Einleitung
Für das östliche Christentum war "der Westen" in der Neuzeit eine (wenn auch nicht die einzige) Folie, die zur Abgrenzung und Unterscheidung diente und die half, die Besonderheit der eigenen christlichen Tradition hervorzuheben. Der Westen war durch das religiöse Bekenntnis (also die "Konfession") und die religiöse Praxis (vor allem den Gottesdienst) charakterisiert; er umfasste die von katholischer und evangelischer Tradition geprägten Menschen, Kirchen, Theologien und Gebiete. Mit dem "Osten" ist hier die Orthodoxie byzantinischer Prägung gemeint, die sich im 19. Jahrhundert in Osteuropa unter russischer Dominanz befand, während sie sich im Südosten des Kontinents langsam von der osmanischen Vorherrschaft löste und in den neu entstehenden Nationalstaaten organisierte. Andere Traditionen, deren Untersuchung sich im Hinblick auf die Frage nach der Wahrnehmung des Westens auch lohnen würde, sind hier nicht berücksichtigt (etwa das vorchalkedonensische Christentum in Armenien oder die vorwiegend muslimisch geprägten Gesellschaften in Bosnien oder Albanien).
Die Wahrnehmung des Westens im Osten Europas ist durch eine besondere Interpretation der Geschichte bestimmt. Dabei werden verschiedene historische Ereignisse und Entwicklungen in den Beziehungen zwischen dem christlichen Osten und dem Westen als miteinander verbunden und als geplantes Vorgehen gedeutet. Inhaltlich ist diese Wahrnehmung durch Begriffe wie Verrat, Machtwille und Heimtücke charakterisiert, die dem Westen als bestimmende und handlungslenkende Eigenschaften zugeschrieben werden. Er wurde im Lauf der Zeit aufgrund seiner politischen und militärischen Überlegenheit mehr und mehr als Bedrohung empfunden; eine solche Sicht des Westens übertrug sich auch auf Kirche und Theologie. Die Expansion der westlichen Kirche in den Osten durch die Errichtung kirchlicher Strukturen, der Anspruch der westlichen, scholastisch geprägten Philosophie und Theologie sowie zunehmende Dominanz der westlichen Kultur in der christlichen Welt führten im Verein mit dem Vordringen islamischer Herrschaftsstrukturen im ostkirchlichen Gebiet zu einer Abgrenzung und immer deutlicheren Ausbildung einer eigenständigen Identität, die sehr stark durch den Gegensatz zum Westen geprägt war.
Eine solche negative Sicht des Westens ist schon lange vor der Neuzeit anzutreffen, und sie bleibt auch in der Gegenwart in vielen Bereichen von Politik und Gesellschaft in Osteuropa dominant. Da sie eine wichtige kirchliche und theologische Perspektive hat, lässt sie sich nicht ohne die Betrachtung der kirchenhistorischen Ereignisse und ihrer Interpretationen verstehen.
Die historische Entwicklung zur Entstehung von "Ost" und "West" in Europa
In kirchlicher Hinsicht sind die Ereignisse seit der ausgehenden Antike von einer wachsenden Entfremdung zwischen dem Westen und dem Osten des Römischen Reichs geprägt. Der Westen, in dem das Christentum ursprünglich in griechischer Sprache rezipiert worden war, war mehr und mehr lateinisch geworden; es entwickelte sich eine lateinische theologische Terminologie, das Griechische wurde als Gottesdienstsprache vom Lateinischen verdrängt, und lateinische Theologen schufen eigene Werke unabhängig vom östlichen theologischen Denken. Im Osten gewann das Griechische als Sprache des Christentums die vorherrschende Position, nachdem das Syrische durch politische und kirchliche Entwicklungen an Bedeutung verloren hatte und isoliert wurde. In den Auseinandersetzungen des 4. und 5. Jahrhunderts um die Trinität und die Christologie setzte sich eine von der griechischen Philosophie geprägte Terminologie von "Person", "Natur" und "Hypostase" durch, die von der Reichskirche übernommen wurde.
Zugleich beanspruchten die römischen Bischöfe mehr und mehr einen Vorrang in der Kirche. Bei Leo I. (gest. 461) lässt sich dieser Anspruch erstmals deutlich erkennen. In den kommenden Jahrhunderten führte er immer wieder zu Konflikten zwischen dem westlichen und dem östlichen Christentum. Auf der Trullanischen Synode wurden im Jahre 691 kirchenrechtliche Bestimmungen gefasst, die den römischen Gepflogenheiten widersprachen; der Papst erkannte die Beschlüsse zunächst auch nicht an. Spätere Synoden im Westen (etwa Frankfurt 794, Aachen 809), die auch Ausdruck des erstarkten fränkischen Kaisertums waren, richteten sich dezidiert gegen Beschlüsse und Gebräuche der griechischen Kirche.
Die Auseinandersetzungen um die Existenz und die Verehrung von Bildern im Christentum, der so genannte Ikonoklasmus (ca. 725–843), machten deutlich, dass die christologischen Diskussionen letztlich nicht gelöst waren. Auf kirchenpolitischer Ebene führte der Ikonoklasmus dazu, dass sich die römischen Bischöfe immer mehr den erstarkten Franken zuwandten und nicht mehr die oströmischen Kaiser als ihre natürlichen Schutzherren und Verbündeten ansahen. Zugleich wurde das oströmische Reich von Süden und Südosten durch arabische Stämme bedrängt, Nordafrika fiel an den Islam. Durch diese beiden Entwicklungen zerbrach die Reichseinheit endgültig; das Mittelmeer war nicht mehr der natürliche und zentrale Raum des Christentums, zumal seine Südküste nicht mehr christlich war. Der Schwerpunkt des Christentums verlagerte sich nach Norden, und so waren die Voraussetzungen dafür gegeben, dass sich ein "Westen" bilden konnte, der durch die latinitas geprägt war und sich dem Byzantinischen Reich gegenüber abgrenzte. Das östliche Christentum war durch die "Taufe der Rus'", die Christianisierung der ostslawischen Stämme seit dem späten 10. Jahrhundert, ebenfalls nach Norden expandiert; das sich aus der Rus' entwickelnde Moskauer Reich sollte nach dem Untergang von Konstantinopel und dem Ende des Byzantinischen Reiches für lange Jahrhunderte der einzige Staat mit mehrheitlich orthodoxer Bevölkerung bleiben.
Die Trennung zwischen den Kirchen wird auf das Jahr 1054 angesetzt. Auch wenn in der neueren Forschung oft behauptet wird, dass dieses Jahr für das Schisma nicht entscheidend war,1 so lässt sich doch nicht bestreiten, dass es als Höhepunkt in einer langen Geschichte der Entfremdung zwischen beiden kirchlichen Traditionen steht. Die Ereignisse im Zusammenhang mit den Kreuzzügen, insbesondere das Jahr 1204 mit der Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer, haben die Trennung weiter vertieft. Dieses Ereignis wird als einer von vielen Punkten wahrgenommen, die für den Verrat des Westens stehen; in politisch und militäRussland ein. Diese Ereignisse werden ebenso wie die späteren Angriffe des polnisch-litauischen Doppelreiches und schließlich auch der Überfall der deutschen Wehrmacht 1941 als bewusste und geplante Versuche des Westens gedeutet, den orthodoxen Osten in die Knie zu zwingen. Dieses machtpolitische Kalkül, so die Deutung, sei dem Westen immer wichtiger gewesen als der gemeinsame christliche Glaube und die Verpflichtung, den orthodoxen Christen gegen Ungläubige zu Hilfe zu kommen. Für das Byzantinische Reich zeigt sich diese Wahrnehmung letztmalig im Zusammenhang mit dem Untergang von Konstantinopel: Obwohl der Osten beim Konzil von Florenz 1439 eine Union mit dem Papst eingegangen war, habe der Westen es versäumt, die Reichshauptstadt vor den Osmanen zu schützen, so dass sie wenige Jahre nach dem Unionsabschluss in islamische Hände fiel und das Reich unterging.
In Byzanz hatte sich im Gefolge der Auseinandersetzungen mit Rom die antilateinische Polemik als eigene Gattung entwickelt, wie auch im Westen Schriften contra errores Graecorum nicht wenig verbreitet waren.2 Da das russische kirchliche Schrifttum in seinen Anfängen sehr stark von Byzanz beeinflusst war, entstanden hier ebenfalls Werke dieser Art. Die Ablehnung westlicher theologischer Denkmodelle fand ihren Ausdruck häufig in der antilateinischen kirchlichen Publizistik.3
Die Vorwürfe, die in diesen Publikationen gegen den Westen erhoben wurden, bezogen sich auf eine ganze Reihe von Gebieten des kirchlichen Lebens und des theologischen Wirkens. Wie es häufig in der Kirchengeschichte geschah, so wurden auch hier Abtrünnige als jüdisch beeinflusst bezeichnet: Die Verwendung von ungesäuertem Brot (den sogenannten Azymen) für die Eucharistiefeier, die sich im Westen durchgesetzt hatte, wurde als jüdischer Brauch abgelehnt. Der Streit um die Azymen war der äußere Grund, der 1054 zur Trennung geführt hatte. Weiterhin wurde der Westen bezichtigt, häretisch zu sein. In der westlichen Form des Glaubensbekenntnisses wird nämlich gesagt, der Heilige Geist gehe "vom Vater und vom Sohne" aus (qui ex Patre Filioque procedit). Dieses "Filioque" findet sich im griechischen Originaltext nicht; da hier an das Geheimnis des Glaubens schlechthin, an die Frage nach dem Sein Gottes gerührt wird, war der Vorwurf der Häresie gegen den Westen naheliegend. Oft wurde (historisch unzutreffend) behauptet, ein Papst habe die Einfügung in das Glaubensbekenntnis angeordnet, so dass auch die päpstliche Autorität Kritikpunkt wurde: Die Kirchenstruktur des Westens wurde als falsch und der Tradition widersprechend, der Westen damit als schismatisch gesehen. Die "Unionen" von orthodoxen Amtsträgern und Gläubigen, also ihre Unterstellung unter die päpstliche Autorität, galt ebenfalls als der Ekklesiologie widersprechend. Da solche Unionen von der römischen Kirche aktiv gefördert wurden, erhob man im Osten ihr gegenüber den Vorwurf des Proselytismus, also der aktiven Abwerbung einzelner Gläubiger. Schließlich ist als weiteres Feld das theologische Denken zu nennen, das seit dem Hochmittelalter in der lateinischen Kirche von der Scholastik geprägt war. Im Osten, der die Scholastik nicht rezipierte, galt dieses Denken als rationalistisch, tot, mechanisch; dagegen wurde die eigene Theologie als mystisch, wahr und lebendig wahrgenommen.
Die politischen Umstände nach der Trennung der Kirchen haben auch dazu geführt, dass über lange Zeit nur sehr sporadischer Kontakt zwischen dem christlichen Osten und dem Westen bestand. Das griechische Christentum stand wie das orientalische und wie die Kirchen auf dem Balkan unter osmanischer Herrschaft. Obwohl es natürlich vereinzelte Kontakte gab, war doch die zwischenkirchliche Kommunikation fast völlig abgebrochen. Seitens der katholischen Kirche wurden bei den Christen im Osmanischen Reich zuweilen Unionsversuche unternommen, verstärkt im Orient des 19. Jahrhunderts. Diese Versuche wurden von der Orthodoxie als Angriff auf die eigene kirchliche Selbstständigkeit gesehen. Der Aufruf von Papst Pius IX. (1792–1878), der anlässlich seines Amtsantritts 1846 die östlichen Kirchen aufforderte, eine Union mit Rom einzugehen, und die bekannte Antwort der östlichen Patriarchen4 sind Zeichen für die Art der zwischenkirchlichen Beziehungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Im Russischen Reich kannte man den Westen ohnehin nur als schismatisch; die gemeinsame Kirchengeschichte im ersten Jahrtausend war keine eigene Erfahrung, und der Unionsversuch von 1441, als Metropolit Isidor von Kiew (1380–1463) versucht hatte, die Union von Florenz in Moskau zu verkünden und umzusetzen, endete damit, dass sich die russische Kirche aus der Jurisdiktion des vermeintlich katholisch gewordenen Konstantinopel löste und faktisch unabhängig wurde.
Vor diesem historischen Hintergrund also sind auch die Wahrnehmung des Westens und die Auseinandersetzung mit ihm in Kirche, Theologie und Philosophie zu sehen. Der Westen wird in der orthodoxen Welt nicht einfach nur als das Andere gesehen, sondern vor allem als ein feindliches Anderes.
Die Entwicklung in der russischen Kirche
Für die Vermittlung des westlichen Gedankengutes – übrigens ein sehr einseitiger Prozess, es gab im Westen kaum Übernahmen aus dem Osten – war vor allem das polnisch-litauische Reich von zentraler Bedeutung. Hier lebten orthodoxe Gläubige in relevanter Zahl in einem katholisch geprägten Staatswesen (das auch nicht unbedeutende Anteile an Calvinisten hatte). Um im Staat Karriere machen zu können, war für die orthodoxen Eliten eine katholische Ausbildung (oder der Übertritt zur katholischen Kirche) unabdingbar. Daher geschah es nicht selten, dass orthodoxe Gläubige konvertierten und im Westen, oft sogar in Rom, eine theologische Ausbildung genossen. Manche von ihnen traten nach ihrer Rückkehr in die Heimat erneut zur Orthodoxie über und trugen so dazu bei, dass orthodoxe theologische Bildungseinrichtungen geschaffen werden konnten, aber auch dazu, dass westliches, katholisches Denken – etwa im Widerstand gegen den Calvinismus – Eingang in die orthodoxe Theologie fand. Das geschah nicht so sehr in der Vermittlung einzelner Aussagen, sondern vor allem durch die Übernahme von Strukturen, also etwa in der Darstellung der Dogmatik in Traktaten oder in der Übernahme scholastischer Kategorien. Die lateinische Theologie, der traditionell vorgeworfen wurde, dass sie zu mechanisch, zu wenig lebendig sei, hatte in ihrer inneren Logik und ihrer Systematik also auch durchaus etwas Anziehendes für orthodoxe Theologen. Aus den Grenzgebieten und der heutigen Ukraine wirkte diese theologische Prägung nach Russland hinein; für Bischofssitze in Russland wurden gerne Kandidaten aus diesen Gebieten genommen, weil sie eine bessere Bildung besaßen. Die orthodoxe Theologie in Russland erhielt so fast unbemerkt ein westliches Gepräge, auch wenn sie sich als orthodox verstand.5 Diese Ausrichtung der orthodoxen Theologie wurde später als "Schultheologie" bezeichnet; der russische Exiltheologe Georges Florovsky (1893–1979) hat hierfür den Begriff der "Pseudomorphose" verwendet.6
Zugleich aber entwickelte sich eine starke Abneigung gegen alles Neue. Das hatte im 17. Jahrhundert Konsequenzen, als Patriarch Nikon (1605–1681) die liturgischen Bücher revidieren ließ, wozu er griechische Bücher als Vorbild nahm. Eine bedeutende Gruppe von Priestern und zahlreiche Gläubige nahmen das nicht hin, so dass es zu einem großen Schisma kam: Die "Altgläubigen" (russ.: staroobrjadcy, eigentlich: Altritualisten) spalteten sich von der orthodoxen Kirche ab, der sie ein Abfallen von den Traditionen der Vorfahren vorwarfen. Tatsächlich aber stellten die Reformen, die sich auf wenige Äußerlichkeiten des Gottesdienstes bezogen, eine Rückkehr zu den ursprünglichen östlichen Gepflogenheiten dar. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Altgläubigen der Großkirche vorwarfen, unter westlichem Einfluss zu stehen. Das bezog sich vor allem auf die Ikonenmalerei.
Unter Zar Peter I. (1672–1725)[] wurde der russische Staat nach westlichen Vorbildern völlig umgestaltet. Verwaltung und Armee wurden modernisiert, die neu gegründete Hauptstadt erhielt einen westlichen Namen (St. Petersburg) und viele alte Traditionen wurden abgeschafft. Auch die Kirche wurde radikal reformiert, wobei der Zar sich westliche (besonders protestantische Kirchen) zum Vorbild nahm. Das Amt des Patriarchen wurde abgeschafft und durch ein Gremium ("Heiligster Dirigierender Synod") ersetzt. Auch wurde versucht, die theologische Ausbildung zu systematisieren. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts stand die Kirche unter der Kontrolle der Zaren, die sie nicht selten in aufklärerischer Einstellung in den Dienst des Staats bzw. des Gemeinwohls nehmen wollte. Zwar wurden theologische Schulen und Akademien errichtet, so dass sich langsam das Bildungsniveau des Klerus hob, doch hatte die Kirche keine Möglichkeit zum freien, unabhängigen Agieren. Sie war auf das Engste mit den staatlichen Strukturen verwoben.
Diese Entwicklungen führten dazu, dass sich im 19. Jahrhundert zwei wichtige Richtungen im Bereich der Religionsphilosophie artikulieren konnten: Einerseits gab es eine Bewegung, die in der Orientierung am Westen den Grund für den Niedergang Russlands sah. Russland müsse sich auf seine eigenen Werte und Traditionen besinnen, die durch die Hinwendung zum Westen verloren gegangen seien. Die Entwicklung Westeuropas zeige, dass es falsch sei, sich auf die Werte zu verlassen, die durch Humanismus und Aufklärung gekennzeichnet seien. Die Slawen hätten ein eigenes System von Werten, das die Grundlage für die Gesellschaft bilden solle und das sogar für den Westen ein Vorbild werden könne. Für solche Überlegungen diente vor allem die zum Ideal stilisierte russische Bauerngemeinde (mir) als Folie. Diese Gruppe von Denkern wurde als "Slawophile" (russ.: slavjanofily) bezeichnet.
Ihnen gegenüber standen die "Westler" (russ.: zapadniki), die im Gegenteil der Auffassung waren, dass sich Russland viel mehr am Westen orientieren müsse. Der Westen stehe für Fortschritt, und Russland könne seine Stagnation nur überwinden, wenn es die Werte und Grundsätze, aber auch das politische Modell des Westens übernehme. Hier wird also der Westen nicht als Gegenstück zum Zweck der Abgrenzung verwendet, sondern als Vorbild, dem nachzueifern sei.
In beiden Ausrichtungen gibt es eine bedeutende kirchliche und theologische Komponente. Die Slawophilen waren der Überzeugung, dass die Slawen mit der Orthodoxie die wahre Form des Christentums besäßen und dass für die westlichen Kirchen die Rückkehr zur Tradition der ungeteilten Kirche der einzige Weg sei. Für sie spielte (in Aufnahme von Ideen aus der Romantik) das einfache Volk eine wichtige Rolle, bei dem der Glaube und die Tradition unverfälscht erhalten seien.7 Aleksej Chomjakov (1804–1860), einer der wichtigsten religiösen Denker dieser Richtung, vertrat die Auffassung, dass kirchliche Festlegungen erst dann ihre Gültigkeit und Wahrheit bewiesen hätten, wenn sie in einem nicht formalisierten Prozess von der gesamten Kirche rezipiert seien, wenn also Entscheidungen von Konzilien oder Bischofssynoden "von dem gesamten kirchlichen Volke als die Stimme der Kirche anerkannt" seien.8 Hinter dieser Auffassung steht, auch genährt von der konkreten Erscheinungsform der katholischen Kirche im 18. und 19. Jahrhundert, die Vorstellung, die westliche (faktisch die katholische) Kirche sei in Formalismus und Juridismus erstarrt, was sich in ihrer Konzentration auf den Papst zeige. Die Gläubigen seien willenlose Objekte, die nur auszuführen hätten, was der Papst dekretiere. Die Orthodoxie versteht sich dem gegenüber als ganzheitlich; Hirten und Herde hätten als mystischer Leib Christi in Eintracht und konziliarer Gemeinschaft zusammen die Aufgabe, die Reinheit der Lehre zu bewahren.
Die Westler hingegen sahen in der Orthodoxie eher einen Hinderungsgrund für eine angemessene Entwicklung Russlands. Einige von ihnen zogen die Konsequenz und konvertierten (meistens zur katholischen Kirche), andere hingegen sagten sich ganz von der Religion los. Diese Position sollte große Bedeutung für die russische Intelligenz bis zur Revolution von 1917 bekommen. Viele ihrer wichtigsten Vertreter hatten keinen Kontakt zur Kirche, von der sie keine Impulse für die Überwindung der Stagnation erwarteten, in der sich Staat und Gesellschaft befanden.
Diese zweifache Ausrichtung des russischen Denkens, die jeweils durch die Haltung zum Westen bestimmt ist, prägte die intellektuellen Auseinandersetzungen im Russland des 19. Jahrhunderts nachhaltig. Beide Gruppen entwickelten sich sehr stark auseinander. Die Slawophilen verfielen in einen starken Konservativismus mit streng nationaler Färbung, der politisch die Monarchie unterstützte; von den Westlern hingegen wandten sich viele extremen politischen Anschauungen bis hin zum Anarchismus zu; auch die sozialistischen Strömungen Russlands sind auf diesem Hintergrund entstanden. Für sie war Religion kein wichtiges Thema mehr. Während die missglückten Revolutions- und Reformversuche von 1905 mit einem Sieg der konservativen Richtung endeten, setzte sich 1917 dann die stark antikirchliche und antinationale sozialistische Anschauung durch. In den Jahren der Sowjetunion kann man zwar vereinzelt noch Spuren beider Richtungen in politischen Entscheidungen und Handlungen entdecken, doch spielte die Spannung zwischen ihnen keine große Rolle mehr. Mit dem Ende von Regime und Staat 1991 stellte sich jedoch die Frage nach der Ausrichtung Russlands neu. Bis heute lassen sich im politischen und gesellschaftlichen Bereich Russlands beide Positionen deutlich erkennen; die Frage nach der Haltung Russlands zum Westen ist in Russland selber nicht beantwortet, und die verschiedenen Optionen haben immer auch eine religiös-philosophische Komponente.
Noch in der Zarenzeit geprägt, aber auch – bis zu seiner Verhaftung und Hinrichtung – in der Sowjetzeit tätig war der berühmte Theologe und Universalgelehrte Pavel Florenskij (1882–1937). Für ihn ist die Erfahrung ein zentrales Element in der orthodoxen Theologie: Nur wer das Leben der orthodoxen Kirche in ihr erlebt, kann die Richtigkeit der Orthodoxie spüren. In einem anschaulichen Bild vergleicht Florenskij die Bemühungen von Menschen aus dem Westen, die Orthodoxie zu verstehen, mit dem Versuch, das Schwimmen auf dem Trockenen zu erlernen. Orthodoxie müsse erfahren werden, sie könne nicht erlernt oder bewiesen werden. Damit wird postuliert, dass das östliche Christentum nur von innen verständlich sei; jeder Versuch von außen, es rational zu erfassen, muss nach dieser Ansicht scheitern. Eine solche Sicht wurde im Grundsatz auch von manchen westlichen Theologen übernommen; der dem Westen zugeschriebenen Abstraktion wird als östliches Prinzip die Erfahrung entgegen gesetzt. Für Florenskij dient der Westen nicht so sehr als Folie für seine eigene Sicht der Orthodoxie, sondern er entwickelt eine autonome und authentische östlich geprägte Philosophie, die durch die Betonung einer synthetisierenden All-Umfassendheit das Kant'sche Wahrheitsverständnis als ungenügend kritisiert.9
Eine wichtige philosophische Strömung, die in der frühen Emigration nach der Oktoberrevolution auftrat und zunächst in der Sowjetunion keinen Widerhall fand (aber nach deren Ende in Russland eine gewisse Rezeption erfahren hat), ist das Eurasiertum. Diese Ideologie besagt, dass Russland aufgrund seiner geographischen, klimatischen, historischen und auch religiösen Besonderheiten weder zu Europa noch zu Asien gehöre, sondern eben "Eurasien" sei, ein besonderer Raum zwischen beiden Kontinenten. Im Anschluss an diese Vorstellung wurde ein Geschichtsmodell entwickelt, das von den tatarischen Eroberungen bis zur Oktoberrevolution die Entwicklung Russlands in die Vorstellung von seiner eurasischen Besonderheit und Bestimmung integrierte. Das Eurasiertum, das in der Tradition der Slawophilen des 19. Jahrhunderts steht, ist im Kontext anderer zivilisationskritischer Geschichts- und Kulturmodelle im Europa des 20. Jahrhunderts zu verstehen, und ähnliche Gedanken wurde auch später immer wieder geäußert – die Huntington'sche These vom clash of civilizations ist letztendlich ebenfalls eine Variation dieser Vorstellung.
Die Rezeption auf dem Balkan
Die ablehnende Haltung dem Westen gegenüber, die sich bei den Slawophilen finden lässt, hat auch über Russland hinaus Verbreitung gefunden. Vor allem sind hier die orthodoxen Balkankirchen zu nennen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts haben sich die Gebiete, in denen sie verbreitet sind, nach und nach aus dem Osmanischen Reich gelöst und neue Nationalstaaten gebildet. So entstanden in Griechenland, Serbien, Bulgarien und Rumänien unabhängige Kirchen, die in der Regel eine starke nationale Ausrichtung hatten.10 Vor allem die Balkanslawen, also Serben und Bulgaren, waren von Russland während der Türkenherrschaft unterstützt worden, unter anderem indem Studenten aus diesen Kirchen an russischen theologischen Einrichtungen studieren konnten. So gelangten auch die Ideen der Slawophilen nach Serbien und nach Bulgarien. Nach 1917 war vor allem Belgrad ein wichtiges Ziel für die russische Emigration, die sowohl in politischer als auch in kirchlicher Hinsicht sehr konservativ war. Diese Einflüsse waren für die entstehende serbische Theologie von großer Bedeutung: Es entstand ein russisches Priesterseminar, und die 1920 gegründete theologische Fakultät an der Universität Belgrad war in den ersten Jahren ihres Bestehens von russischen Professoren geprägt.11
Für die serbische Theologie des 20. Jahrhunderts sind zwei Namen zu nennen, Bischof Nikolaj Velimirović (1881–1956) und der Mönch Justin Popović (1894–1979). Während für Velimirović, der 1919 Bischof wurde, die Zeit des öffentlichen Wirkens vor allem zwischen den Weltkriegen lag, hat Popović seine Tätigkeit erst später und abseits der Öffentlichkeit entwickelt. Beide standen nach 1945 unter dem Druck der kommunistischen Behörden; Velimirović kehrte nicht mehr nach Jugoslawien zurück und verbrachte seine letzten Jahre in den USA; Popović wurde von der Universität entfernt und lebte viele Jahrzehnte in einem entlegenen Frauenkloster in Serbien. Beide haben ihre theologischen Gedanken in deutlicher Abgrenzung zum Westen konstruiert.
Für Bischof Velimirović, der kein ausgearbeitetes theologisches System hinterlassen hat, sondern vor allem durch zahlreiche Gelegenheitsschriften wirkte, lag der Schwerpunkt auf Serbien als auf einem Volk, das geographisch zwischen Ost und West liegt (wobei er mit dem "Osten" die asiatischen Nationen und Religionen meinte).12 Im einfachen serbischen Bauern sieht er das religiöse Ideal verwirklicht, das serbische Bauernhaus sei die Grundform des orthodoxen Klosters, und in der serbischen Orthodoxie sei das Gleichgewicht zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen so ideal verwirklicht, wie das auch in Jesus Christus der Fall gewesen sei. Der Westen hingegen habe den Fehler begangen, das menschliche Element überzubetonen, während der (asiatische) Osten nur noch das Göttliche sehe und damit die menschliche Dimension völlig vernachlässige. Die Vorstellung, die Orthodoxie sei die ideale Religion zwischen zwei Extremen, hier zwischen Asien und Europa, sonst häufig zwischen dem Katholizismus und dem Protestantismus, wird wieder deutlich.
Velimirović hat dieses theoretische Konzept im gewissen Sinne in die Praxis umgesetzt: Zwischen den beiden Weltkriegen hatte in Serbien die Bewegung der "Bogomoljcen" (etwa: "Beter zu Gott") große Bedeutung, eine orthodoxe spirituelle Laienbewegung, die viele Tausend Mitglieder umfasste. Sie war durch evangelisch-freikirchliche Gruppen, besonders durch die Nazarener, in die Vojvodina gebracht worden und umfasste zunächst vor allem deutschsprachige Bewohner dieser ethnisch gemischten Region, dann aber auch Serben, die Gewohnheiten wie gemeinsame Bibellektüre, Gesang und Gebet übernahmen und von ihren orthodoxen Priestern regelmäßige Predigten verlangten.13 Da diese Erscheinungen von der orthodoxen Kirche und ihren Vertretern mit Misstrauen betrachtet wurden, konvertierten viele Serben zu den Nazarenern. Als Reaktion bildeten sich die Bogomoljcen, die innerhalb der orthodoxen Kirche agierten, auch wenn sie immer Kritik ausgesetzt waren. Erst als Bischof Velimirović von der Kirchenleitung zum Beauftragten für die Bogomoljcen ernannt wurde, stabilisierte sich die Situation. Unter seiner Leitung entstand in der Stadt Kragujevac ein Zentrum, das sich durch zahlreiche Publikationen hervortat. Kurse für Laienprediger wurden institutionalisiert und die Bewegung wurde näher an die Kirche herangeführt. Fast jährlich fanden große Versammlungen der Bogomoljcen (sabori) statt. Durch diese Bewegung kam es auch zu einer Belebung des serbischen Mönchtums; viele der Mitglieder traten in Klöster ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die Bogomoljcen jedoch an Bedeutung.
Die Ideologie der Bogomoljcen war nicht so sehr durch ihre Sicht des Westens geprägt als vielmehr durch ihre (positive) Wertung der serbischen Traditionen. Sie war ein erfolgreicher Versuch, westliche Frömmigkeitsformen in einer Kirche der östlichen Tradition einzuführen. Man kam so einem Bedürfnis der Gläubigen entgegen, das sie aufgrund der Begegnung mit den Nazarenern entwickelt hatten. Der Westen war hier jedoch nicht so sehr explizit positives Vorbild, sondern gab eher einen Impuls für die Entwicklung dieser Frömmigkeitspraxis in der Orthodoxie. Doch bleiben solche Erscheinungen eher die Ausnahme, auch wenn es etwa in Griechenland mit der Bewegung "Zoi" ein ähnliches Phänomen gab.
Der andere genannte Theologe, Justin Popović, wirkte unter völlig anderen Umständen. In der Zwischenkriegszeit wurde er zur Ausbildung in verschiedene Länder entsandt, wobei seine Studien in Griechenland sicher den größten Einfluss auf ihn ausübten.14 Popović wurde zu einem bekannten Dogmatiker an der Belgrader Universität, musste aber nach dem Machtantritt der Kommunisten die Universität verlassen und zog sich in ein Kloster zurück. Hier wirkte er vor allem durch seine Schriften (die zum Teil im Ausland, zum Teil postum erschienen) und noch mehr durch einen Kreis von Schülern, jungen Männern, die er spirituell betreute und die in der kommenden Zeit Professoren an der Belgrader Theologischen Fakultät und/oder Bischöfe wurden. Sie stellen heute die wichtigsten und aktivsten Mitglieder des Episkopats in der serbischen Orthodoxie dar.15
Die Perspektive von Popović und vieler seiner Schüler ist von einer radikal negativen Sicht des Westens geprägt. Der Westen ist danach gottlos und häretisch; er ist grundsätzlich unfähig, christlich zu sein, weil die westlichen Kirchen Grundsätze des gemeinsamen christlichen Erbes verworfen hätten. Es zeigen sich im Grundsatz die Argumentationsmuster, die bereits in früheren Jahrhunderten gegenüber dem Westen zu finden sind. In der Orthodoxie hingegen habe dieses Erbe immer Bestand gehabt und existiere heute noch. Dieser Logik folgend hat einer der Schüler von Popović ein Lehrbuch der Patrologie veröffentlicht, in dem laut Publikationsplan die westlichen Kirchenväter bis zum 11. Jahrhundert und die östlichen Väter bis zum 20. Jahrhundert behandelt werden sollen.16 Somit sei die einzige Erlösungsmöglichkeit für den Westen, zur Orthodoxie zurückzukehren. Tue er das nicht, sei er dem Untergang geweiht, trotz aller vermeintlichen Stärken und Vorteile.
Solche Überzeugungen finden sich auch heute noch in der serbischen Theologie und in der öffentlichen Meinung. Gerade politische Ereignisse und Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, etwa die jugoslawischen Zerfallskriege oder die Auseinandersetzungen um das Kosovo, werden in dieser Perspektive gedeutet. Der serbische Bischof Artemije Radosavljević (*1935), der für das Bistum Kosovo zuständig war, aber auch andere Würdenträger haben in zahlreichen Äußerungen immer wieder darauf hingewiesen, dass die serbische Position die wahre sei und deswegen nicht unterliegen könne, trotz der offensichtlichen militärischen Übermacht der NATO. Der technischen Überlegenheit des Westens wird die spirituelle der Orthodoxie entgegen gestellt. Diese Interpretation hat daher nicht nur Relevanz für Kirche und Theologie, sondern auch für die Gesellschaft im Ganzen.
Der Osten im Westen
Die russische Theologie hat in Russland mit der Revolution von 1917 und den darauf folgenden Ereignissen einen Abbruch erlitten, doch wurde sie wenigstens ansatzweise im Ausland weitergeführt. Viele tausend Russen verließen das Land in den Jahren nach der Errichtung des Sowjetregimes, oft begleitet von ihren Priestern und Bischöfen, und viele weitere religiöse Intellektuelle wurden von der neuen Regierung des Landes verwiesen. Es entstanden Zentren der russischen orthodoxen Theologie im Ausland; zunächst in Belgrad und Paris (neben anderen Orten wie Berlin und Sofia), später, nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in den Vereinigten Staaten. Zudem bildete sich eine eigenständige orthodoxe Hierarchie heraus, die so genannte "russische Auslandskirche". Die in dieser Kirche organisierten russischen Hierarchen im Exil erwiesen sich als besonders konservativ, sie vertraten eine monarchistische Einstellung und lebten isoliert von den aufnehmenden Gesellschaften in Westeuropa und Nordamerika. Erst 2007 schloss sich die Auslandskirche wieder dem Moskauer Patriarchat an. Die beiden akademischen Einrichtungen, die hier besonders zu nennen sind (und die nicht von der Hierarchie der Auslandskirche abhingen), das Institut Saint-Serge in Paris und St. Vladimir's Seminary in New York, trugen durch ihre Kontakte im und zum Westen zu einer besonderen Form der orthodoxen Theologie bei.
Die Einrichtung in Paris wurde 1924 gegründet. Der Pariser orthodoxe Metropolit wollte eine Institution zur Ausbildung von Priestern einrichten, die angesichts der großen Zahl der in Paris und Frankreich lebenden Russen benötigt wurde. Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich rasch eine der bedeutendsten orthodoxen Lehranstalten, an der die berühmtesten Theologen ihrer Zeit wirkten. Hier seien nur Sergij Bulgakov (1871–1944), Georges Florovsky, Nicolas Afanassieff (1893–1966), Alexander Schmemann (1921–1983) und John Meyendorff (1926–1992) genannt. Die orthodoxen Theologen beeinflussten einerseits die katholische Theologie in Frankreich (besonders die Nouvelle Théologie ist hier zu nennen), doch andererseits waren sie gezwungen, sich mit dem Denken der westlichen Theologie auseinanderzusetzen. Bei Bulgakov geschah das sehr stark durch ökumenisches Engagement gegenüber den Anglikanern, das ihn sogar dazu brachte, bei einem ökumenischen Treffen die Interkommunion vorzuschlagen. George Florovsky, der sich auf die Kirchengeschichte konzentrierte, engagierte sich vor allem in der multilateralen Ökumene und war über viele Jahrzehnte der wohl bedeutendste und aktivste orthodoxe Theologe in der ökumenischen Bewegung.17
Von zentraler Bedeutung für die orthodoxe Theologie war jedoch Florovskys Beitrag zur Überwindung der "Schultheologie", womit die von den westlichen Denkmodellen geprägte orthodoxe Theologie gemeint war, wie sie in den theologischen Schulen und Lehrbüchern überall in der orthodoxen Welt verbreitet war. Florovsky postulierte eine Rückkehr zur Theologie der (Kirchen-)Väter, zum ersten Mal deutlich und mit großem Echo geäußert beim Kongress orthodoxer Theologen 1936 in Athen.18 Er kritisierte die Übernahme der Modelle westlichen theologischen Denkens scharf, weil sie nicht mehr kirchlich seien, sondern eine eigene Autonomie entwickelt hätten. Diese Vorstellung von der "Pseudomorphose"19 bzw. "babylonischen Gefangenschaft" der orthodoxen Theologie stieß auf große Zustimmung und beeinflusste das moderne theologische Denken in den östlichen Kirchen stark. Bemerkenswert ist, dass durch seine Forderung nach der Schaffung einer lebendigen Tradition, die sich nicht auf die Wiederholung von überkommenen Sätzen und Formeln beschränkt, eine ökumenische Perspektive in der orthodoxen Theologie entstanden ist; Florovsky konnte seine ökumenischen Aktivitäten gerade wegen dieser seiner theologischen Position entwickeln, da sie auf einer Hermeneutik basiert, die die Bedingungen für das theologische Gespräch über die theologischen Differenzen zu anderen Traditionen ermöglicht.
Einer der wichtigsten Schüler von Florovsky ist der griechische Theologe Ioannis Zizioulas (*1931), der lange Jahre in Glasgow lehrte und 1986 zum Metropoliten ernannt wurde. Zizioulas ist einer der wichtigsten Vertreter einer "eucharistischen Ekklesiologie", wie sie schon vor ihm von Nicolas Afanassieff entwickelt worden war.20 Danach wird Kirche immer als Kirche an einem konkreten Ort verstanden, als Eucharistie feiernde Gemeinde unter einem Bischof. In einer solchen Perspektive spielen die Gesamtkirche und auch die Frage nach einem päpstlichen Primat, die ja gerade zwischen der Orthodoxie und der katholischen Kirche immer strittig ist, keine zentrale Rolle mehr. Ein weiterer, aber mit der Ekklesiologie zusammenhängender Akzent in seiner Theologie betrifft die Anthropologie; durch die Gemeinschaft mit anderen wird der Mensch zur Person, die nur in Kontakt, im Dialog existiert. Zizioulas sieht im Westen genau das als Manko, der Gemeinschaftsaspekt werde vernachlässigt, die Person durch den Menschen (im oben genannten Sinne) ersetzt. Dem liegt zwar ein Stereotyp zugrunde, dennoch lässt sich diese Sichtweise grundsätzlich mit einer positiven Haltung gegenüber dem westlichen Christentum verbinden, das gleichsam die Chance hat, zur ursprünglichen Gestalt von Kirche, Eucharistie und Gemeinschaft zurückzukehren.
Neben diesen für den ökumenischen Dialog offenen Modellen gibt es nach wie vor auch theologische und philosophische Ansätze im Osten, die den Westen und seine Modelle stark ablehnen. Aus dem Bereich der griechischen Theologie ist ein weiterer Grenzgänger zu nennen: Ioannis (John) S. Romanidis (1927–2001). Er wuchs in den USA auf, wirkte aber als Professor vor allem in Griechenland. Auch Romanidis war stark ökumenisch engagiert. Für ihn spielte der grundsätzliche kulturelle Unterschied zwischen dem christlichen Osten und dem Westen eine zentrale Rolle, auf den auch die theologischen Unterschiede zurückgeführt werden konnten. Wie viele andere orthodoxe Theologen, so sah auch er in der mystischen Theologie des Gregorios Palamas (1296–1359)[]die Orthodoxie ideal verwirklicht. Das basierte bei Romanidis auf einer starken Ablehnung von Augustinus (354–430), in dem er die Fehlentwicklung des Westens gleichsam personifiziert sah. Durch die hesychia, die kontemplative Ruhe, könne der Mensch zur Anschauung (theoria) Gottes gelangen. Dabei handelt es sich nicht um eine intellektuelle Fähigkeit, sondern um das Ergebnis eines mystischen Strebens.
Christos Yannaras (*1935) ist ein griechischer Theologe und Philosoph, der durch seine ins Englische und Deutsche übersetzten Schriften auch im Westen bekannt ist. Yannaras hat immer versucht, die Unterschiede zwischen der westeuropäischen und der griechischen Philosophie zu betonen. Das geschieht auf der Grundlage intensiver Studien und guter Kenntnis der westlichen Philosophie (wie viele bekannte griechische Philosophen und Theologen hat auch Yannaras, der über Martin Heidegger (1889–1976) promovierte, in Bonn studiert). Diese Unterschiede seien kulturbildend, so dass sich aus ihnen auch unterschiedliche Lebensstile ergeben. Ähnlich wie Zizioulas hebt er auf das Verständnis des Menschen als Person ab, den er in scharfem Gegensatz zu einem westlichen Individualismus sieht, der eng mit dem Rationalismus verbunden ist. Die Differenzen seien also nicht so sehr metaphysischer oder theoretischer Natur, sondern führen zu einer jeweils anderen Praxis. Daraus ergibt sich auch eine scharfe Kritik an westlichen oder als westlich verstandenen Werten wie den Menschenrechten – sie wird auch von anderen orthodoxen Kritikern des Westens geteilt. Für Yannaras lassen sich zahlreiche negative Erscheinungen der Welt auf die Grundposition des Westens zurückführen, insbesondere die religions- und existenzbedrohenden Phänomene wie Entkirchlichung, Atheismus oder sorgloser Umgang mit der Schöpfung. Wie für viele andere Kritiker des Westens ist auch für ihn die orthodoxe Kirchlichkeit ein Hort der Bewahrung der echten, von Gott gewollten Menschlichkeit.
In der Philosophie in Russland ist Sergej Choružij (*1941) zu nennen, der sich als Mathematiker auch mit philosophischen Fragen beschäftigte und intensiv die ostchristliche mystische Tradition des Hesychasmus studierte. In dieser Richtung, die mystische Praxis mit einer Erfahrung Gottes verknüpft, sieht Choružij einen authentischen Ausdruck ostkirchlicher Theologie und Askese. Sie stellt einen Gegenakzent zu westlichen Entwürfen dar, die stark durch ihren rationalen Aspekt geprägt seien. Er bezieht sich auf die aus der hesychastischen Tradition stammende Vorstellung von den Energien und versucht sie interdisziplinär, unter Einschluss von Psychologie, Linguistik und anderen Wissenschaften, zu erforschen. Für Choružij ergibt sich so eine neue Akzentuierung der Anthropologie. Sein System ist dem Westen gegenüber nicht so ablehnend wie etwa das von Yannaras, betont aber doch die Besonderheit der ostkirchlichen philosophischen Tradition.21
Es zeigt sich, dass viele der Vorwürfe an den Westen im Lauf der Geschichte wiederkehren oder nur geringfügig modifiziert werden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie einen grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden kirchlichen und theologischen Traditionen kennen. Dem östlichen mystischen, wahren, innigen und in gewisser Weise emotionalen Ansatz wird ein westlicher rationaler, nüchterner und kalter gegenüber gesetzt. Viele Phänomene des gesellschaftlichen Seins werden damit in Verbindung gebracht und erklärt. Dazu gehört auch der Topos, dass westliche Theologen den Kontakt zu ihrem Gegenstand, zu Gott, verloren hätten, weil sie nicht mit Liebe und Ehrfurcht an in herangingen, sondern mit wissenschaftlicher Distanz. Der Grundirrtum des Westens sei daher also nicht in strittigen Einzelaussagen zu finden, sondern in dieser prinzipiell falschen, ungeeigneten Art der Theologie.
Viele dieser Beispiele zeigen aber auch, dass die Begriffe "Osten" und "Westen" nur noch relativ verstanden werden können. Orthodoxe Einrichtungen in Frankreich und den USA gehören zur östlichen Kirche, aber zugleich zum Westen. Die Vorstellung von der eucharistischen Ekklesiologie ist in der katholischen Kirche breit rezipiert worden; das lässt sich an den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils ersehen: Afanassieff ist der einzige orthodoxe Theologe, der namentlich in den Konzilsakten genannt wird. Wie einst die westlichen Modelle den Osten beeinflusst haben, so geschieht das jetzt auch umgekehrt, oder besser gesagt: Ost und West lassen sich nicht mehr so einfach unterscheiden.
Zugleich ist aber auch festzustellen, dass in der modernen orthodoxen Theologie die palamitische Tradition größeres Gewicht erlangt hat, nachdem Palamas über Jahrhunderte keine besondere Bedeutung in der Orthodoxie hatte. Offensichtlich ist in ihr ein Element enthalten, das für die orthodoxe Theologie identitätsbildend wirkt. Der Palamismus ist eine theologische Lehre der griechischen Tradition, die vom Westen nicht rezipiert wurde, zumal sich dort die Scholastik durchgesetzt hatte. Er unterscheidet sich also von allen Prinzipien westlichen theologischen Denkens und ist damit ein Spezifikum des christlichen Ostens. Zugleich kommt er einem eher auf die Erfahrung konzentrierten Verständnis von Theologie entgegen. Es wird sich zeigen müssen, ob er die Fähigkeit besitzt, sich als ein Merkmal der orthodoxen Theologie rezipieren zu lassen, das als neues und weiteres Unterscheidungskriterium zum Westen fungieren kann.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass auch eine Beziehung zwischen den Bildern, die der Westen und der Osten voneinander haben, und den historischen Ereignissen besteht, aus denen diese Bilder konstruiert werden. Es handelt sich um Konstrukte, da die historische Wirklichkeit nicht mehr eingeholt werden kann, aber sie sind eben nicht willkürlich, sondern müssen aus vorhandenem Material konstruiert werden. Die Haltungen und Aktionen des Westens gegenüber dem Osten waren im Lauf der Geschichte von solcher Art, dass es nicht schwierig war, dieses Bild von Bedrohung und Machtwillen zu malen. Es ist zwar nicht das einzig mögliche, aber es ist eben auch nicht ohne Grundlage in der Geschichte. Für die Kirchen und Theologien wäre es eine wichtige Aufgabe, ihre gegenseitigen Beziehungen daraufhin zu überprüfen, ob sich nicht auch Material für andere Konstrukte finden lässt.