Weg eingeschlagen, der – verzögert durch Zusammenbruch und Wiederaufbau – schließlich doch dahin führen sollte".56
Tourismusexpansion und Globalisierung
Eine letzte Phase umfasst die Entwicklungen im Tourismus seit der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart und erscheint je nach Gesichtswinkel als "Hochphase"57 oder als "Durchsetzungs- und Konsolidierungsphase"58. Die Gesamtheit aller Ausbau- bzw. Neuerungsprozesse, Touristikbewegungen und freizeitgesellschaftlichen Urlaubsstile verdient diese Etikettierungen zu Recht, konstituierte sich doch der Tourismus in den vergangenen Jahrzehnten zum global relevanten Wirtschaftszweig und Signet moderner Industrienationen par excellence. Der Tourismus verrät Grenzenlosigkeit: räumlich, zeitlich, sozial und kulturell. Das ist sein Generalnenner.59 Konsens besteht darüber, dass der gewaltige Aufschwung seit der Nachkriegszeit an das Wirtschaftswachstum, an den technischen Fortschritt, an einen hohen Konkurrenzwettbewerb und an die Schaffung immer neuer Reiseziele und -formen gebunden bleibt.60 Die zunehmende Freizeitmobilität als Ausweitung auf breite Gesellschaftsschichten ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Sie stützt sich auf diverse Boomfaktoren, darunter die Wohlstandssteigerung mit wachsenden Einkommen), die Verstädterung, der explosionsartige Ausbau des Transport- und Kommunikationsnetzes und die Freizeitzunahme durch die Verkürzung von Arbeitszeit, die alle regulierend auf die Vergesellschaftung einwirken.61
Allerdings verlief der besagte Tourismusaufschwung nach dem Krieg erst langsam und blieb in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorerst auf Binnenziele gerichtet. Erst ab 1953 erreichte die bundesdeutsche Beherbergungskapazität wieder das Vorkriegsniveau, bevor die Reiseintensität ab den 1960er Jahren massiv zunahm: von 28 Prozent (1962) auf 58 Prozent (1980), über 65 Prozent (1987) bis zu 70,8 Prozent (1992) in Westdeutschland, das damit im europäischen Vergleich im Mittelfeld blieb.62 Dabei kommen zum einen Ferienorganisationen und Reisebüros neben gewerkschaftlichen Verbänden ins Spiel, zum anderen die allmählich immer wichtiger werdenden Reisekonzerne. Der auf Familien und Jugendliche ausgerichtete Sozialtourismus gehörte zu einem in verschiedenen Ländern beobachtbaren Trend, auch finanziell schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen Urlaub zu ermöglichen. Urlaubsbezogene Sozialmaßnahmen, Reise- und Sparkassen, Subventionen, Ferienhilfswerke sowie die Schaffung ganzer Feriensiedlungen und -dörfer für Arbeiter und Angestellte kennen wir für Frankreich63, Österreich, Deutschland64 und vor allem auch für die Schweiz65.
Seit den 1960er Jahren setzt die "Hochphase" des europäischen Tourismus ein: Kommerzielle Reiseanbieter, Großveranstalter und schließlich Reisekonzerne verwandeln, konjunkturgestützt und innovativ-strategischer Marktökonomie folgend, das Konkurrenzfeld durch immer günstiger werdende Urlaubsangebote in Richtung Massentourismus, mit neuen Stilen und Destinationen. Hier produziert der Tourismus eigene Ordnungen mit Sekundärsystemen.66 Es kommt zur Eröffnung vieler Reiseagenturen und Touristikorganisationen und auch zum Kaufhaustourismus, wie die Beispiele Neckermann für Deutschland seit 1963 und Jelmoli für die Schweiz seit 1972 zeigen. Für kräftige Schubwirkung sorgte die fortgesetzte Verlagerung von Bus- und Bahnreisen auf den Transport mit dem eigenen Auto und Wohnwagen und schließlich auf den internationalen Flugverkehr. Die Chartertouristik besetzte florierende Marktsegmente und etablierte sich mit Billigangeboten für Auslandreisen. Der Auslandtourismus führte zuerst in Nachbarländer, später folgten entferntere Reiseziele – für Deutschland betraf dies Österreich und die Schweiz, sodann Italien und Spanien und dies mit zunehmender Tendenz: "Ab etwa 1970 überwiegen die Auslandsreisen ganz deutlich; dieser Trend zum Auslandsurlaub hat sich in den letzten Jahren noch weiter verstärkt".67 Allgemein hat sich die hier interessierende Reiseintensität in einem Zeitraum von rund 40 Jahren bis 1991 um mehr als das Dreifache erhöht und stieg von neun Millionen auf rund 32 Millionen Reisende.
Allerdings bleibt die damalige Aufbruchintensität innerhalb der europäischen Länder zu differenzieren. Dies muss mit Blick auf Frequenzen, Reiseformen, Trends und Urlaubsziele geschehen, wie aus unzähligen Statistiken und Marktforschungen hervorgeht, deren Resultate auf soziale und kulturelle Reisetraditionen schließen lassen. Mitte der 1970er Jahre verreisten in Skandinavien z.B. 70 bis 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung jährlich, während der Prozentsatz in Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz bei 60 Prozent und in Italien bei etwa 25 Prozent lag.68 In dieser Phase dominierte der Auslandstourismus und machte viele Orte und Strände in Mittelmeerländern sowie Regionen in neu erschlossenen Alpenländern zu Urlaubsmagneten, später gar zu Hochburgen des Tourismus. Auf der Anbieterseite wurde die Infrastruktur kräftig ausgebaut: Einstige Alpendörfer (St. Moritz, Zermatt, Lech) wurden nun vollends zu Touristenorten und Skistationen, Landschaften (Provence, Côte d'Azur, Tirol), Städte (Venedig, Salzburg), Küstengebiete (Adria, Kenia) und Inseln (Mallorca, Rhodos, Malediven, Sylt) mutierten immer mehr zu Urlaubszonen, Ferienressorts und Clubanlagen.
Die quantitative Steigerung der Urlauberströme verrät aber auch eine soziale und eine strukturell-inhaltliche Expansion, die seit den 1990er Jahren vermehrt zum Tragen kommt. Urlaub und Reisen öffnen sich für weitere Bevölkerungsschichten; es profitieren nicht mehr nur die "traditionellen" Urlauber, also Beamte, Angestellte, Akademiker und Teile der Arbeiterschaft. Am System Tourismus nehmen nun auch Landbewohner bzw. alters- und geschlechtsspezifische Gesellschaftsgruppen (Frauen, Singles, Senioren) teil,69 was an besonderen, auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten ablesbar ist. Damit ist ein zentrales Merkzeichen des modernen Tourismus aufgenommen, nämlich Diversifizierung und Spezialisierung im Zuge der Globalisierung. Dies passt durchaus zum grenzenlos scheinenden Tourismuspotential, auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten strukturell wenig Entwicklung stattgefunden hat und das touristische Verhaltensrepertoire seit dem Zweiten Weltkrieg als einigermaßen komplett eingestuft wird, mit unterschiedlichen Gewichtungen.70
Dieser Auffassung steht zum einen die Institution "Cluburlaub" entgegen, in der Art wie ihn der "Club Méditerannée" (1955), der "Club Soleil" (1966), der "Robinson Club" (1970), der "Club-Aldiana" (1973) und andere Clubs mit ihren Ferienformeln und Urlaubsphilosophien sehr erfolgreich praktizieren. Zum anderen erfahren künstliche Urlaubswelten in Form von Vergnügungs- und Erlebnisparks immer mehr an Bedeutung:71 Disneyland, Europapark, Port Aventura, Sun City u.a.m. verzeichnen jährliche Besucherströme in zweistelliger Millionenhöhe und befinden sich noch stets im Aufwärtstrend. Hier interessieren postmodern aufbereitete Pseudo-Ereignisse, Simulationswelten und Hyperrealitäten, deren Künstlichkeit von den Touristen durchschaut und über Abenteuer, Spaß, Spiel und Wettbewerb als fun, action und event internalisiert wird. Erlebniswelten kommen und gehen.72 Tourismusgeschichtlich kommt es zu einer bemerkenswerten, weil systemischen Verlagerung: Der traditionelle touristische Symbolkonsum (Sehenswürdigkeiten, Gegenwelten) wird erweitert oder zugunsten einer erlebnisgeladenen Unterhaltungskultur als ein Stück neuer "Welterfahrung" abgebaut. Diese trägt globale Züge und entgrenzt sich durch Mutation auf dem Weg zur Mundialisierung mit eigenen, allmählich austauschbaren Formen und Erlebnisbereichen73 immer mehr. Was dieses Innovationspotential als nächstes Strukturelement entwickelt, bleibt abzuwarten.