Einleitung
Die wissenschaftliche Analyse des europäischen Kolonialismus hat sich über Jahrzehnte weitgehend auf dessen politische, militärische und wirtschaftliche Dimension beschränkt. Strategien und Praktiken der Landnahme, Herrschaftssicherung und ökonomischen Ausbeutung waren die bevorzugten Themen von Historikern, die sich mit dem Phänomen der europäischen Weltdurchdringung im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigten. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurden zudem zahlreiche Studien verfasst, welche – in einer Fortschreibung spätimperialistischer Rhetorik – die "Entwicklung" der kolonisierten Gebiete untersuchten, das heißt den mehr oder minder erfolgreichen Transfer von westlichen Ideologien (Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus etc.), Institutionen und Technologien. Etwa um das Jahr 1980 machte sich zunächst in den Literaturwissenschaften und cultural studies eine Strömung bemerkbar, deren radikal anderer Blick auf koloniale Herrschaft und ihre Folgen bald auch in die Geschichtswissenschaften hineinwirkte. Diese neuen, unter dem Sammelbegriff "Postkolonialismus" zusammengefassten Theorien etablierten sich rasch sowohl in akademischen Debatten als auch in den universitären Curricula der Geistes- und Sozialwissenschaften.1 Bei diesen "postkolonialen Studien" lassen sich zwei teilweise komplementäre, teilweise aber auch in Spannung zueinander stehende Stoßrichtungen unterscheiden: Zum einen geht es um eine historische Kolonialismusanalyse, die nicht vorrangig die materiellen, sondern die diskursiven Dimensionen des Phänomens in den Blick nimmt. Zum anderen geht es um ein sehr viel weiter gefasstes, nicht selten mit aktuellen politischen Agenden (Globalisierungskritik, Multikulturalismus) verbundenes diskurskritisches Projekt der Überwindung eurozentrischer Wissensordnungen und Repräsentationssysteme. Bei dieser allgemeinen machtkritischen Richtung ist der konkrete Bezug zum historischen Phänomen der europäischen Kolonialherrschaft teilweise kaum noch erkennbar.
Im ersten Teil dieses kurzen Überblicks sollen die historischen Wurzeln postkolonialer Denkansätze in die Ära der Dekolonisation zurückverfolgt werden. Da der Versuch, das breit gefächerte Feld postkolonialer Studien in seiner Gesamtheit abzubilden, im vorgegebenen Rahmen zum Scheitern verurteilt wäre, werden in einem zweiten Abschnitt exemplarisch die Theorien dreier zentraler Vertreter der aktuellen postcolonial studies erläutert: Edward Said (1925–2003) und seine Orientalismuskritik, Homi Bhabha's (*1949) Konzept der Hybridität und zuletzt der aus der Schule der subaltern studies hervorgegangene Dipesh Chakrabarty (*1948), der mit seiner viel beachteten Forderung, Europa zu "provinzialisieren", insbesondere den methodischen Eurozentrismus der Geschichtswissenschaften ins Visier nimmt. Der letzte Abschnitt geht schließlich der Frage nach der spezifischen Bedeutung postkolonialer Ansätze für die europäische Geschichte nach und liefert eine Auswahl von Beispielen für ihre Anwendung aus der neueren Forschung.
Postkolonialismus avant la lettre
In vielen kolonialisierten Ländern wuchs im Zuge des Aufkommens von Nationalismen um 1900 (und noch einmal massiv verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg) das Bewusstsein, dass eine Beschränkung auf die rein materiellen Dimensionen des Kolonialismus zu kurz greife. Der Verweis auf wirtschaftliche Dominanz und militärische Potenz des Westens könne weder den weltweiten Erfolg europäischer Imperialismen allgemein noch die Akzeptanz kolonialer Herrschaft durch zumindest Teile kolonisierter Gesellschaften erklären. Es waren daher Vertreter der politisierten indigenen Intelligenzija aus verschiedenen Kolonien, die als Erste einen komplementären Erklärungsansatz entwarfen. Sie verstanden den Kolonialismus nicht in erster Linie als eine Beherrschung- und Ausbeutungsformation, sondern als System diskursiver Machtausübung, das seinen Erfolg der Verbreitung einer ganz spezifischen Differenzkonstruktion verdankte: der Repräsentation der Kolonisierten als unterlegen und unmündig gegenüber den Kolonisatoren. Der Frage nach Ideologien und diskursiven Mechanismen, die das Herstellen einer kolonialen Rangordnung ermöglichten, wurde nun zentrale Bedeutung beigemessen. Die Schaffung, Verteidigung und Hierarchisierung von Differenz rückte in den Mittelpunkt des Interesses einer ersten Generation von antikolonialen Denkern. Die Widerstandsstrategien waren bereits in dieser frühen Phase vielfältig: Teilweise wurden die Differenzkonstruktionen insgesamt in Frage gestellt, teilweise nur die Hierarchisierung von Differenzen attackiert. Vor allem Nationalisten und Intellektuelle aus den französischen Kolonialbesitzungen in Afrika und der Karibik traten in dieser ersten Welle kolonialismuskritischer Theoriebildung hervor. Frantz Fanon (1925–1961) beispielsweise, Psychiater und Philosoph aus Martinique, nahm eine der wesentlichen Erkenntnisse postkolonialer Theoretiker der 1980er und 1990er Jahre vorweg, indem er die Problematik der Generalisierung und Internalisierung europäischer Perspektiven und Wertmaßstäbe thematisierte. In seinem zum Klassiker avancierten Buch Peau noire, masques blancs (Deutsch als Schwarze Haut, weiße Masken) aus dem Jahr 1952 beschrieb er das Paradoxon seiner eigenen Schicht, der kolonialisierten Intellektuellen, die permanent "weiße Masken" tragen müssten, um unter den herrschenden Machtverhältnissen Anerkennung von außen zu erfahren und – schlimmer noch – sich selbst zu respektieren.2 Fanons radikal antiimperialistische Grundhaltung ging nicht zuletzt auf den Einfluss seines Lehrers, des bekannten Literaten Aimé Césaire (1913–2008), zurück, der beinahe zeitgleich einen einflussreichen Essay über den Kolonialismus veröffentlichte,3 in dem er die großen Versprechungen der "Zivilisierung" und des vermeintlichen "Fortschrittes" im Kielwasser Europas als zynische Rhetorik entlarvte, welche lediglich die in Wirklichkeit auf krudem Rassismus basierenden Machtasymmetrien und Ausbeutungsbeziehungen bemänteln sollte.
Da spätere Theoretiker sich stärker auf diese beiden frankophonen Vorläufer des Postkolonialismus aus der Nachkriegszeit bezogen haben, wird leicht vergessen, dass sich bereits einige Jahrzehnte zuvor unter den kolonialisierten Eliten im britischen Empire eine ähnlich weitreichende Kritik am "Kolonialkonsens"4 formiert hatte. Am bekanntesten ist sicherlich die Zivilisationskritik von Mohandas Karamchand Gandhi (1874–1948), dem "Vater der indischen Unabhängigkeit".5 Sein bereits 1909 veröffentlichtes Büchlein Hind Swaraj (etwa: "Indiens Selbstherrschaft"; Deutsch als Wege und Mittel) ist ohne Zweifel der bemerkenswerteste machtkritische Beitrag des späteren "Mahatma" ("Große Seele"). Bei der nicht einmal 100 Seiten umfassenden Schrift handelt es sich um eine Kampfansage an westliche Überlegenheitsmythen, eine Art "antimodernes Manifest", das in seiner Radikalität unübertroffen ist.6 Im Unterschied zur unter antikolonialen Nationalisten vorherrschenden Praxis einer zumindest selektiven Aneignung von Elementen der europäischen Moderne verdammt Gandhi diese in Bausch und Bogen. So wertet er auch technische Neuerungen und medizinischen Fortschritt als Teufelswerk und kommt zu dem Schluss, "that Indian civilisation is the best and that European is a nine days' wonder".7
Ebenso bemerkenswert wie Gandhis spektakuläre Ablehnung eines uniformen "modernen" Zivilisationsideals ist der Beitrag seines heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen und Landsmannes Benoy Kumar Sarkar (1887–1949). Im Unterschied zu Gandhi verstand sich Sarkar nicht in erster Linie als politischer Aktivist, sondern war ein anerkannter Sozialwissenschaftler, der nahezu ein Jahrzehnt seines Lebens an europäischen und US-amerikanischen Universitäten gelehrt hatte. Seine Vertrautheit mit westlichen Wissenstraditionen ermöglichte es ihm, die dem kolonialen Projekt des Westens inhärente "epistemische Gewalt"8 zu erkennen und anzuprangern. Er sah die globale Überlegenheit "Euro-Amerikas" seit dem späten 18. Jahrhundert als ein der Kontingenz geschuldetes, weltgeschichtlich letztlich wenig bedeutsames Intermezzo an und wehrte sich vehement gegen "albinokratische" Repräsentationen, die die Hegemonie des Westens auf die Inferiorität von Afrikanern und Asiaten zurückführen wollten.9 Mit dem Kampf um die Repräsentationsmacht und Erklärungshoheit nichtwestlicher Kulturen und Gesellschaften hat Sarkar weitere große Themen der postcolonial studies unserer Tage vorweggenommen.
Die Formierung postkolonialer Positionen seit 1980
Obwohl sich also die Wurzeln für die Kritik kolonialer Weltbilder und Denkmodelle bis in die Zeit des Spätkolonialismus zurückverfolgen lassen, dauerte es noch Jahrzehnte, bis es zu Versuchen der Systematisierung von kolonialismuskritischen Ansätzen kam. Ein wichtiger Grund für diese Verzögerung ist wohl darin zu suchen, dass erst Jahre nach dem formalen Ende der großen europäischen Kolonialreiche deutlich wurde, wie persistent das manichäische Weltbild des Kolonialismus geblieben war. Praktiken der "Veranderung" (othering) und die daraus resultierende Wahrnehmung der nichtwestlichen Welt als "unterentwickelt" und defektiv wirkten auch in den 1970er Jahren weiterhin prägend in die Außenpolitik, Entwicklungshilfe10 und kulturelle Produktion des Westens hinein. Die Rezeptivität für eine Neubewertung der kolonialen Vergangenheit wuchs in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden außerdem durch die wachsende Konfrontation mit Immigranten aus den ehemaligen Kolonien. Kolonialismus, das war nunmehr offensichtlich, konnte nicht länger als eine abgeschlossene historische Episode behandelt werden. Das Präfix "post" in postkolonial ist also eindeutig nicht temporal im Sinne von "nachkolonial" zu lesen. Es lässt sich vielmehr als das Postulat einer aktuellen Auseinandersetzung mit und künftigen Überwindung von kolonialen Prämissen verstehen.
Wie bereits angedeutet, kamen wichtige Impulse bei der (Wieder-)Entdeckung der Kolonialismuskritik zunächst aus den Literatur- und Kulturwissenschaften und waren vor allem in den USA zu verspüren. Mit leichter Zeitverzögerung erreichte die Debatte dann die Geschichts-, Sozial- und Regionalwissenschaften. Auch dort wurde sie zunächst fast ausschließlich in der anglophonen Forschung rezipiert. Erst seit den 1990er Jahren entwickelte sich eine globale Diskussion, die nun auch in spanisch-, französisch- oder deutschsprachigen Medien geführt wurde. Eine kaum zu überschätzende Rolle bei der Popularisierung postkolonialer Perspektiven spielte dabei Edward Saids epochales Werk Orientalism aus dem Jahre 1978.11 Said, gebürtiger Palästinenser und lange Jahre Professor für Komparatistik an der Columbia University in New York, hatte in seinem Buch die epistemische Komponente des Kolonialismus am Beispiel der Geschichte der Orientwissenschaften in Europa thematisiert. Angeregt von seinen wichtigsten theoretischen Impulsgebern Michel Foucault (1926–1984) und Antonio Gramsci (1891–1937) stellte er weitreichende Thesen auf, von denen hier nur die drei grundlegenden genannt seien. Erstens: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung Europas mit dem Orient12 sei ein europäischer Monolog geblieben, der – geprägt von westlichen Kategorien und eurozentrischen Vorannahmen – bestenfalls ein Zerrbild der realen Geschichte(n) und Gesellschaften der beschriebenen Regionen geliefert habe. Zweitens: Trotz der zweifelhaften essentialisierenden Befunde der Orientalisten haben die Autoritätsansprüche westlicher Wissenschaft zu einer diskursiven Entmündigung der "Orientalen" geführt: Diese seien durch die erfolgreiche Etablierung eines wissenschaftlichen Hegemonialdiskurses ihrer Möglichkeit der Selbstdarstellung beraubt worden und fänden sich somit dazu verurteilt, von außen repräsentiert und erklärt zu werden. Drittens: Entgegen den steten Beteuerungen wissenschaftlicher Distanz habe die Fremdrepräsentation durch den Westen immer eigennützigen Zwecken gedient. Teilweise habe die Produktion kolonialen Herrschaftswissens im Vordergrund gestanden, das unmittelbar in die Erschließung und Verwaltung kolonialer Territorien eingeflossen sei. Teilweise habe es sich aber auch um eine diskursive Selbstvergewisserung des sich modernisierenden Europa gehandelt. Durch die Projektion bzw. Auslagerung unliebsamer Phänomene der eigenen Gesellschaft (u.a. Passivität, Irrationalität, Despotismus) auf einen externen "Anderen" habe der Westen sich in ein durchweg positives Licht rücken können. Dem Orient, als Chiffre für die gesamte auß"Anti-Europa" zugekommen.
Saids Einfluss auf andere postkoloniale Autoren manifestiert sich vor allem in deren Bestreben, binäre Gegensatzpaare wie Orient/Okzident, zivilisiert/wild, entwickelt/unterentwickelt, Kolonisatoren/Kolonisierte etc., wie sie die koloniale und neokoloniale Rhetorik durchziehen, aufzuspüren und zu dekonstruieren. Die letztgenannte Dichotomie, also diejenige zwischen den Kolonialherren und ihren kolonisierten Subjekten, nimmt im Werk des zweiten wichtigen Vordenkers des Postkolonialismus besonders großen Raum ein: Auch der im indischen Mumbai geborene und in Chicago lehrende Literaturwissenschaftler Homi Bhabha stellt die Analyse und Dekonstruktion des "Kolonialdiskurses"' in den Mittelpunkt seiner Arbeit.13 Im Unterschied zu Edward Said bestreitet er jedoch, dass es Europa tatsächlich gelungen sei, eine hegemoniale Position zu besetzen und die häufig postulierte, klare Demarkationslinie zwischen "the West and the rest"14 zu ziehen. Während Said Machtpotential und tatsächliche Machtausübung in nachgerade essentialistischer Manier bei den Kolonialherren verortet, betont Bhabha stattdessen den instabilen und prekären Charakter kolonialer Identitäten und Machtansprüche. Die hegemonialen Ambitionen der Kolonisatoren seien durch den Eigensinn und die Resistenz- und Aneignungsstrategien der Kolonisierten auf vielfältige Weise konterkariert und gebrochen worden. Koloniale Stereotypen, welche die ungleichen Machtverhältnisse stützen sollten, seien nicht selten zu Zwecken angeeignet worden, die den europäischen Interessen entgegenliefen. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz Of Mimicry and Man zeigt Bhabha beispielsweise, wie Mimikry, also die Nachahmung von Habitus und Sprache der Kolonialherren durch gewisse Segmente der kolonisierten Eliten, zur Erosion kolonialer Eindeutigkeiten und Grenzziehungen und damit zu Verunsicherung und Identitätskrisen der weißen Machthaber geführt habe.15 Kolonialismus lässt sich mit Bhabha also als ein hybrides und hybridisierendes Phänomen lesen, das auf beiden Seiten der fragilen Grenze zwischen Mächtigen und Machtlosen wirkt. Koloniale Herrschaft erscheint somit weniger als Realisierung europäischer Machtphantasien auf Kosten eines ohnmächtigen Außereuropa als vielmehr das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, an dem Herrscher und Beherrschte gleichermaßen beteiligt waren.16 Gerade die Tatsache, dass den Kolonisierten in der Interpretation Saids und seiner frühen Epigonen jegliche Handlungskompetenz abgesprochen wurde, hat immer wieder heftige Kritik ausgelöst.17 Einer solchen Kritik ließe sich nach Bhabha mit dem Verweis auf die Ambivalenzen des Kolonialdiskurses, die Risiken und Nebenwirkungen kolonialer Zuschreibungen sowie die Existenz einer (fragmentarischen) agency der Kolonisierten zumindest teilweise begegnen. Zudem gewann die Frage nach den Rückkopplungseffekten auf Europa durch die Bhabha'sche Argumentation weiter an Brisanz.
Der vielleicht wichtigste Denkanstoß, den die postcolonial studies der Geschichtswissenschaft gaben, ging zuletzt von Dipesh Chakrabarty aus. Der im indischen Kolkata geborene und mittlerweile in Chicago lehrende Historiker gehörte zunächst dem in den 1980er und 1990er Jahren eminent einflussreichen Subaltern Studies Collective an.18 Dieser angloindische Verbund von Historikern hatte, inspiriert von Antonio Gramsci (von dem man den Subalternenbegriff übernahm) und dem marxistisch geprägten sozialgeschichtlichen Ansatz der "Warwick School" um Edward Palmer Thompson (1924–1993), zunächst lediglich einen Gegenentwurf zu den elitenzentrierten Darstellungen des indischen Unabhängigkeitskampfes gefordert. Die neue Perspektive "von unten" sollte vor allen Dingen denjenigen Gruppen eine Stimme verleihen, die in den gängigen Erzählungen nicht auftauchten, weil sie sozial marginalisiert und in der Regel Analphabet(inn)en waren. Bauern, Fabrikarbeiter, Angehörige der niedrigen Kasten und Frauen sind Beispiele für solche "subalternen" Gruppierungen, denen das streitbare Historikerkollektiv ein gemeinsames, widerständiges "subaltern consciousness" zuschrieb, das man rekonstruieren könne. Das Ziel der frühen subaltern studies bestand darin, dieses gemeinsame Bewusstsein sichtbar zu machen, die Subalternen gleichsam "zum Sprechen zu bringen".19 Dies war auch methodisch ein anspruchsvolles Unterfangen, da die Angehörigen der Nichteliten, die man in den Blick nehmen wollte, in der Regel selbst keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hatten.20 Die Agenda und die theoretischen Referenzpunkte der Subalternenhistoriker erweiterten sich jedoch rasch. Waren die ersten vier Bände der seit 1982 in loser Folge erscheinenden Subaltern Studies21 tatsächlich von dieser fokussierten Programmatik geprägt, so verschob sich der Schwerpunkt rasch von der im weitesten Sinne neomarxistischen Orientierung und empirisch grundierten Fallstudie hin zu theorielastigen Diskursanalysen, die nicht nur die ursprüngliche geographische Begrenzung ignorierten22, sondern auch den Subalternenbegriff äußerst großzügig auslegten, indem sie beispielsweise die indische Bourgeoisie zum Gegenstand der Untersuchung machten. Die wichtigsten theoretischen Gewährsmänner hießen nun nicht länger Gramsci und Thompson, sondern man bezog sich zunehmend auf die Helden der in den USA boomenden cultural studies: Michel Foucault und Edward Said.
Dieser Paradigmenwechsel lässt sich hervorragend im Werk von Dipesh Chakrabarty nachvollziehen. Seine frühen Beiträge zu der Subaltern Studies-Serie waren empirisch geerdete Mikrostudien über Jutearbeiter und Gewerkschaften im kolonialen Kalkutta, ganz im Sinne der von den frühen subalternists postulierten "Geschichte von unten".23 In den 1990er Jahren wandte er sich jedoch immer stärker theoretischen Aspekten der Historiographie zu. In seiner äußerst einflussreichen Monographie Provincializing Europe aus dem Jahr 2000 erinnert schließlich nur noch wenig an Chakrabartys Anfänge als labour historian. Mit dem auch im historischen Mainstream der US-Forschungslandschaft breit rezipierten Buch hat sich Chakrabarty die ambitionierte Aufgabe gestellt, eine umfassende Kritik des "methodischen Eurozentrismus", der die globale historiographische Praxis dominiere, zu liefern. Die unreflektierte Anwendung im Westen entstandener und durch spezifisch westliche Bedingungen geprägter Konzepte, Theorien und Methoden sei deshalb so hochproblematisch, weil sie Europas historische Genese gleichsam als "natürlich" ansehe und zur Blaupause für die gesamte außereuropäische Welt emporstilisiere. Die Erwartung, "der Rest" müsse dem Westen nachfolgen, lasse nicht nur wenig Raum für alternative Strukturen und Entwicklungen, sie führe auch zur Etablierung einer Hierarchie, durch welche die Regionen der Peripherie und Semiperipherie permanent in den "Warteraum der Geschichte" verwiesen würden: Erst wenn die Nachzügler – durch die Diffusion westlichen Wissens und westlicher Werte – den Entwicklungsstand der Metropole erreicht hätten, könnten sie als vollwertiges Gegenüber akzeptiert werden.24
Besonders beklagenswert findet der Chicagoer Historiker dabei die stillschweigende Akzeptanz einer "asymmetrischen Ignoranz", die profunde Kenntnisse der europäischen Geschichte bei Historikern in Asien und Afrika als berufsqualifizierend voraussetze, ein vergleichbares Wissen westlicher Historiker über nichtwestliche Geschichten jedoch nicht für notwendig erachte.25 Chakrabarty sieht den Ausweg aus dem Dilemma der "gleichzeitigen Unangemessenheit und Unverzichtbarkeit" westlich geprägter Konzepte und Kategorien in nichtwestlichen Kontexten nicht etwa im Rückfall in Nativismus oder radikalen Kulturrelativismus, sondern in einem kritischen Blick auf deren "ethnozentrischen" Ursprung und die Bereitschaft, sie zu übersetzen und gegebenenfalls zu ergänzen und zu modifizieren. Europa soll "provinzialisiert", also auf seinen Charakter als eine Region unter vielen zurückgestutzt werden. Die Vorstellung der universalen Gültigkeit seiner intellektuellen Errungenschaften könne auf diese Art langfristig einem Welt- und Wissenschaftsbild weichen, in dem die Vorstellung von Heterogenität unproblematisch geworden sei.
Chakrabartys Provinzialisierungsappell stieß insbesondere bei Historikern auf reges Interesse, die sich mit Transfergeschichte bzw. Welt- und Globalgeschichte beschäftigen und für die die Frage der geeigneten Methodik und insbesondere die Problematik kultureller Übersetzungen eine offensichtliche Relevanz besitzen. Im letzten Abschnitt sollen die Anwendungsmöglichkeiten postkolonialer Denkansätze in weniger augenscheinlichen Kontexten beleuchtet werden.
Postcolonial Studies und die Geschichte Europas
Es überrascht nicht, dass die ersten und bislang überzeugendsten Versuche, postkoloniale Ansätze auf die eigene Nationalgeschichte anzuwenden, auf den Britischen Inseln unternommen wurden – schließlich fühlte man sich im Vereinigten Königreich über mehr als zwei Jahrhunderte "at home with the Empire",26 wie es der Titel eines 2006 erschienenen Sammelbandes zum Thema ausdrückt. Die enge Verflechtung von nationaler und imperialer Identität, die verschiedene Historiker Großbritannien bescheinigt haben,27 legt einen Rückgriff auf den postkolonialen Theorieapparat ebenso nahe wie die Herausforderungen, die sich aus der Präsenz bedeutender Einwanderergruppen aus den ehemaligen Kolonien ergeben. Auf das postkoloniale Postulat, Kolonialismus und Imperialismus als reziprokes Beziehungsgeflecht zu betrachten, das die Metropole ebenso stark tangiert wie die Kolonie bzw. diese Pole überhaupt erst hervorbringt, reagierte die bei Manchester University Press erscheinende historische Forschung auf verschiedene Weise. Bereits seit den 1980er Jahren versucht die Reihe Studies in Imperialism28 die Rückwirkungen des Empire auf die verschiedensten Aspekte der britischen Kultur und Gesellschaft auszuloten. Während die meisten frühen Beiträge dieser Reihe der Tradition englischer Sozialgeschichtsschreibung der 1970er Jahre verhaftet bleiben und wenig Offenheit gegenüber neueren theoretischen Perspektiven zeigen, verstehen sich einige der aktuelleren Erscheinungen eindeutig als Beiträge zu einer new imperial history,29 die sich von der etablierten Variante der Empire-Geschichte nicht zuletzt dadurch unterscheidet, dass sie sich gründlich mit postkolonialen Theorien auseinandersetzt.30 Das Postulat, europäische Zentren und koloniale Peripherien in einem gemeinsamen epistemologischen Feld zu analysieren, wurde bereits Mitte der 1990er erhoben.31 Eine neuere Studie hat es konsequent umgesetzt. Sie untersucht in kontrapunktisch angelegten Kapiteln die Entwicklung und wechselseitige Beeinflussung britischer Elitendiskurse über die urbanen Unterschichten Londons einerseits und die kolonisierte Bevölkerung Indiens andererseits. Es zeigt sich, dass das gemeinsame Wissensfeld, das sich zur Durchdringung und Erklärung geographisch und demographisch so unterschiedlicher Räume wie Britisch-Indiens und des Londoner East End konstituierte, maßgeblich durch das zentrale Prinzip des Fortschritts strukturiert war. Durch eine dichte Analyse der Fortschritts- und Zivilisierungsrhetorik werden direkte Wirkungskanäle und diskursive Analogien offengelegt, die beide Schauplätze miteinander verbinden.32
Noch eindeutiger zeigen sich solche Analogien bei jüngeren Studien zur Geschichte Irlands. Mit einiger Berechtigung wurde Irland als Britain's "metropolitan colony" bezeichnet, obwohl das Land seit 1801 formal nicht mehr den Status einer Kolonie besaß.33 Verschiedene Autoren haben – teilweise bereits vor der Popularisierung postkolonialer Theorien – auf die Analogien zwischen den britisch-imperialen Herrschaftstechnologien in Indien und Irland hingewiesen34 und auch die viktorianischen Diskurse und Praktiken, welche die Iren als "inferior race" zu konstruieren suchten, wurden inzwischen vergleichend auf der Grundlage postkolonialer Ansätze untersucht.35 Aber auch der Widerstand gegen imperiale Herrschaftsansprüche lässt sich mit postkolonialen Kategorien beschreiben, wie eine Reihe von Arbeiten über die kulturelle und literarische Revitalisierungsbewegung im frühen 20. Jahrhundert gezeigt hat.36 Ein besonders interessanter neuer Forschungszweig nimmt dabei die Kooperation antikolonialer Aktivisten in Irland und den britischen Überseekolonien in den Blick und sensibilisiert für die Bedeutung von diskursiven Austauschprozessen zwischen den Peripherien.37
Obwohl das deutsche Kolonialreich relativ kurzlebig war und nicht annähernd die Ausdehnung des britischen Empire besaß, hatten in der letzten Dekade Forschungen Konjunktur, die dem wilhelminischen Kolonialismus eine wichtige Rolle für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte beimessen und seine soziokulturellen Auswirkungen im Licht postkolonialer Kritik zu deuten versuchen. Nach ersten Anregungen aus der angelsächsischen Geschichtswissenschaft war es eine junge Historikergeneration in Deutschland selbst, die für eine Überwindung des Eurozentrismus in der deutschen Geschichtswissenschaft warb.38 Ein zentrales Thema der deutschen Diskussion war dabei die Frage möglicher Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus. Ob etwa angesichts der brutalen Niederschlagung des sogenannten "Herero-Aufstandes" (1904–1908) den Kolonialkriegen in der deutschen "Musterkolonie" Südafrika (dem heutigen Namibia) die Rolle eines "Bindeglied[es] zwischen früheren Völkermorden niedrigen staatlichen Organisationsgrades und bürokratisierten Verbrechen des Nationalsozialismus"39 zuzuweisen ist, wird kontrovers diskutiert. Die wissensgeschichtlichen Folgen von Deutschlands kolonialer Episode und insbesondere die Verstrickungen der wilhelminischen Ethnologie in Prozesse der "Rassifizierung" gehören ebenfalls zu den bevorzugten Themen von Historikern, die sich auf postkoloniale Ansätze stützen.40 Nationalismus, Imperialismus und koloniale Denk- und Wahrnehmungsmuster waren im Kaiserreich eng verschränkt.41
Ganz im Sinne der von Said und Bhabha vorgegebenen Perspektiven sind inzwischen aber nicht nur solche konkreten Verflechtungen, sondern auch nie realisierte Kolonialfantasien42 sowie die "weicheren", kulturellen Dimensionen des Imperialismus und ihre Rückwirkungen auf die deutsche Gesellschaft zum Gegenstand einer Reihe von detaillierten Untersuchungen geworden. Darin sind die unterschiedlichsten Facetten kolonialer Rückkopplungen zur deutschen (Alltags-)Kultur aufgezeigt worden.43 Weitere Studien beschäftigen sich mit den Überresten und Nachwirkungen des Kolonialismus in Deutschland und rekurrieren dabei teilweise explizit auch auf das politische Projekt des Postkolonialismus.44
Obwohl bereits das scheinbare Missverhältnis zwischen der Kurzlebigkeit des deutschen Kolonialismus und der großen Bedeutung, die ihm postkolonial geschulte Wissenschaftler zubilligen, auch Kritik hervorgerufen hat,45 erfreuen sich postkoloniale Theorien zunehmender Beliebtheit auch in Kontexten, die auf den ersten Blick noch viel weniger geeignet scheinen. Sie werden seit Neuestem auch in Ländern angewandt, die selbst niemals Kolonien besessen haben. So hat eine kürzlich erschienene Studie über die kolonialen Verstrickungen der skandinavischen Staaten hervorgehoben, wie wenig die imperiale "Komplizenschaft" der aufsteigenden Sozialwissenschaften (wie etwa der Ethnologie) zu verstehen sind, wenn man sie in einem national begrenzten Rahmen betrachtet. Auf einigen der ersten Lehrstühle für Ethnologie und physische Anthropologie saßen beispielsweise auch Finnen und die Daten- und Materialsammlung, die frühen Rassentheorien zugrunde lagen, wurden teilweise von Schweizer Missionaren generiert.46 Das Gleiche gilt für die Verbreitung kolonialer Stereotypen in der Populärliteratur und Werbung, wie sie jüngst für die Schweiz untersucht wurde.47
Man kann resümieren, dass es sich bei den postcolonial studies, deren Wurzeln bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückreichen, um alles andere als eine akademische Modeerscheinung der 1980er Jahre handelt, die inzwischen das Verfallsdatum überschritten hat. Ihre zunehmende Ausdifferenzierung und wachsende Verbreitung jenseits des angestammten Kontextes demonstriert, dass eine postkoloniale Optik auch im 21. Jahrhundert hilfreich bleibt, um zentrale Tatsachen und Probleme sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart zu erkennen und zu analysieren – jenseits aller geographischen und disziplinären Begrenzungen.