Zur Abgrenzung
Die von der Rechtsvergleichung entwickelte Theorie der Rechtskreise1 stellt dem Angloamerikanischen Rechtskreis das kontinentaleuropäische Recht gegenüber, bei dem es sich typischerweise um kodifiziertes Recht handelt. Der kontinentaleuropäische Rechtskreis untergliedert sich seinerseits in den von der napoleonischen Gesetzgebung beherrschten Romanischen Rechtskreis, den Nordischen bzw. Skandinavischen sowie den Deutschen Rechtskreis. Obgleich hierbei das Kriterium des Gesetzes als wichtigste Rechtsquelle grundsätzlich alle Rechtszweige betrifft, gilt doch das Privatrecht als besonders signifikant. Die deutschsprachige Rechtsgruppe wird von den Privatrechtskodifikationen Österreichs (ABGB), Deutschlands (BGB) und der Schweiz (ZGB) dominiert, zwischen denen zahlreiche Wechselwirkungen bestanden und bestehen. Ihr Wirkungsbereich wird durch den Einfluss erweitert, den diese drei Gesetzbücher auf die Rechtssysteme anderer Länder hatten, welchen sie als Rezeptionsgrundlage oder als Vorbild für eigenständige Kodifikationsarbeiten dienten und nach wie vor dienen. Neben dem Privatrecht erfasste die Kodifikationsbewegung auch die anderen Teile der Justizrechtsordnung, nämlich Straf- und Strafprozessrecht sowie Zivilprozessrecht und als Sonderprivatrecht das Handelsrecht. Das Verfassungsrecht hingegen gibt nur punktuell ein Abgrenzungskriterium ab, da hier zahlreiche Bezüge über die Rechtskreise hinaus existieren, wie etwa die Grundrechte.
Die Wurzeln des deutschen Rechts
Die nationalen europäischen Rechtsordnungen sind das Ergebnis der sogenannten "Rezeption" des römisch-kanonischen Rechts, dessen Hauptquellen das Corpus iuris civilis sowie das Corpus iuris canonici bildeten.2 Ab dem 13. Jahrhundert fanden die vor allem an den oberitalienischen Universitäten gelehrten "weltlichen und geistlichen Rechte", also die Legistik und die Kanonistik, über den Rechtsunterricht auch in Deutschland Verbreitung. Die politische Verbundenheit Deutschlands und Italiens im Heiligen Römischen Reich bewirkte, dass das römische Recht als Kaiserrecht betrachtet wurde, was dessen Akzeptanz verstärkte. Die Rezeption betraf vor allem das Strafrecht, das Zivilprozessrecht und insbesondere das Privatrecht. Für dieses erlangte das kanonische Recht vor allem im Eherecht Bedeutung, das römische Recht trat in der von den Legisten weiterentwickelten Form des "Gemeinen Rechts" oder Ius commune neben und in Wechselwirkung zu dem einheimischen Gewohnheitsrecht, das zum Teil in Rechtsbüchern aufgezeichnet worden war, wie z.B. im Sachsenspiegel oder im Schwabenspiegel. Die Rezeption führte somit nicht zu einer gänzlichen Verdrängung des nationalen Rechts, sondern bewirkte vielmehr dessen Ergänzung, auch Präzisierung und Konkretisierung, indem die Gerichte die Rechtssätze des Ius commune jeweils dort heranzogen, wo das heimische Recht Lücken aufwies.
Im 16. Jahrhundert erreichte die Rezeption des gelehrten Rechts im Römisch-Deutschen Reich ihren Höhepunkt, begünstigt vom Aufbau der Länder als institutionelle Flächenstaaten und den damit verbundenen Rechtsreformen. Im gesamteuropäischen Kontext wird die Rezeption heute als Verwissenschaftlichung der Rechtskultur verstanden, die aus dem Einfluss des Gemeinen Rechts auf Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtspraxis resultierte. In den deutschen Territorialstaaten war dafür die vermehrte Beschäftigung gelehrter Juristen maßgeblich. Sie waren an den Universitäten im Gemeinen Recht ausgebildet worden und betrachteten dieses daher als das Recht schlechthin, während sie vom heimischen Recht höchstens rudimentäre Kenntnisse besaßen. Als politisch-juristische Berater an den Fürstenhöfen sorgten sie ebenso wie durch ihre Tätigkeit an Gerichten, in Verwaltungsbehörden und Universitäten für die Verbreitung des Gemeinen Rechts, das sich in der Folge mit dem nationalen Recht in unterschiedlicher Intensität vermischte.3
Zu den auf diese Weise entstandenen gemeinrechtlich-nationalen Rechtssystemen zählte das Römisch-Deutsche Recht (Ius Romano-Germanicum). Das Nebeneinander und die Verknüpfung von Gemeinem Recht mit unterschiedlichen Partikularrechten hatte allerdings einen nahezu unüberblickbaren Rechtsstoff zur Folge. Um das Recht wieder beherrschbar zu machen, entwickelte die deutsche Rechtswissenschaft einen relativ eigenständigen neuen Wissenschaftsstil, den sogenannten Usus modernus, der seinen Namen dem von Samuel Stryk (1640–1710)4 verfassten Lehrbuch Usus modernus Pandectarum (1690) verdankt.5 Das Ziel dieser neuen praxisbezogenen Denkrichtung war die Schaffung eines für den Gerichtsgebrauch praktikablen Rechts, gebildet aus dem wissenschaftlich bearbeiteten heimischen Recht in enger Verbindung mit dem Gemeinen Recht. Der Usus modernus erreichte seine Blüte im 18. Jahrhundert und fand sein Ende dort, wo es naturrechtliche Kodifikationen gab. Wo diese fehlten, wurde er erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts von den weiter unten behandelten Strömungen der Germanistik und der Pandektistik verdrängt.
Neben der gemeinrechtlichen Wissenschaft setzte sich seit der frühen Neuzeit europaweit die Lehre des säkularisierten Naturrechts6 durch, basierend auf der Idee eines aus der menschlichen Natur ableitbaren, natürlichen und vernünftigen Rechts, das aus wahren und daher ewig gültigen Rechtsprinzipien oder Rechtssätzen besteht. Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts rückte den Menschen als vernunftbegabtes Individuum in den Mittelpunkt. Recht und Gerechtigkeit fanden ihre Grundlage folglich im sogenannten Vernunftrecht, das von der Ablehnung überkommener Machtansprüche und ebensolcher Bindungen gekennzeichnet war. Es räumte stattdessen den "angeborenen Rechten" wie der Rechtssubjektivität des Menschen sowie der Vertrags- und Eigentumsfreiheit den Vorrang ein.7 In der Privatrechtswissenschaft wirkte das Vernunftrecht vor allem ordnend, katalogisierend und systematisierend, indem es das Gemeine Recht vereinfachte sowie dem heimischen Recht als tatsächlich gelebtem und daher natürlichem Recht den Vorzug gab. Mit der von den Naturrechtlern erdachten Systematik und Begrifflichkeit gelang es, die ungeheure Masse des Ius Romano-Germanicum zu reduzieren und ein vernunftrechtliches Gesamtsystem zu konzipieren,8 das der Kodifikationsidee den Weg bereitete und zugleich die Erneuerung der kontinentaleuropäischen Rechtswissenschaft einleitete.
Die erste Kodifikationswelle: die naturrechtlichen Kodifikationen
Als Produkt der rationalistischen Naturrechtsphilosophie unterschied sich das Kodifikationskonzept9 von der bisher gebräuchlichen Aufzeichnung des Rechts vor allem durch die Idee eines vollständigen Systems einfacher und rationaler Rechtssätze, die auf alle bestehenden Rechtsprobleme Anwendung finden sollten. Dabei war der Gedanke maßgebend, infolge der logischen Fundierung ewig gültige "Rechtswahrheiten" festschreiben zu können. Dies führte zur Idee der Kodifikation. Ihr Anspruch, ein Rechtsgebiet mit Hilfe von systematisch angeordneten Rechtssätzen umfassend zu regeln, intendierte deren Ausschlusswirkung. Damit sollte der bisher bestehende Rechtspluralismus beendet und Rechtsklarheit und -sicherheit geschaffen werden. Als kodifizierbar erschienen insbesondere das Straf- und Strafprozessrecht sowie das Zivil- und Zivilprozessrecht. Da das Privatrecht alle Personen betrifft, standen die Privatrechtskodifikationen stets im Mittelpunkt des Interesses und dienen so der Charakteristik der jeweiligen Epoche. Mit der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung erfasste die Kodifikationsidee auch das Verfassungsrecht. Dieses sollte als Grundordnung des Staates gleichfalls vollständig in einer Kodifikation erfasst werden, insbesondere mit Ausschlusswirkung gegenüber monarchischen Privilegien sowie einem Grundrechtskatalog zum Schutz der Staatsbürger.
Der aufgeklärt-absolute Staat des 18. Jahrhunderts bot der Kodifikationsidee die entscheidenden politischen Voraussetzungen, indem der dem Gemeinwohl verpflichtete Monarch den Anspruch erhob, mittels einer monopolistischen Rechtsgestaltung die Rechte und Pflichten der Untertanen durch Gesetze zu bestimmen. Einen besonderen Bedarf an solchen allgemein-verbindlichen Gesetzen hatten vor allem die aus mehreren Ländern mit unterschiedlichen Rechten bestehenden Staaten wie Preußen und die Habsburgermonarchie.10
Eine Vorläuferfunktion kam dem von Wiguläus Xaver Alois von Kreittmayr (1705–1790)11 ausgearbeiteten Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 zu, bei dem es sich um einen von mehreren Teilen eines gesamtbayerischen Gesetzgebungswerks handelte.12 Das bayerische Zivilgesetzbuch, dem es nicht um eine aufklärerische Rechtsreform, sondern um die Vereinheitlichung des territorialen Rechts ging, schloss die Fortgeltung lokaler Rechte und die subsidiäre Geltung des Gemeinen Rechts allerdings nicht aus. Wenn der Zivilrechtskodex daher auch den Anforderungen der Aufklärung an eine naturrechtliche Kodifikation nicht entsprach, so war er doch, einschließlich einer Vielzahl von späteren Ergänzungen, als bayerische Variante des Usus modernus in weiten Teilen Bayerns bis zum Inkrafttreten des BGB (1900) in Kraft.13
Das preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794
In Preußen setzten die Bemühungen um eine gesamtstaatliche Rechtskodifikation um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Der 1788 vorgelegte Entwurf für ein allgemeines Gesetzbuch trat 1794 mit Modifikationen als "Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten" (ALR) in Kraft.14 Das der ständischen Gesellschaftsordnung eng verhaftete ALR regelte neben dem Privatrecht auch das Strafrecht und wichtige Bereiche des öffentlichen Rechts. Den Gesamtumfang von nahezu 20.000 Paragraphen vermag dies ebenso zu erklären wie dessen Anspruch, möglichst alle Rechtsfragen verbindlich zu entscheiden, um richterliche Willkür auszuschalten. Das ALR orientierte sich am Ius Romano-Germanicum, berücksichtigte aber auch das lokale Recht. Die detaillierten und auf konkrete Lebenssachverhalte Bezug nehmenden Normen bewirkten eine starke Kasuistik. Dies sowie seine anschauliche und volkstümliche Sprache verschafften dem ALR in der Bevölkerung eine bemerkenswerte Popularität.
In der Wissenschaft hingegen stieß das für einen aufgeklärt-absoluten Staat verfasste und daher schon bei seinem Inkrafttreten veraltete Gesetzbuch auf Ablehnung, was dessen Lehre und Bearbeitung an den Universitäten verzögerte und seine Ausstrahlungswirkung hemmte. In den linksrheinischen Gebieten beendete der Code Civil die Geltung des ALR schon um 1810, insgesamt wurde es aber erst mit der Einführung des BGB außer Kraft gesetzt.
Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) von 1811
Als das ALR 1794 in Preußen in Kraft trat, waren in der Habsburgermonarchie bereits konkrete Schritte unternommen worden, um durch die Ausarbeitung von Kodifikationen dem Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung und -erneuerung gerecht zu werden. Anders als in Preußen sollten jedoch, so wie in Bayern, einzelne Teile der Rechtsordnung in mehreren Gesetzbüchern erfasst werden.15 Während schon 1768 die "Allgemeine peinliche Gerichtsordnung" als Kodifikation des Straf- und Strafprozessrechts in Kraft trat, hatte im Zivilrecht der Codex Theresianus von 1766 den Erwartungen nur sehr eingeschränkt entsprochen und blieb daher Entwurf. Das ursprünglich als dessen vierter Teil geplante Zivilprozessrecht wurde ausgegliedert und 1781 als "Allgemeine Gerichtsordnung" in Geltung gesetzt. Von den drei verbleibenden materiellrechtlichen Teilen trat nach Umarbeitungen 1787 der erste Teil eines "Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs" in Kraft.16 Zusammen mit dem Erbfolgepatent von 1786 verhalf dieses sogenannte "Teil-ABGB" den Deutschen Erbländern und Galizien – nicht also den ungarischen Ländern – zu einem einheitlichen Personen-, Familien-, Ehegüter- und (gesetzlichen) Erbrecht. Erweitert um die noch ausständigen Materien trat 1798 mit dem von Karl Anton von Martini (1726–1800)17 stark beeinflussten "Bürgerlichen Gesetzbuch für Galizien" die erste vollständige europäische Privatrechtskodifikation18 in Kraft, vorläufig allerdings nur in einem Teil des Gesamtstaats.19 Es bildete als "Urentwurf" die Grundlage für die weiteren Kodifikationsarbeiten, als deren Ergebnis am 1. Juni 1811 das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) kundgemacht wurde, mit dem in den habsburgischen Ländern – mit Ausnahme Ungarns – ab dem 1. Januar 1812 ein formell einheitliches Privatrecht in Geltung stand. In der multinationalen Habsburgermonarchie war dies nur durch die Unabhängigkeit von unterschiedlichen Landesrechten und nationalen Besonderheiten möglich, die daher – entgegen älteren Legenden – so gut wie keinen Eingang in das Gesetzbuch fanden. Um allen Staatsangehörigen die Kenntnis des Gesetzestextes zu ermöglichen, war eine Vielzahl von amtlichen Übersetzungen erforderlich, z.B. ins Polnische, Tschechische und Italienische. Infolge der Rechtsvereinheitlichung im gesamten Kaisertum Österreich ab 1849 und der Ausdehnung des Geltungsbereichs des ABGB 1852/1853 auf Ungarn und dessen Nebenländer20 folgten u.a. Übersetzungen ins Ungarische, Serbische und Kroatische.21
Im Vergleich zu den anderen naturrechtlichen Kodifikationen – dem konservativ-altständischen ALR von 1794 und dem liberalen Code Civil von 1804 – nahm das ABGB eine Art Zwischenstellung ein. Obgleich sich die ständische Gesellschafts- und Staatsordnung seiner Entstehungszeit in einigen Rechtsinstituten manifestiert hatte (z.B. im adeligen Familienfideikommiss22),23 stellten die Neutralität und Elastizität seiner Regelungen das Potential zur Anpassung und Fortbildung sicher. Im Gegensatz zum ALR bestach es durch seine prägnante, jedwede Kasuistik vermeidende Ausdrucksweise, bediente sich jedoch wie dieses einer allgemeinverständlichen Sprache. Ein Übriges zum leichteren VerstäFranz von Zeiller (1751–1828)24 verdankte. Die Wissenschaft nahm sich des neuen bürgerlichen Rechts umgehend mit Hilfe der exegetischen Methode an, die in den Anwendungsregeln der §§ 6 und 7 ABGB gesetzlich verankert worden war. Sie stellte der Rechtspraxis Kommentare und vertiefende Literatur zur Verfügung, die auch ausländisches Recht, wie etwa das ALR,25 zur Erläuterung heranzogen.
Den unmittelbarsten Einfluss hatte das ABGB auf das damals dem Rheinbund zugehörige Fürstentum Liechtenstein, wo es im Februar 1812 in Kraft trat (bis 1846 allerdings mit Ausnahme des Erbrechts).26 Trotz der Hinwendung Liechtensteins zur Schweiz im Gefolge des Ersten Weltkriegs und der davon beeinflussten teilweisen Ausarbeitung eines "Liechtensteinischen Zivilgesetzbuchs" nach dem Vorbild des schweizerischen Rechts – verwirklicht wurden nur dessen erster Teil, das Sachenrecht von 1923, sowie dessen dritter Teil, das Personen- und Gesellschaftsrecht von 1926 –, steht das ABGB in Liechtenstein bis heute in wesentlichen Teilen in Geltung. Die Besinnung auf die Rechtstradition und die Rechtskontinuität im Zuge der 1970 begonnenen Justizrechtsreform bewirkte, dass zum Teil im Schuldrecht, vor allem aber im Ehe-, Familien- und Erbrecht nach wie vor eine enge Verbundenheit zwischen den beiden Rechtsordnungen besteht, der zufolge die österreichische Rechtsentwicklung in Liechtenstein genau beobachtet und großteils nachvollzogen wird. Darüber hinaus trägt die enge Zusammenarbeit im Justizbereich, wie sie seit 1818 in verschiedenster Weise erfolgt, dazu bei, die traditionelle Nähe des liechtensteinischen zum österreichischen Privatrecht zu bewahren.27
Im Laufe des 19. Jahrhunderts diente das ABGB den Kodifikationsarbeiten einer Reihe von monarchischen Einzelstaaten des Deutschen Bundes, wie z.B. Bayern und Sachsen, aber auch einigen republikanischen Schweizer Kantonen, wie z.B. Bern und Luzern, als Vorlage. In einer durch die "Teilnovellen" von 1914, 1915 und 1916 erheblich revidierten Fassung28 galt es nach 1918 in einigen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie fort, wie z.B. in Polen, in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien.
Die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert
Um etwa 1815 wandte sich die deutsche Rechtswissenschaft unter dem Eindruck der zeitgenössischen Strömungen des Historismus und der Romantik zunehmend vom logisch-konstruktiven Vernunftrecht der Aufklärung ab. Im Zusammenhang mit der Forderung nach Rechtsvereinheitlichung durch die Schaffung eines allgemeinen Privatrechtsgesetzbuchs für den Deutschen Bund geriet die Kodifikationsidee in die Kritik. Ausgetragen wurde der sogenannten "Kodifikationsstreit" zwischen Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840)29 in der Rolle des "Fürsprechers" und Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)30 in der Rolle des "Gegners" auf literarisch-wissenschaftlichem Weg.31 Savigny war aber nicht gegen eine Vereinheitlichung des Privatrechts schlechthin, sondern zweifelte vielmehr an der Methode. Er setzte daher dem seiner Ansicht nach unhistorischen Zweckmäßigkeitsstreben der Kodifikationsbewegung die Besinnung auf die geschichtlichen Grundlagen des geltenden Rechts entgegen, die er vor allem im antiken römischen Recht sowie im Gemeinen Recht erblickte. Das Recht, so die Ansicht Savignys, entstehe und entwickle sich im gemeinsamen Rechtsbewusstsein des Volkes, der Gesetzgeber könne dieses vom "Volksgeist" erzeugte lebendige Recht lediglich ergänzen oder in bestimmte Formen gießen. Da eine Kodifikation des Rechts durch den Gesetzgeber das organische Weiterwachsen der Rechtsordnung verhindere, lehnte er die naturrechtlichen Kodifikationen ab. Gemeinsam mit Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854)32 wurde Savigny zum Begründer eines neuen Wissenschaftsstils, der Historischen Schule der Rechtswissenschaft,33 die sich in zwei Richtungen aufspaltete: die Pandektistik und die Germanistik.
Die Pandektistik, deren Name sich von dem zentralen Teil des Corpus iuris civilis, den Pandekten bzw. Digesten, ableitet, knüpfte als der romanistische Zweig an das klassische römische Recht an, weil sie als Repräsentanten des Volksgeistes die am römischen Recht ausgebildeten Juristen ansah. Auf seiner Grundlage suchte sie durch die historisch-systematische Methode ein dogmatisch widerspruchsfreies, positives Rechtssystem zu formen. Weitergebildet wurde die Pandektenwissenschaft durch Savignys Schüler, Georg Friedrich Puchta (1798–1846),34 der die Bedeutung der formal-begrifflichen Methode erkannte, um das so gewonnene Recht anwendbar zu machen. Die Entwicklung eines Systems von genealogisch und hierarchisch verbundenen Rechtsbegriffen, aus welchen logisch-deduktiv oder durch Analogieschlüsse neue Rechtsregeln und Grundsätze sowie, in einem weiteren Abstrahierungsschritt, allgemeine Lehren gewonnen wurden, machte ihn zum Begründer der klassischen Begriffsjurisprudenz, die die Zivilrechtsdogmatik in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nachhaltig bestimmte.
Der zweite Zweig der Historischen Rechtsschule, die Germanistik, knüpfte an das heimische Recht als tatsächlich gelebtes Volksrecht an und lehnte das römische Recht als künstliches Juristenrecht ab. Den Germanisten ging es darum, die Fülle des deutschen Partikularrechts wissenschaftlich zu erfassen und gleichfalls historisch-systematisch weiterzubilden. Unter Zugrundelegung der ältesten deutschen Rechtsquellen, die allerdings erst aufbereitet und ediert werden mussten, wurden in den Partikularrechten grundlegende Rechtsideen und -institutionen zu ermitteln versucht, um daraus ein allgemeines deutsches Privatrechtssystem zu formen. Im Gegensatz zur Pandektenwissenschaft standen die Germanisten einer Rechtskodifikation und damit auch einem gesamtdeutschen Zivilgesetzbuch positiv gegenüber.
Beide Richtungen der Historischen Rechtsschule erfassten allmählich nicht nur alle Staaten im Deutschen Bund, sondern gingen über diesen weit hinaus. Sie verfestigten durch eine nahezu einheitliche Wissenschaftsrichtung den Deutschen Rechtskreis unter Einschluss der Schweiz. Als organisatorische Faktoren trugen dazu der 1860 gegründete "Deutsche Juristentag" als wissenschaftliche Plattform der deutschsprachigen Juristen ebenso bei wie die Berufungspolitik der Rechtsfakultäten, die auf Staatsgrenzen keine Rücksicht nahm. Schließlich beeinflusste die Historische Rechtsschule ganz wesentlich die Entstehung der Privatrechtseinheit in Deutschland und in der Schweiz sowie die Privatrechtserneuerung in Österreich.
Die zweite Kodifikationswelle: die pandektistischen Kodifikationen
Im Vormärz (1815–1847) war die Rechtsvereinheitlichung zu einem Symbol der deutschen Nationaleinheit geworden, folglich wurde diese Epoche von der Forderung nach gesamtdeutschen Kodifikationen des Zivil-, Handels-, Straf- und Prozessrechts sowie des öffentlichen Rechts beherrscht.35 Während das Projekt einer Reichsverfassung scheiterte, gelang die Verwirklichung der Rechtseinheit auf der Ebene des Deutschen Bundes im Wirtschaftsrecht, und zwar durch die Allgemeine Deutsche Wechselordnung (ADWO) von 184836 sowie durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861.37 In den Einzelstaaten des Deutschen Bundes waren bis 1848 nahezu überall Konstitutionen, d.h. Kodifikationen des Verfassungsrechts, verwirklicht worden, begleitet von partikularen Kodifikationen und Einzelgesetzen in anderen Rechtsmaterien.38
Im Privatrecht der deutschen Einzelstaaten, wie z.B. in Preußen (1841/1842), Hessen-Darmstadt (1842/1847) und in Bayern (1861/1864), gelangten die geplanten Kodifikationen über das Entwurfstadium nicht hinaus,39 ausgenommen war nur das Königreich Sachsen.40 In enger Anlehnung an das österreichische ABGB arbeitete Gustav Friedrich Held (1804–1857) 1852 einen erstmals nach dem Pandektensystem (Fünfbüchersystem) gegliederten Gesetzentwurf aus, der die Zersplitterung des sächsisches Privatrechts – es galten Landesgesetze neben gemeinem Sachsenrecht und dem gemeinen römischen Recht – beenden sollte. Aufgrund massiver Kritik (insbesondere von Carl Georg von Wächter (1797–1880)), die sich v. a. auf zu starke Änderungen gegenüber dem geltenden sächsischen Recht bezog sowie auf Unvollständigkeit, sprachliche Unklarheiten und innere Widersprüche verwies, wurde der Entwurf einer grundlegenden Revision unterzogen.41 Das Ergebnis war eine 2620 Paragrafen umfassende, eigenständige Privatrechtskodifikation, die, mehrfach abgeändert, 1865 als Bürgerliches Gesetzbuch für das Königreich Sachsen in Kraft trat. Das sächsische BGB, die erste pandektistische Kodifikation und zugleich die einzige vollendete partikulare Privatrechtsordnung im 19. Jahrhundert, stieß zwar in der Fachwelt vielfach auf Kritik, fand aber in der Praxis Anerkennung und hatte auch als Musterrechtsordnung große Bedeutung.42 Letzteres galt auch für das BGB, mit dessen Inkrafttreten am 1. Januar 1900 die Geltung des sächsischen BGB endete.
Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1896
Die Reichsverfassung von 1871 stellte zwar die politische Einheit Deutschlands (im kleindeutschen Sinn) her, beschränkte aber die Gesetzgebungsbefugnis des Reiches auf einzelne Materien. Im Zivilrecht bestand zunächst nur die Kompetenz zur Vereinheitlichung des Schuldrechts,43 eine Verfassungsänderung im Jahr 1873 dehnte sie auf das gesamte bürgerliche Recht aus und übertrug dem Reich zugleich auch das Recht zur Gesetzgebung im Strafrecht und im Verfahrensrecht.44 Kurz darauf begannen die Vorarbeiten für eine Zivilrechtskodifikation, bis zu deren Annahme durch den Reichstag am 1. Juli 1896 mehr als 20 Jahre vergehen sollten. In dem Bericht der sogenannten Vorkommission von 1874 wurde vorgeschlagen, von der Anlehnung an vorhandene Kodifikationen oder Entwürfe Abstand zu nehmen und statt dessen inhaltlich von den Grundsätzen des gemeinen deutschen Rechts auszugehen und in der Systematik dem Pandektenschema zu folgen, das neben einem allgemeinen Teil eine Aufgliederung in Vermögensrecht (das ist Schuldrecht und Sachenrecht), Familienrecht und Erbrecht vorsah. Der anhand dieser Vorgaben ausgearbeitete Gesetzentwurf wurde im August 1896 publiziert und trat am 1. Januar 1900 als "Bürgerliches Gesetzbuch" (BGB) in Kraft.45
Der äußeren Form nach war mit dem BGB ein "Juristen-Gesetzbuch" geschaffen worden, das sich neben einer klaren Systematik einer nüchternen, präzisen und häufig sehr abstrakten Fachsprache bediente, der jede volkstümliche Anschaulichkeit fremd war. Im Ausland, inner- und außerhalb des Deutschen Rechtskreises, kam der deutschen Zivilrechtskodifikation eine Modellfunktion zu; ihre dogmatischen Grundsätze und Theorien wurden in nationale Rechtsordnungen transferiert.46
Das BGB basierte auf den liberalen Staats- und Rechtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts und spiegelte damit, wie jede Kodifikation, die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit wider. Diesen Grundprinzipien entsprachen auch die im BGB verankerten Generalklauseln, die dem Richter die Möglichkeit geben sollten, im Einzelfall auf allgemeine Aspekte der Gerechtigkeit, z.B. das Verbot des Rechtsmissbrauchs, zurückzugreifen. Zugleich war damit die Offenheit des Rechtssystems gegenüber den sich ändernden Wertvorstellungen und Anforderungen sichergestellt.
Im kommunistischen Teil Deutschlands stand von 1976 bis zur Wiedervereinigung mit der BRD 1990 ein eigenes Zivilgesetzbuch in Kraft. Bereits vor dessen Inkrafttreten war das BGB in jenen Materien, wo es mit der sozialistischen Ideologie der DDR nicht vereinbar war, durch eigene Gesetze ersetzt worden, v.a. im Arbeits- und Familienrecht.47 Die Arbeiten an dem Zivilgesetzbuch der DDR waren wegen politischer Richtungsänderungen und wechselnder ideologischer Zielvorgaben mehrfach unterbrochen worden. In der aus sieben Teilen bestehenden Kodifikation war auf das Pandektenschema ebenso bewusst verzichtet worden wie auf eine einheitliche Ordnung des Privatrechts. Im Vordergrund stand die Regelung der Lebenssachverhalte der Bürger nach ideologischen Vorgaben und im Interesse einer klassenlosen Gesellschaft.48
Das schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1907/1912
In der Schweiz konnte die Kodifikationsbewegung im 19. Jahrhundert zunächst nur auf der kantonalen Ebene Fuß fassen, da die Regelung des Privatrechts in deren Zuständigkeitsbereich fiel. Bei der Ausarbeitung der kantonalen Zivilgesetze übten neben der einheimischen Rechtstradition die ausländischen naturrechtlichen Kodifikationen einen großen Einfluss aus und zwar in der West- und Südschweiz der Code Civil (z.B. Tessin und Wallis) und in der Mittelschweiz das ABGB (z.B. Bern und Luzern). Das von Friedrich Ludwig Keller (1799–1860),49 einem Vertreter der Historischen Rechtsschule, begonnene und von Johann Caspar Bluntschli (1808–1881)50 fertig gestellte Zürcher Privatrechtliche Gesetzbuch von 1853/1855 – die wohl einzige eigenständige kantonale Privatrechtskodifikation – beeinflusste die Gesetzgebungsarbeiten in den übrigen Kantonen (z.B. Schaffhausen und Glarus).51
1874 endete die Ära der partikularen Zivilgesetze insoweit, als dem Bund mittels Verfassungsänderung die Gesetzgebungskompetenz zumindest in einzelnen Privatrechtsmaterien übertragen wurde, z.B. im Obligationenrecht (Schuldrecht) einschließlich des Handels- und Wechselrechts. Mit dem "Bundesgesetz über das Obligationenrecht" von 1881 – dem ersten Schritt auf dem Weg zur Privatrechtseinheit – entschied sich die Schweiz durch die Einbeziehung der handelsrechtlichen Materien in das allgemeine Zivilrecht für einen "Code unique". Zur Verwirklichung der vollständigen Privatrechtseinheit wurde Eugen Huber (1849–1923),52 ein Vertreter der Historischen Rechtsschule, 1884 mit einer rechtsvergleichenden Darstellung aller geltenden kantonalen Zivilrechtssysteme betraut.53 Auf dieser Grundlage und unter reger Mitwirkung von Huber wurde eine Kodifikation ausgearbeitet,54 die im Dezember 1907 als "Schweizerisches Zivilgesetzbuch" (ZGB)55 angenommen wurde und am 1. Januar 1912 in Kraft trat.56 Die Revision und Anpassung des Obligationenrechts an das ZGB erfolgte durch die beiden Bundesgesetze von 1911 und 1937, die zusammen das "Schweizerische Obligationenrecht" (OR) bilden.57
Als moderne, "selbstbewusste" Kodifikation verzichtete das ZGB grundsätzlich auf ausländische und historische Vorbilder ebenso wie auf eine straffe Systematik. Im Gegensatz zum deutschen BGB bediente es sich einer allgemeinverständlichen, anschaulichen Sprache und präsentierte sich als volkstümliches Gesetzbuch, das sich – ohne Anspruch auf lückenlose Perfektion – auf die Festlegung allgemeiner Regeln und leitender Rechtsprinzipien beschränkt. Die häufig sehr elastischen Regelungen, ergänzt durch die in Artikel 1 der Einleitung verankerte Lückenschließungsbefugnis, dienten bewusst der Stärkung der richterlichen Macht.
Im Deutschen Rechtskreis bildete das ZGB die modernste, jedenfalls die jüngste Privatrechtskodifikation. Als solche beeinflusste sie das Privatrecht ihrer Nachbarstaaten: Neben den engen Verbindungen zum deutschen BGB gab es zum einen Auswirkungen auf das österreichische ABGB in Form des Einflusses auf die "Teilnovellen" 1914–1916, zum anderen auf das liechtensteinische Privatrecht durch die Rezeption des Sachenrechts 1923 sowie des Personen- und Gesellschaftsrechts 1926/1928.
Einflüsse auf andere Rechtskreise
Schon das Ius Romano-Germanicum strahlte über den Deutschen Rechtskreis hinaus und beeinflusste insbesondere den Skandinavischen Rechtskreis, wo dem Gemeinen Recht wegen der frühen und wiederholten Verfestigung des heimischen Rechts durch Gesetzgebungsakte sowie der Rechtsfortbildung durch die Gerichte ein sehr geringer Einfluss zukam. Von den Gesetzeswerken des Deutschen Rechtskreises hatte erstmals das ABGB einen weiterreichenden Einfluss und zwar bildete es die Rezeptionsgrundlage für das Zivilgesetzbuch des Fürstentums Moldau von 1817 sowie für das serbische Bürgerliche Gesetzbuch von 1844. Dass es auch bei der Ausarbeitung von Zivilgesetzbüchern in Spanien sowie in einigen südamerikanischen Staaten Berücksichtigung fand, spricht für dessen universelle Verwendbarkeit.58 Mit der grundsätzlichen Fortgeltung des ABGB und auch des BGB in den am Ende des Ersten Weltkriegs neu entstandenen Staaten, wie insbesondere der Tschechoslowakei und Polen, verblieben diese zum Teil vorerst im Deutschen Rechtskreis. Dies änderte sich erst mit ihrer Zugehörigkeit zum Sozialistischen Rechtskreis nach 1945.
Im 19. Jahrhundert war es vor allem die Historische Rechtsschule, die über Europa hinaus an Einfluss gewann: in Südamerika, in China und Japan, zum Teil auch in den USA. Sozusagen als Fortsetzung dieses Exports beeinflusste das deutsche BGB Griechenland, Japan,59 China,60 Brasilien, Thailand und Peru, das Schweizer ZGB den italienischen Codice civile von 1942 ebenso wie die Privatrechtsordnungen von Griechenland, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Polen und der Tschechoslowakei. Über die Grenzen Europas hinaus erlangte die schweizerische Kodifikation zudem Einfluss auf die Gesetzgebung der Sowjetunion sowie in Peru, Siam und China.61
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die Rezeption des schweizerischen Privatrechts durch die Türkei, wo 1926 dessen französische Fassung in einer sehr freien Übersetzung als "Türkisches Zivilgesetzbuch" und "Türkisches Obligationengesetzbuch" in Kraft gesetzt wurde, einen der bemerkenswertesten Transferprozesse dar.62 Gegen Ende des Jahrhunderts, in den 1990er Jahren, knüpften schließlich die mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Ende der sozialistischen Ära wieder an die kontinentaleuropäische Rechtsfamilie an, indem sie sich auf ihre Rechtstradition besannen und diese anhand der modernen Entwicklungen im Deutschen Rechtskreis auffrischten.63