Hintergründe der Hugenottenmigration
Die Migration von Menschen zwischen kulturellen Systemen ist, im Vergleich zum Transfer von materiellen und kulturellen Gütern, Technologien oder Ideen, ein tiefgreifender und meist auch nicht reibungslos verlaufender Prozess, der Transferprozesse (menschliche Fähigkeiten und Ideen, Sprache, Religion) miteinschließt. Die Hugenotten, französische Protestanten, die vor allem nach 1685 ihre Heimat verließen und sich in anderen europäischen Ländern, aber auch in Nordamerika und Südafrika ansiedelten, können als Beispiel einer frühneuzeitlichen Migration par excellence angesehen werden. Da die hugenottischen Réfugiés Frankreich als Flüchtlinge verließen, war ihnen bis in das späte 18. Jahrhundert die zeitweise oder auch dauerhafte Rückkehr in ihre Heimat verstellt. Zugleich waren die Hugenotten jedoch nicht passive Opfer; vielmehr gestalteten sie die Bedingungen ihrer Migration in vielerlei Hinsicht entscheidend mit. Im Folgenden werden die Voraussetzungen, Bedingungen und Konsequenzen der massenhaften Migration französischer Protestanten in andere europäische Länder im späten 17. Jahrhundert und beginnenden 18. Jahrhundert analysiert.
Die Herkunft des Terminus "Hugenotten" ist nicht abschließend geklärt, der Begriff ist aber fraglos als negativ konnotierte Fremdbezeichnung entstanden. Die Forschung geht heute – unter Rückgriff auf ältere Vermutungen – mehrheitlich davon aus, dass der Begriff auf ein Gespenst namens Roi Hugo (König Hugo) in den Straßen von Tours anspielt, und damit – in der Verkleinerungsform – auf die nächtlichen und heimlichen Treffen der französischen Protestanten im frühen 16. Jahrhundert verweist. Eine andere sprachwissenschaftlich etymologisch unterfütterte These besagt, der Begriff sei von einem auch dem Wort "Eidgenossen" zugrundeliegenden Etymon "eyguenot" abgeleitet und beziehe sich auf den Zusammenschluss der französischen Protestanten zu einer religiösen, auch politisch Einfluss gewinnenden "Partei".1 Zudem ist zu betonen, dass in der Forschung sowohl ein engerer als auch ein weiterer Hugenotten-Begriff Verwendung findet. Im engeren – und für den Kontext des vorliegenden Beitrags zentralen – Sinn waren Hugenotten diejenigen Mitglieder der reformierten Kirche Frankreichs, die seit den 1680er Jahren aufgrund zunehmenden konfessionellen Drucks aus Frankreich auswanderten. Der weitere Hugenotten-Begriff umfasst dagegen auch andere Gruppen reformierter Konfession, wie beispielsweise die als Waldenser (Vaudois) bezeichneten Bewohner der Alpentäler Savoyens und Frankreichs.2
Im Jahr 1685 hob Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715) mit dem Edikt von Fontainebleaudas Edikt von Nantes auf und beendete damit endgültig die seit 1598 währende Phase rechtlich gesicherter konfessioneller Koexistenz von Katholiken und Hugenotten. Bereits seit Anfang der 1680er Jahre waren die französischen Reformierten jedoch zunehmend unter Druck geraten, da Ludwig XIV. die Bikonfessionalität Frankreichs als Hindernis auf dem Weg zur vollen Entfaltung seiner Herrschaft ansah. Die Verfolgung der Hugenotten gipfelte in den so genannten "Dragonaden", den Einquartierungen von Soldaten in hugenottischen Haushalten mit dem Ziel, diese zur Konversion zum Katholizismus zu nötigen. Die Aufhebung des Edikts von Nantes hatte – trotz strikten Auswanderungsverbots – einen Massenexodus von Hugenotten zur Folge. Schätzungen gehen davon aus, dass von ca. 900.000 französischen Protestanten etwa 150.000 bis höchstens 200.000, also etwa ein Fünftel der Hugenotten bzw. ein Prozent der französischen Gesamtbevölkerung, das Land verließen.3
Die Fluchtwege und letztendlichen Ansiedlungsorte der Hugenotten machen deutlich, dass die Migration der französischen Reformierten ein Prozess mit gesamteuropäischen, ja weltweiten Implikationen und Folgen war. Der Flüchtlingsstrom musste durch europaweite Kommunikation kanalisiert werden, es bedurfte unmittelbarer Hilfe in Form von Nahrungsmitteln und Unterkünften sowie langfristiger Lösungen zur Ansiedlung. Die Angebote der Aufnahmeländer und die letztgültigen Bedingungen der Ansiedlung wurden von zahlreichen Faktoren beeinflusst: den politischen, religiösen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexten der Aufnahmeländer, aber auch der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Hugenotten als Réfugiés. Beides wiederum hatte Auswirkungen auf die langfristigen Folgen der Migration sowohl im Hinblick auf die Integration oder Assimilierung der Hugenotten in den Aufnahmeländern als auch im Hinblick auf die Wahrnehmung und Beschreibung des hugenottischen Refuge (so der Sammelbegriff für die Zufluchtsgebiete der Hugenotten).
Zentrale Merkmale der Hugenottenansiedlung in Europa
Die primären Aufnahmeländer der hugenottischen Flüchtlinge waren die evangelischen Kantone der Schweiz, die Niederlande und England; aufgrund von deren geographischer Nähe zu Frankreich flohen die Hugenotten zunächst in diese Länder. Eine wichtige Rolle als primärer Aufnahmeort und Zwischenstation nahm auch die Reichsstadt Frankfurt am Main ein, die als eine "Drehscheibe des Refuge" bezeichnet wurde.4 Die geographisch entfernteren Regionen Europas (die deutschen Territorien, vor allem Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel, sowie Irland, Dänemark und Russland) und die Kolonien (die südafrikanischen und nordamerikanischen Kolonien der Niederlande bzw. Englands) wurden zu sekundären oder sogar tertiären Aufnahmeländern, da die Hugenotten dorthin im Allgemeinen über einen der primären Aufnahmeorte gelangten. Hinzu kam, dass diese Länder aus Sicht der Hugenotten, die auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat hofften, als weniger erstrebenswerte Ansiedlungsorte erscheinen mussten. Dies wird sowohl deutlich, wenn man sich eine Gesamtkarte Europas vor Augen führt – Irland liegt von Frankreich aus gesehen so weit im Westen wie Brandenburg-Preußen im Osten5 – als auch, wenn man die Aufnahmezahlen der einzelnen Länder miteinander vergleicht.
In den primären Aufnahmeländern – mit Ausnahme der Schweiz – ließen sich die Hugenotten auch dauerhaft in sehr großer Zahl nieder: Die Schätzungen für die Republik der Nördlichen Niederlande liegen zwischen 35.000 und 75.000 Réfugiés, wobei die Wahrheit vielleicht in der Mitte bei ca. 50.000 Siedlern zu suchen ist. England nahm etwa 40.000 Flüchtlinge auf. Obwohl die Schweiz primäres Aufnahmeland war, bemühten sich die evangelischen Kantone angesichts zunehmender Schwierigkeiten bei der Versorgung massiv um die Weiterreise der Hugenotten, so dass letztlich nur etwa 20.000 Réfugiés im Land blieben. Die sekundären und tertiären Aufnahmeländer nahmen in der Regel mit Zunahme ihres geographischen Abstands von Frankreich weniger Flüchtlinge auf. In Brandenburg-Preußen siedelten schätzungsweise 14.000–20.000 Flüchtlinge, danach folgte Hessen-Kassel mit ca. 4.000 Réfugiés. Die anderen deutschen Territorien nahmen jeweils eine geringere Anzahl von Flüchtlingen auf, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass es sich bei diesen Aufnahmeländern (z.B. Hessen-Darmstadt, Brandenburg-Bayreuth, Brandenburg-Ansbach, Hanau-Münzenberg) um mittlere bis kleine Reichsterritorien handelte. Insgesamt nahmen die deutschen Landesherren um die 40.000 Flüchtlinge auf. In Irland siedelten sich ca. 10.000 Hugenotten an, in Dänemark und Schweden etwa 2.000. In den tertiären Aufnahmeländern jenseits Mittel- und Westeuropas werden die Zahlen dann deutlich kleiner: In die nordamerikanischen Kolonien Englands gingen ca. 1.500–2.000 Hugenotten, in der niederländischen Kap-Kolonie siedelten 200 und in Russland 600 Réfugiés.6
Zwei Merkmale der Hugenottenansiedlung im Europa das späten 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts mögen aus moderner Sicht überraschen: Erstens die europaweite Organisation und Kommunikation und zweitens die aktive Partizipation und entsprechende Handlungs- und Verhandlungsspielräume der Hugenotten bei der Ansiedlung. Im Rahmen der Suche nach Ansiedlungsländern für die Hugenotten entwickelten sich in Europa "Arbeitsteilungen" und es wurden verschiedene Kommunikationsnetzwerke genutzt, um das Flüchtlingsproblem langfristig zu lösen. Die primären Aufnahmeländer Niederlande, Schweiz und England bemühten sich zum einen um die Weiterreise eines Teils der Hugenotten und/oder stellten finanzielle Unterstützung bereit, um deren Ansiedlung in anderen Ländern zu ermöglichen. Zudem waren diplomatische und dynastische Kontakte wichtige Faktoren: Vertreter der Schweizer Kantone verhandelten beispielsweise mit Reichsterritorien um Ansiedlungen. Die dänische Königin Charlotte Amalie (1650–1714), die sich für die Aufnahme von Hugenotten in Dänemark einsetzte, war die Schwester des Landgrafen von Hessen-Kassel und die Nichte des brandenburgischen Kurfürsten. In Frankfurt am Main war die dort bereits bestehende französisch-reformierte Gemeinde zentral für die Versorgung und Weitervermittlung der Migranten. Im Gegensatz zu unserer häufig von Fernsehbildern beeinflussten modernen Vorstellung von Flüchtlingen, die nach Überquerung des Meers oder Durchquerung der Wüste in Aufnahmelagern oder Gefängnissen ihres weiteren Schicksals harren, nahmen Vertreter der Hugenotten – meist Pfarrer und Adelige – eine aktive Rolle ein. In Frankfurt trafen Diplomaten, Flüchtlingsvertreter und Abgesandte der Landesherren zusammen, um Ansiedlungsbedingungen auszuhandeln. Aus der Schweiz reisten Vertreter der Hugenotten mit finanzieller Hilfe der Kantone in mögliche Ansiedlungsländer. Die verschiedenen Aufnahmeprivilegien bzw. -angebote der deutschen Landesherren wurden europaweit verbreitet und verglichen.7
Die Réfugiés hatten, im Vergleich zu anderen und gerade der Mehrzahl der modernen Flüchtlinge, die Möglichkeit, die Bedingung ihrer Ansiedlung mitzubestimmen. Der Grund dafür ist in zwei Faktoren zu suchen: Zum einen wurde ihnen, gerade in der Anfangszeit und insbesondere in reformierten Ländern Europas, als Glaubensflüchtlinge Mitleid und Unterstützung entgegengebracht. Zum anderen, und das wog vermutlich schwerer, galten die Hugenotten als attraktive Einwanderer: Ihre handwerklichen Fähigkeiten, beispielsweise in der Textilverarbeitung, waren gesuchte Fertigkeiten, und die europäischen Obrigkeiten erhofften sich von hugenottischen Unternehmern die Errichtung von Manufakturen. Gerade die deutschen Territorien hinkten nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges weiterhin den wirtschaftlich führenden LäLeitkultur angesehen wurde und dessen Sprache zur Lingua franca insbesondere der kontinentalen Eliten wurde. All diese Faktoren führten dazu, dass die Hugenotten trotz ihrer Flucht aus Frankreich bei der Suche nach einem Ansiedlungsort – und damit dem Ziel ihrer Migration – mehr Handlungs- und Entscheidungsfreiheit hatten, als man gemeinhin bei Flüchtlingen annimmt.8
Im Folgenden werden die Bedingungen sowie die längerfristigen Folgen der Hugenottenmigration in verschiedenen europäischen Ländern vergleichend dargestellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bedingungen für die Ansiedlung in jedem einzelnen Land von einem unterschiedlich zusammengesetzten Bündel an Faktoren bestimmt waren: den Traditionen des Aufnahmelandes, vor allem im Hinblick auf frühere Erfahrungen mit der Aufnahme französischer Protestanten; den aktuellen politischen Konstellationen und Interessen des Aufnahmelandes bzw. seiner Obrigkeit; den konfessionellen Verhältnissen des Aufnahmelandes, insbesondere im Hinblick auf die Stellung des reformierten Glaubens; und nicht zuletzt der wirtschaftlichen Situation des Transferlandes, vor allem im Sinne seiner "Rückständigkeit" im Vergleich zu Frankreich. Auch wenn sich dieses Faktorenbündel in jedem einzelnen Land anders darstellte, kann man bestimmte Typen von Ländern identifizieren, in denen sich der Migrationsprozess vergleichbar gestaltete.
Die Schweiz, England, Irland und die Niederlande als Aufnahmeländer
Als einziges Land des Refuge gab es in den Schweizer Kantonen keinerlei rechtliche Sonderregelungen zur Ansiedlung von Hugenotten. In allen anderen Ländern Europas war dies der Fall, jedoch war, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die Reichweite der Privilegien sowie die daraus resultierende Sonderstellung der Hugenotten sehr unterschiedlich. Zweierlei ist im europäisch vergleichenden Kontext zu betonen: Erstens bestand in allen Ländern Europas ein Spannungsverhältnis zwischen den gewährten Sonderrechten, die die Hugenotten rechtlich, wirtschaftlich und/oder auf religiöser Ebene privilegierten, einerseits und Regelungen, die sie kurz- oder langfristig auf Integration oder Assimilation in die aufnehmenden Gesellschaften verwiesen, andererseits. Das Pendel schlug dabei in unterschiedlichen Ländern in unterschiedliche Richtungen aus. Zweitens ist festzuhalten, dass Privilegierung und die Bildung von Korporationen, das heißt mit spezifischen (Sonder-)Rechten ausgestattete Gruppen, an sich in der mitteleuropäischen Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit gang und gäbe waren. Der Adel, Universitäten, städtische Zünfte – sie alle waren privilegierte Stände bzw. Korporationen in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder in Gruppen mit unterschiedlichem Rechtsstatus differenzierte. Insofern ist es fraglich, ob eine Charakterisierung der Hugenotten als "Staat im Staate", wie sie für das brandenburgische Refuge vorgenommen wurde,9 den Verhältnissen der Ständegesellschaft gerecht wird. Darauf ist in der neueren Forschung dezidiert hingewiesen worden.10 Umstritten und weiterhin klärungsbedürftig bleibt jedoch die Frage, ob gerade deutsche Landesherren gegebenenfalls das zutiefst in der ständischen Gesellschaft verankerte Rechtsinstrument der Privilegierung genutzt haben, um über die damit herbeigeführte Sonderstellung der Hugenotten Veränderungen im Sinne absolutistischer Staatsbildung und der Zurückdrängung einheimischer korporativer (und lutherischer) Kräfte herbeizuführen.11
Die beiden europäischen Länder mit der am geringsten ausgeprägten Form der Privilegierung waren die Aufnahmeländer England und Irland. Die Migration der Hugenotten in die Königreiche der englischen Krone erfolgte zum einen vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Interessen der Herrscher, wobei erst nach der "Glorious Revolution" mit der Declaration for Encouraging French Protestants to Transport themselves into this Kingdom des Königspaars William III. (1650–1702) und Mary II. (1662–1694) aus dem Jahr 1689 ein spezifisch auf die Hugenotten zugeschnittenes Angebot gemacht wurde. (Diese Declaration hatte ihre Entsprechung in einer irischen Parlamentsakte, die jedoch nur von "Protestant strangers" sprach.) Zudem war das wirtschaftliche Interesse Englands an einer Ansiedlung der Hugenotten zwar vorhanden, aber angesichts der dort weit entwickelten Ökonomie weniger deutlich ausgeprägt als im Reich. Obwohl in Irland stärkeres Interesse an der hugenottischen Wirtschaftskraft sowie nicht zuletzt an einer "Peuplierung" mit Protestanten als Gegengewicht zur katholischen Bevölkerungsmehrheit bestand, kam es auch hier nicht zu einer umfassenderen Privilegierung. Ein die Ansiedlung der Hugenotten begünstigender oder zumindest erleichternder Faktor war die Tatsache, dass es in England bereits seit dem 16. Jahrhundert eine Immigrationspolitik gab, die Protestanten, die die Ökonomie des Landes zu fördern versprachen, freie Religionsausübung in eigenen Kirchen gewährte. Dazu kam das Recht der freien Gewerbe- und Berufsausübung sowie gewisse wirtschaftliche Vergünstigungen wie zum Beispiel die Befreiung von Einfuhrzöllen, die jedoch die Hugenotten nur mit den Einheimischen gleichstellten, nicht bevorteilten. Den Hugenotten wurden im Rahmen ihrer Migration in die Länder der englischen Krone weder eine eigene Rechtsstellung noch eigene Kolonien gewährt. Im Hinblick auf ihre Kirchen waren sie – trotz der zugesagten freien Religionsausübung – einem gewissen Konformitätsdruck durch die Staatskirche ausgesetzt, da man von Seiten der anglikanischen Kirche eine Allianz zwischen den reformierten französischen Kirchen und den so genannten Dissenters befürchtete. Infolgedessen kam es sowohl in England als auch in Irland zu einer Spaltung der französischen Kirche in konformistische und nonkonformistische Gemeinden. Insgesamt verwiesen die Regelungen in England und Irland die Hugenotten stärker auf Integration in die Aufnahmegesellschaften als ihnen einen dauerhaften Sonderstatus zuzuerkennen.12
Auch das niederländische Refuge kann als ein Ansiedlungsprozess mit relativ schwach ausgeprägter Privilegierung gekennzeichnet werden. Zwar bestand auch in den Niederlanden Interesse an dem mit der Hugenottenansiedlung verbundenen wirtschaftlichen Transfer, doch die hohe Zahl der Einwanderer resultierte zugleich in einer großen sozialen Spannbreite unter den Flüchtlingen: Neben einer relativ hohen Zahl an Adeligen, vermögenden Geschäftsleuten, Pfarrern, Handwerkern und Militärs kamen auch viele mittellose Hugenotten in die Niederlande, die durch Spenden und andere Mittel versorgt werden mussten. Prägend für die Aufnahme der Hugenotten in der Niederländischen Republik waren vor allem zwei Aspekte: Erstens, die niederländische Tradition der weitgehenden Freiheit der Religionsausübung bei gleichzeitiger Existenz einer calvinistischen Öffentlichkeitskirche, so dass es – wie in England – bereits eine französisch-reformierte Kirche, die wallonische, gab, der sich die Flüchtlinge anschließen konnten. Und zweitens, die partikulare Struktur der Republik, die mit den Generalstaaten, den Provinzen und den Städten mehrere politische Handlungsebenen aufwies. Dies eröffnete den regionalen und lokalen Regierungen die Möglichkeit, Hugenottenzuwanderung und Privilegierung nach ihren jeweiligen Interessen und Zielen zu regeln. Dabei richteten sich die Vergünstigungen gemäß dem ökonomischen Interesse der hoch urbanisierten niederländischen Republik vor allem an hugenottische Unternehmer, Händler und Handwerker. Es wurden zwei grundsätzliche Angebotsmuster deutlich, zum einen die Kombination aus freiem Bürgerrecht und freiem Zugang zu den Zünften, zum anderen die Zunftfreiheit. Dazu kamen häufig Steuerbefreiungen. Wie in England und Irland wurden den Réfugiés jedoch weder eine rechtliche Sonderstellung noch Kolonien gewährt. Vielmehr kann man gerade in den Niederlanden feststellen, dass selbst die anfangs gewährten – im Vergleich zu anderen Ländern eher geringfügigen – Privilegien seit der Wende zum 18. Jahrhundert wieder abgeschafft wurden und die Hugenotten damit auf die Integration in ihr Aufnahmeland verwiesen waren.13
Die deutschen Territorien als Ansiedlungsländer
Die Privilegienpolitik Englands und der Niederlande steht im Kontrast zu der Bereitschaft deutscher Territorialherren, die Hugenotten mit umfangreichen "Privilegienpaketen" auszustatten, um sicherzustellen, dass ihr Territorium Nutznießer der Migration der Réfugiés und des damit einhergehenden ökonomischen Transfers wurde. Motiviert war dieses weitgehende Entgegenkommen durch die bereits erwähnten wirtschaftlichen Bedingungen und Theorien: Die Aufnahme der Hugenotten sollte helfen, die Folgen des Dreißigjährigen Krieges durch wirtschaftliche Innovationen und "Peuplierung" zu überwinden. Trotzdem ergaben sich wesentliche Unterschiede zwischen den Aufnahmeländern im Reich im Hinblick auf die Privilegierung der Hugenotten im kirchlich-religiösen Bereich, die von der Frage der Konfession der Obrigkeit – reformiert oder lutherisch – entscheidend beeinflusst wurde.
In den beiden Territorien Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel gestand man den Hugenotten die umfassendsten Privilegien zu. Beide Territorien wurden von reformierten Herrscherhäusern regiert, wobei die brandenburgischen Kurfürsten (ab 1701 Könige) jedoch einer lutherischen Bevölkerungsmehrheit in ihren Kernländern gegenüberstanden, weshalb sie neben den wirtschaftlichen Gründen für die Ansiedlung der Hugenotten auch religiös-politische Interessen hatten: Die Réfugiés stützten die reformierte Elite Brandenburgs – eine etwas andere Art der "Peuplierung". Mit dem Edikt von Potsdamrichtete der Große Kurfürst bereits im Jahr 1685 ein Angebot zur Ansiedlung direkt an die Hugenotten. Ähnlich früh reagierte der Landgraf von Hessen-Kassel mit Privilegienangeboten auf die Aufhebung des Edikts von Nantes. Die Flüchtlinge erhielten in beiden Ländern umfassende wirtschaftliche Vergünstigungen, wie die Gewährung von Steuerfreijahren, Befreiung vom Zunftzwang oder freier Zugang zu den Zünften, Unterstützung beim Kauf von Grundstücken und beim Bau von Häusern. Gingen diese Privilegien bereits über die in England und den Niederlanden gewährten hinaus, so war das Spezifikum der Hugenottenansiedlung in den deutschen Territorien, dass den Réfugiés hier Kolonien mit weitgehenden rechtlichen und administrativen Sonderrechten zugestanden wurden. In Brandenburg-Preußen erhielten die Hugenotten neben der unentgeltlichen Aufnahme in das städtische Bürgerrecht eine eigene Koloniegerichtsbarkeit. Zudem verfügte die Kolonie über eine eigene Verwaltungsbehörde, die Französische Kommission, deren Leiter zugleich Mitglied des Geheimen Rates war. Im Jahr 1709 erließ König Friedrich I. (1657–1713) ein "Naturalisationsedikt", durch das die Hugenotten als Untertanen der preußischen Krone anerkannt wurden. Ihre Privilegien, vor allem ihr eigener Rechts- und Verwaltungsbereich, wurden dabei ausdrücklich bestätigt und blieben bis zu den Preußischen Reformen erhalten. Die "Französische Kanzlei" in Hessen-Kassel, die bis 1800 bestand, verband beide Funktionen – Justiz und Verwaltung – miteinander.14
Auch lutherischen Territorien gelang es, Hugenotten durch ähnlich weitreichende Privilegierungen als Siedler zu gewinnen. Als Beispiel kann Brandenburg-Bayreuth genannt werden, das neben den von Anfang an zugesagten wirtschaftlichen Vergünstigungen den Réfugiés längerfristig auch eine Sonderstellung im Hinblick auf Justiz und Verwaltung zugestand.15 Die entscheidenden Unterschiede sind jedoch bei der Frage der Religionsausübung zu konstatieren: Hier bestanden markante Differenzen zwischen reformierten und lutherischen Obrigkeiten – sowie auch innerhalb der Gruppe der lutherischen Herrschaften. Die innerprotestantische Konfessionsdifferenz hatte auch im späten 17. Jahrhundert noch entscheidende Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Migranten.
Den Hugenotten in Brandenburg-Preußen wurde im Edikt von Potsdam von Anfang an die freie Kultausübung gestattet– was angesichts einer bereits bestehenden französischen Gemeinde und der "Religionsverwandtschaft" mit dem brandenburgischen Herrscherhaus nicht überrascht. Der Kurfürst finanzierte zudem in jeder Stadt einen Prediger für die Réfugiés und verfügte die Nutzung der (deutsch-)reformierten Kirchen als Simultankirchen. Im Jahr 1689 wurde dann die innere Organisation der brandenburgischen Hugenottengemeinden analog zu den ursprünglich in Frankreich herrschenden Organisationsformen und zur Gemeindeordnung der ersten Berliner Hugenottengemeinde geregelt: Neben der calvinistischen Kirchendisziplin wurde auch die Presbyterialordnung erhalten. Auf territorialer Ebene kollidierte jedoch die übergemeindliche Synodalverfassung, die die calvinistische Kirche Frankreichs ausgezeichnet hatte, mit dem landesherrlichen Kirchenregiment und damit den summepiskopalen Ansprüchen der brandenburgischen Herrscher. Die Landesherren nahmen die letztgültige Entscheidung über Religions- und Glaubensfragen sowie die höchste kirchliche Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit für sich in Anspruch. Auch im reformierten Hessen-Kassel wurde den Hugenotten eine innergemeindliche Presbyterialverfassung gewährt, der Zusammenschluss in Synoden dagegen verwehrt.16
In den lutherischen Territorien waren die Hugenotten mit einer beachtlichen Spannbreite obrigkeitlicher Haltungen konfrontiert. Grundsätzlich kann man in Ländern mit lutherischen Obrigkeiten – trotz großen Interesses an der Ansiedlung von Hugenotten vor dem Hintergrund der in ihre Wirtschaftskraft gesetzten Hoffnungen – ein tiefes Misstrauen gegenüber den Reformierten feststellen, das häufig nicht zuletzt von Ständen und Pfarrern prominent artikuliert wurde. Brandenburg-Bayreuth und Kursachsen sind hier die wichtigsten Beispiele. Das Spektrum der den Hugenotten letztendlich gewährten religiösen Freiheiten reichte dabei von einer weitgehenden Privilegierung bis hin zur Verweigerung öffentlicher Religionsausübung: In Brandenburg-Bayreuth, Braunschweig-Lüneburg und Braunschweig-Wolfenbüttel eröffneten die Landesherren den Hugenotten nicht nur, wie auch in den reformierten Territorien, die Kultusfreiheit und die innergemeindliche Presbyterialverfassung, sondern auch die Abhaltung übergemeindlicher Synoden. Während diese in den welfischen Territorien Bestand hatten, wurde die Synode in Brandenburg-Bayreuth bereits 1732 auf preußischen Druck wieder abgeschafft. Den Gegenpol zu diesen lutherischen Aufnahmeländern mit weitgehender Privilegierung bildeten diejenigen Obrigkeiten, die den Hugenotten selbst die freie öffentliche Religionsausübung verweigerten. Zu diesen zählten u.a. Kursachsen, die Reichsstadt Frankfurt am Main sowie außerhalb des Reichs auch das Königreich Dänemark. Wie bereits angedeutet, gab es hier massive Widerstände gegen die Reformierten, vor allem von Seiten der Stände und der Pfarrer, die den reformierten Glauben als Bedrohung für das einheimische Luthertum ansahen.17
Langfristige Folgen der Hugenottenansiedlung
Der Blick auf die Motivationen und Privilegienvergaben der Ansiedlungsländer zeigt deutlich, dass alle aufnehmenden Territorien mit der Ansiedlung der Réfugiés Hoffnungen auf wirtschaftliche Belebung durch die handwerklichen Fähigkeiten der Hugenotten und den Manufakturaufbau verbanden. Der Grad der wirtschaftlichen Privilegierung war dabei meistens – vergleicht man die westeuropäischen Länder England und die Niederlande mit den deutschen Territorien – vom Grad der ökonomischen "Rückständigkeit" bedingt: Deutsche Landesherren machten die besten Angebote an die Hugenotten, sofern nicht konfessionelle Gründe im Wege standen. Insgesamt sollte man den Faktor "Konfession" sowie das Moment des Mitleids für die Glaubensflüchtlinge bei der Untersuchung der Migrationsgeschichte der Hugenotten zwar nicht aus den Augen verlieren, doch kann beides auch leicht – gerade vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen erfolgreichen Mythenbildung über das hugenottische Refuge18 – überbewertet werden.
Diese Mythenbildung, durch die es gelang, die Hugenottenansiedlung als – nicht zuletzt wirtschaftliche – Erfolgsgeschichte in die Historiographie ihrer Aufnahmeländer einzuschreiben, ist allerdings im Rahmen neuerer Forschungen stark differenziert worden. Dem Bild der hart arbeitenden und sich schnell integrierenden Gruppe, die entscheidend zur Entwicklung ihrer Aufnahmeländer beitrug, stehen die Ergebnisse der neueren Forschung entgegen, die erstens, Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung identifiziert, zweitens, den ökonomischen Nutzen der Hugenottenmigration und der damit einhergehenden Transfers relativiert und drittens, auf die Tatsache hingewiesen hat, dass die Réfugiés gerade in den deutschen Territorien lange eine getrennte Minderheit blieben, die sich in Sprache, Kultur und Identität von ihrer Aufnahmegesellschaft fernhielt. Auch wenn die neuere Forschung nicht von systematischem Widerstand der einheimischen Bevölkerung gegen die Ansiedlung der Hugenotten ausgeht, so gab es doch zahlreiche Konfliktfelder, vor allem im Hinblick auf die Zunftfreiheit oder die Zunftaufnahme der Hugenotten und im ländlichen Refuge im Kontext der Nutzung von Allmenden. Zugleich hat die Historiographie der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung durch die Ansiedlung hugenottischer Handwerker und Manufakturbetreiber in Grenzen hielt. Die Hugenotten waren häufig im Luxusgewerbe tätig, so dass die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Gesamtwirtschaft als eher gering eingeschätzt werden. Manufakturen, aber auch ländliche Kolonien, bedurften über längere Zeit finanzieller Zuschüsse durch die Regierungen und waren oft ökonomisch nicht überlebensfähig. Und schließlich ist auch die Schnelligkeit der hugenottischen Integration und Assimilation in der Forschung relativiert worden: Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zunehmend zu Mischehen mit Einheimischen und zur Aufgabe des Französischen als Alltagssprache – beides wichtige Indikatoren für Assimilation. Zudem hatten die Sonderrechte der Hugenotten im Reich bis zu den politischen Umbrüchen und Reformen an der Wende vom 18. zum 19. bzw. im frühen 19. Jahrhundert Bestand.19
Trotzdem ist Vorsicht geboten, um bei der Beurteilung der langfristigen Folgen der hugenottischen Migration für Europa nicht vorschnelle Urteile zu fällen. Auch wenn der wirtschaftliche Nutzen hinter den (hochgesteckten) Erwartungen zurückblieb, waren hugenottische Handwerker und Manufakturisten die zentralen Agenten im Transfer französischer Produktionstechniken und französischen Geschmacks – von der Tuchherstellung über Perücken- und Handschuhmacher, der Keramik- und Zinnproduktion, der Gold- und Silberschmiedekunst, der Uhrmacherei, bis hin zur Waffenherstellung. Hier griffen wirtschaftliche und kulturelle Einflüsse zutiefst ineinander. Zudem spielten Hugenotten in den europäischen Armeen eine nicht unwichtige Rolle: Als ein Beispiel können die Réfugiés in den Armeen Wilhelms III. von Oranien gelten, die nach der Machtübernahme in England 1688 und der Eroberung Irlands 1689 in dem irischen Ort Portarlington angesiedelt wurden. Als Vermittler der hegemonialen französischen Kultur und Sprache hatten gerade die hugenottischen Eliten zum Teil großen Einfluss auf die Wissenschaft und Kultur ihrer Aufnahmeländer. In diesem Zusammenhang ist das ganz Europa umspannende Netzwerk der hugenottischen Eliten zu nennen, die sowohl Handels- als auch intellektuelle Netze bildeten. Diese "hugenottische Internationale" beförderte den Transfer von Wissen und Kultur über ganz Europa. Zentrum dieser Netzwerke war in vielerlei Hinsicht die Republik der Niederlande, wo aufgrund der relativen Pressefreiheit Druck, Verlag und Buchhandel blühten. Die Tätigkeit von Réfugiés im Verlagswesen war die Basis für eine europaweite république des lettres, in der Hugenotten nicht zuletzt als Übersetzer aus dem und in das Französische, Niederländische und Deutsche fungierten und damit zentrale Agenten für den Kulturtransfer und die Verbreitung von Wissen waren. Neben praktischen Kenntnissen, beispielsweise über Weberei, wurden so im 18. Jahrhundert die Ideen der Aufklärung vermittelt.20
Insgesamt ist es, trotz einer langen Forschungstradition über das Refuge, auch weiterhin schwierig, die Hugenottenmigration zu bewerten. Als ein Prozess, in dessen Rahmen viele Menschen in kurzer Zeit dazu gezwungen waren, eine neue Heimat zu finden, scheint das Refuge einzigartig – und doch stellen wir bei genauerem Hinsehen fest, dass die Menschen im frühneuzeitlichen Europa ständig unterwegs waren, dass Migration zur Lebenserfahrung vieler gehörte und auch religiös motivierte Migration – man denke nur an die niederländischen Exulanten des 16. Jahrhunderts und die Salzburger Protestanten des 18. Jahrhunderts – ein fester Bestandteil europäischer Lebenserfahrung war.21 Andererseits ist aber auch festzuhalten, dass die Zahlen der Hugenottenmigration für frühneuzeitliche Verhältnisse sehr hoch waren: Beispielsweise zogen durch die Reichsstadt Frankfurt am Main, die geschätzte 30.000 Einwohner hatte, zwischen 1685 und 1695 mehr als 45.000 Flüchtlinge.22 Die Forschung hat zwar mit dem seit dem 18. und vor allem im 19. Jahrhundert etablierten "Hugenottenmythos" gründlich aufgeräumt – und doch ist festzustellen, dass die Hugenotten für den wirtschaftlichen und kulturellen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle spielten. Gerade an diesem Punkt scheint es trotz einer guten Forschungslage noch Potenzial für Studien über langfristige und gegebenenfalls weniger "sicht- und messbare" Folgen der hugenottischen Migration zu geben.