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Einleitung
Europäische Einigungspläne wurden seit dem Zeitalter der Religionskriege von fürstlichen Beratern, Philosophen und Publizisten wiederholt als Mittel der Friedenswahrung propagiert.1 Im 19. Jahrhundert griffen Teile der Friedensbewegung den Topos Europa auf. Der französische Schriftsteller Victor Hugo (1802–1885) etwa prophezeite bei der Eröffnung der Pariser Weltausstellung 1867 die Geburt der "Vereinigten Staaten von Europa" für das 20. Jahrhundert.2 Eine große Anziehungskraft entfaltete der Europagedanke im 19. Jahrhundert trotz seiner politischen Manifestation im europäischen Konzert der Großmächte jedoch nicht.3 Erst in der Zwischenkriegszeit formierte sich auf transnationaler zivilgesellschaftlicher Ebene eine regelrechte Bewegung, die aus einer Vielzahl unterschiedlicher Netzwerke, Komitees und Publikationen bestand, die sich der Förderung des europäischen Gedankens in Politik, Wirtschaft und Kultur verschrieben hatten.4
Dass das Erstarken eines europäischen Bewusstseins nach dem Ersten Weltkrieg und die führenden Protagonisten der europäischen Einigungsbewegung zwischen 1918 und 1939 einer breiten Öffentlichkeit und zumal der jungen Generation bisher kaum bekannt sind, liegt nicht an der auf diesem Gebiet inzwischen fortgeschrittenen Forschung. Vielmehr werfen der Aufstieg der faschistischen und kommunistischen Diktaturen in Europa und die durch sie in Gang gesetzte Eskalation der Gewalt einen Schatten auf dieses Zeitalter. Doch selbst wenn der Friede in Europa 1919 nicht recht einkehren wollte, erarbeitete die europäische Politik ab 1924 reelle Möglichkeiten für eine Aussöhnung, die bis 1930 unter dem Signum einer europäischen Verständigung standen und von der transnationalen europäischen Bewegung gefördert wurden. Die Bedeutung der vor allem in demokratischen Zirkeln (liberale, christliche und sozialistische Demokraten) der geistigen, wirtschaftlichen und parlamentarischen Eliten verankerten europäischen Bewegung liegt daher zum einen in ihrem tragischen Scheitern im Zeitalter der Massenideologien und staatlicher Gewaltherrschaft. Zum anderen brachte die Bewegung Diskurse, Ideen und Netzwerke hervor, die nach dem Zweiten Weltkrieg teils von den damaligen Akteuren wieder aufgegriffen, teils von der Nachkriegsgeneration weiter entwickelt wurden und die bis in die Gegenwart wirken. In der Auseinandersetzung mit dem "europäischen Problem" wurden nach dem Ersten Weltkrieg Programme und Initiativen geformt, die aus der internationalen Wirtschaftstheorie sowie den Erfahrungen mit dem Völkerbund erwuchsen und die während des Zweiten Weltkriegs vom europäischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und im Kontext des Kalten Kriegs weitergedacht wurden, ehe die hohe Politik sie schließlich (wieder) aufgriff und in die politische Realität übersetzte.
Gegenüber älteren, bis heute fortwirkenden Geschichtsbildern sind zwei grundlegende Erkenntnisse vorab festzuhalten:
1. Die Europabewegung zwischen den Kriegen bestand nicht allein aus der Paneuropa-Union des sich selbst in seinen autobiographischen Werken in den Mittelpunkt stellenden, Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972)[],5 sondern aus einem Spektrum von Komitees und Netzwerken mit diversen weiteren Persönlichkeiten.6 Hierzu zählten
- das deutsche Komitee für europäische Verständigung (Wilhelm Heile, Alfred Nossig) bzw. sein französisches Pendant, das Komitee für europäische Kooperation (Émile Borel) sowie schließlich die Fédération des Comités pour la coopération européenne als Dachverband bzw. Koordinationsbüro mit Sitz in Paris;7
- die Union douanière européenne (UDE): Yves Le Trocquer, Charles Gide, Joseph Caillaux, Edgar Stern-Rubarth, Norman Angell;
- die Mitteleuropäische Wirtschaftstagung (Elemér Hantos);
- der skandinavische Kreis um den dänischen Arzt Christian Frederick Heerfordt;
- der Europäische Kulturbund (Karl Anton Rohan);
- das Deutsch-Französische Studienkomitee (Pierre Vienot, Émile Mayrisch)8
- sowie das Wirtschaftssekretariat des Völkerbunds (Arthur Salter).9
Hinzu kamen Kontakte zwischen meist linkskatholisch ausgerichteten Parteipolitikern sowie international föderierten Gewerkschaften.10 Einige pazifistische katholische Politiker trafen sich bereits im Februar 1917 im Rahmen der Internationalen Katholischen Union in der Schweiz. Trotz erheblicher Differenzen hinsichtlich der Interpretation des Kriegsausbruchs waren sie sich darin einig, dass sie ein Ende des Kriegs wünschten.11 Nach dem Krieg diente die 1921 von dem Sozialreformer Marc Sangnier (1873–1950) gegründete Internationale Démocratique als ein Ort der Begegnung zwischen linkskatholischen und liberalen Politikern.12 Auch kirchennahe Zirkel wie der Friedensbund Deutscher Katholiken, die deutsch-französischen Katholikenkongresse 1928 und 1929 sowie der Katholische Akademische Verband waren ein Medium der Annäherung.13 In letzterem lernten sich z.B. der spätere deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967)[] und der französische Außenminister Robert Schuman (1886–1963) kennen,14 die nach 1945 die europäische Einigung auf den Weg bringen sollten. Über das politische katholische Milieu hinaus fehlt es noch an Untersuchungen mit transnationaler Perspektive, die der Entwicklung des europäischen Gedankens in Parteiföderationen nachgehen. Auch eine Reihe von liberalen, sozialistischen und konservativen Zeitschriften diente Intellektuellen, Politikern und Wirtschaftvertretern zum Austausch über Europa.15
2. Der Europagedanke wies durchaus widersprüchliche Facetten auf und speiste sich aus unterschiedlichen Traditionen, so dass es jeweils einer genealogischen Einordnung bedarf.16 Der Europagedanke ersetzte nicht einfach den Pazifismus des 19. Jahrhunderts. Er entwickelte sich zunächst bei kulturpessimistischen Intellektuellen, die einen moralischen und zivilisatorischen Niedergang befürchteten. Demgegenüber formulierten liberale Ökonomen und Wirtschaftslenker (nicht nur) aus kleineren europäischen Staaten – u.a. der Schweiz, Belgien, den Niederlanden, der Tschechoslowakischen Republik und Ungarn – vor dem Hintergrund der fortgesetzten Wirtschaftsmisere nach dem Ersten Weltkrieg pragmatische Konzepte für einen europäischen Markt.17 Auch der gleichberechtigte Zugang zu Kolonien war Bestandteil der Forderungen und Hoffnungen von Verfechtern der europäischen Einigungsidee aus denjenigen Ländern, die keine Kolonien (mehr) besaßen.18 Weiterhin begegnet uns der Europagedanke als symbolische und politische Brücke der Verständigung vor allem zwischen Frankreich und Deutschland. Daneben lebte der hegemoniale Mitteleuropagedanke deutscher Prägung zwischen den Kriegen fort und schlug sich in den dreißiger Jahren in der deutschen Großraumpolitik und dem Drang nach Osten nieder.19 Demgegenüber stand vor Beginn des Zweiten Weltkriegs ein nichthegemonialer Europagedanke, der in Frankreich und Großbritannien Anhänger fand, jedoch nicht zum politischen Durchbruch gelangte.
In Ostmitteleuropa hatte der Europagedanke schon aufgrund der Grenzziehungen seitens der Alliierten und der daraus resultierenden Minderheitenprobleme, die Zwistigkeiten zwischen den Regierungen säten, einen schweren Stand. In Ungarn etwa bildete sich um den Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Staatsoberhaupt Miklós Horthy (1868–1957) spontan eine militaristisch gefärbte, revisionistische Bewegung ("Turanisten"), die die Größe des altungarischen Reichs wieder herstellen wollte. Aus dem rumänischen Siebenbürgen stammende Ungarn um István Bethlen (1874–1946), der von 1921 bis 1933 das Amt des Premierministers bekleidete, entwickelten Autonomiepläne für eine Art "Ausgleich" zwischen Siebenbürgen und Rumänien (entsprechend des Ausgleichs zwischen Ungarn und der Habsburgermonarchie von 1867), der die Grundlage für eine polnisch-ungarisch-rumänische Föderation bilden sollte. Diese sollte nicht zuletzt das Ziel verfolgen, Spannungen in Ostmitteleuropa abzubauen und eine gemeinsame Verteidigung gegen Russland zu sichern.20 Vereinzelte gesamteuropäische Föderationspläne etwa die des ungarischen Schriftstellers und Esperantisten József Pasztor (1873–1942) oder des ungarischen Reformpolitikers Oskár Jászi (1875–1957) fanden kaum Widerhall.21 In Polen überwog nach 1918 zunächst die Freude über die wieder gewonnene nationale Freiheit sowie das Bedürfnis nach Abgrenzung und nationaler Größe. Erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre kursierten hier föderative Ideen mit europäischer Dimension.22 Im Zuge der Wirtschaftskrise sowie der aufziehenden doppelten Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Sowjetunion entstanden zahlreiche polnische Föderationspläne für Ostmitteleuropa, die sowohl vom Sicherheitsmotiv geleitet waren als auch hegemoniale Vorstellungen mit Polen als Führungsmacht transportierten.23
Der Europagedanke variierte also je nach Perspektive und zeitlichem, nationalem und intellektuellem Kontext erheblich. Im Folgenden werden zunächst die Rahmenbedingungen für den Transfer des Europagedankens nach dem Ersten Weltkrieg diskutiert, dann die Netzwerke und die Charakteristika der Europagedanken der Zwischenkriegszeit näher erö
Rahmenbedingungen für Transfer und Umsetzung des Europagedankens nach dem Ersten Weltkrieg
Die Rahmenbedingungen für den Transfer von Europagedanken sowie die Bildung von Netzwerken und die Zusammenarbeit innerhalb derselben schwankten stark. Gründe dafür sind in den Verwerfungen zu suchen, die durch den Ersten Weltkrieg, den nach seinem Ende zunächst fortgesetzten Wirtschaftskrieg, die Ruhrbesetzung (1923) und später die Wirtschaftskrise (1929–1939) sowie den Aufstieg des Faschismus ausgelöst wurden und die den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaften in unterschiedlicher Weise einschränkten. Das größte Hindernis für die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins bildete die nationalistische Mentalität, insbesondere die weit verbreitete Vorstellung einer deutsch-französischen Erbfeindschaft. In den dreißiger Jahren traten die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten in den Diktaturen und die Neigung der faschistischen Regime zur gewaltsamen Konfliktlösung hinzu. Dennoch führten die innereuropäischen Konflikte, insbesondere der Erste Weltkrieg und die Ruhrkrise, zu einer temporären und partiellen Überwindung dieser Barrieren bei einem sich zwar in der Minderheit befindlichen, aber einflussreichen Teil der geistigen, wirtschaftlichen und politischen Eliten.
Ein Krisenbewusstsein formierte sich unter Intellektuellen bereits vor und während der "Urkatastrophe" des Ersten Weltkriegs. Während Oswald Spengler (1880–1936) in seinem 1918 veröffentlichten Werk Der Untergang des Abendlandes den zyklischen Auf- und Abstieg der Kulturen und insbesondere den Niedergang der westlichen (westeuropäisch-amerikanischen) Zivilisation prognostizierte und andere die moralische Verwerflichkeit des technischen Fortschritts kritisieren, die sie im Krieg manifestiert sahen,24 begaben sich politische Schriftsteller bereits auf die Suche nach alternativen Ordnungsmodellen für Europa. Der Brite Goldsworthy Lowes Dickinson (1862–1932) beispielsweise machte 1916 die Regellosigkeit des europäisch dominierten Staatensystems und die konkurrierenden europäischen Imperialismen für den Krieg verantwortlich. Sein Landsmann, der Ökonom John Hobson (1858–1940), suchte bereits 1915 nach einer Lösung, um die europäische Anarchie zu beenden.25 Romain Rolland (1866–1944)[], französischer Pazifist im Genfer Exil, prophezeite im Dezember 1916, dass sich eines Tages ein vereintes Europa bilden werde, und im neutralen Holland organisierte der Publizist Nico van Suchtelen (1878–1949) eine Konferenzserie zum Thema "Die europäische Föderation", die zahlreiche Publikationen hervorbrachte.26 Van Suchtelen war der Auffassung, dass sich die Ziele des Pazifismus nur im Rahmen der Vereinigten Staaten von Europa in die Realität umsetzen ließen.27 Am Ende des Kriegs brachten beispielsweise der Begründer und Präsident der Fiat-Aktiengesellschaft Giovanni Agnelli (1866–1945) und der Ökonom Attilio Cabiati (1872–1950) den Gedanken einer europäischen Föderation als Lösung für die innereuropäischen Konflikte in die Diskussion.28
Doch der Kriegseintritt der USA und das Unvermögen der europäischen Nationen, nach Jahren des Zermürbungs- und Propagandakriegs zu einer konstruktiven Politik zurückzukehren, wiesen dem US-Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) die Schlüsselrolle bei der Neuordnung Europas zu. Dieser setzte seine Hoffnungen auf einen nach Universalität strebenden Völkerbund mit US-amerikanischer Beteiligung. Dieses Konzept scheiterte allerdings bereits im Kern an der Nichtratifikation des Versailler Friedensvertrags, der auch die Völkerbundsatzung enthielt, durch den amerikanischen Senat. Der neuen Ordnung fehlten somit wichtige Bürgschaften: Die USA traten dem Völkerbund nicht bei, lehnten eine zusätzliche Sicherheitsgarantie für Frankreich gegen eine von Paris befürchtete neue deutsche Aggression ab und schlossen einen Separatfrieden mit Berlin. Infolgedessen weigerte sich auch die britische Regierung, die in Aussicht gestellte Allianz mit Frankreich in Kraft zu setzen, und es verschärfte sich das Sicherheitsdilemma für alle Nachbarstaaten des Deutschen Reichs, denen bei Kriegsende Territorien mit teilweise deutschsprachiger Bevölkerung zugesprochen worden waren: Polen, Frankreich, Belgien, Dänemark und die Tschechoslowakische Republik. Europa war in dieser Phase der Unsicherheit weiterhin "ohne Frieden", wie der ehemalige italienische Premierminister Francesco Nitti (1868–1953) 1922 in einem vielbeachteten Buch schrieb.29 Die französische Regierung fürchtete darum, den Frieden gegen das Deutsche Reich durchsetzen zu können und setzte alles daran, ihre Sicherheitsposition zu verbessern. Doch nachdem das Genfer Protokoll, in dem Frankreich versucht hatte, das Sicherheitssystem des Völkerbunds durch einen echten Beistandsautomatismus zu stärken, 1924 an der Ablehnung Großbritanniens gescheitert war, entschied sich die französische Regierung, es mit einer Verständigung mit dem einstigen Gegner zu versuchen, wobei schließlich die Idee "Europa" in den Vordergrund rückte.
Auf deutscher Seite trat "Europa" während des Weltkriegs lediglich als hegemoniales Programm unter der Chiffre "Mitteleuropa" hervor. Der Kopf der Liberalen, Friedrich Naumann (1860–1919), konzipierte es in seinem Buch Mitteleuropa wirtschaftsliberal, mit Deutschland als Führungsmacht eines großen transnationalen Wirtschaftsraums, dessen zweite Hauptmacht die Habsburgermonarchie sein sollte. Sein populäres Buch spielte eine große Rolle in der deutschen Debatte über die Kriegsziele, fand aber nicht den Zuspruch der radikaleren, annexionistischen Reichsführung.30 Jenseits der deutschen Grenzen erfuhr das Buch eine kontroverse Aufnahme: In der publizistischen Debatte in Ungarn z.B. wurde es von einigen als das "Trojanische Pferd des traditionellen deutschen Imperialismus", von anderen als wichtiger Beitrag zur Befreiung Europas von seinen internen, das Wachstum hemmenden Handelsbarrieren gesehen.31 Die Chance für die Konstituierung eines neuen Europa-Konzepts, sozusagen befreit vom Hegemonialstreben, erwuchs paradoxerweise aus den Zwängen, die die alliierten Reparationsforderungen dem Reich auferlegten. Die Reichsregierung wusste, dass sie die notwendigen Reparationstransfers langfristig nur würde erbringen können, wenn die internationale Wirtschaftsordnung offen gestaltet würde und die während des Kriegs aufgebauten Handelshemmnisse soweit abgebaut würden, dass das Reich hinreichende Handelsbilanzüberschüsse würde erwirtschaften können. In diesem Kontext bildete die Herstellung eines europäischen Markts oder wenigstens die Entwicklung von Maßnahmen, die in diese Richtung steuerten, ein zwar im nationalistischen Umfeld der Epoche schwer durchzusetzendes, doch ernstzunehmendes und zukunftsträchtiges politisches Projekt. Denn auch die Nachbarn, einschließlich Frankreichs, wurden sich der Interdependenz zwischen deutscher Handelsbilanz und deutscher Transferkapazität allmählich bewusst.32
Der Ruhrkampf im Jahr 1923 bildete den Scheitelpunkt der deutsch-französischen Konfrontation, nach dem eine Annäherung möglich war. Nach dessen Beendigung setzte 1923/1924 eine publizistisch ausgetragene Suche nach Frieden unter der Chiffre "Europa" sowie die Propagierung einer europäischen Einigung als Ziel und Mittel zur Überwindung der Probleme in Gang. Die Ernüchterung über den begrenzten Handlungsspielraum des Völkerbunds trug dazu bei, dass in zahlreichen alten wie neuen pazifistischen und politischen Zeitschriften wie La Paix par le Droit, Europe, L'Europe de demain, Friedens-Warte, Die Hilfe, Europäische Revue, Europäische Gespräche, Völkerbunds-Fragen und Sozialistische Monatshefte Artikel erschienen, die auf die Notwendigkeit hinwiesen, europäisch zu denken oder ein europäisches Gemeinwesen zu begründen.33 Teile der Zivilgesellschaft, der Politik und der Wirtschaft besannen sich auf Europa als zivilisatorischer und Wertegemeinschaft.34 Die "Vereinigten Staaten von Europa" und "Paneuropa" wurden zu geflügelten Worten.
Entstehung und Entwicklung der Europa-Netzwerke
Aus analytischer Perspektive lassen sich politische, wirtschaftliche und kulturelle Netzwerke unterscheiden, die in den jeweils für sie typischen Formen für eine europäische Verständigung und, weitergehend, eine europäische Einigung warben. Die Grenzen zwischen diesen Netzwerken waren fließend, da eine Reihe von Akteuren in mehreren zur selben Zeit agierte. Etwa zeitgleich entstanden zwischen 1924 und 1926 mehrere Netzwerke, die, zunächst unabhängig von-, dann in Konkurrenz zueinander, zwei europäische Verbände entwickelten: die Paneuropa-Bewegung Richard Coudenhove-Kalergis sowie der Verband für europäische Verständigung, in dem der liberale Politiker Wilhelm Heile (1881–1969) und der in Berlin lebende Pole Alfred Nossig (1864–1943) einerseits und der französische Mathematiker und Politiker Émile Borel (1871–1956) andererseits führend waren. Zuvor waren bereits 1920 die Internationale Handelskammer mit Sitz in Paris und 1924 auf Initiative des konservativen, habsburgisch-großdeutschen Karl Anton Rohans (1898–1975)[] der Europäische Kulturbund mit Sitz in Wien als private Initiativen zur internationalen Verständigung entstanden. Bald entwickelten sich weitere Gravitationszentren der europäischen Bewegung um den dänischen Arzt Heerfordt, die Mitteleuropäische Wirtschaftstagung, die Union douanière européenne, um den luxemburgischen Industriellen Émile Mayrisch (1862–1928) sowie die Wirtschaftsorganisation des Völkerbunds.
Die Formierung der Paneuropa-Union
Richard Coudenhove-Kalergi brachte mit seinem 1923 erschienenen Buch Pan-Europa die Welle ins Rollen.35 Darin mischte er einerseits Bekanntes mit vereinfachten Geschichtsbildern, spürte andererseits aber auch wichtige Tendenzen auf und entwickelte einige interessante Thesen. Er leitete aus der Diagnose des europäischen Niedergangs, des Endes der europäischen Hegemonie, der bestehenden Unruhe, des zwischen den europäischen Völkern dominierenden Hasses und der gegenseitigen Furcht ein Programm für eine europäische Einigung her. Europa, unter dem er alle demokratischen Staaten des europäischen Festlands sowie die mit ihnen verbundenen Kolonien und autonomen Gebiete verstand (also nicht die Türkei, Großbritannien und Russland), sei so zersplittert wie das späte Heilige Römische Reich kurz vor seiner Auflösung. Die ständige Verkleinerung der Welt durch den Fortschritt im Bereich Verkehr und Kommunikation lasse diese Zersplitterung anachronistisch erscheinen. Mehr noch, in Europa bestünde die Gefahr eines künftigen Vernichtungskriegs, in dem es keinen europäischen Sieger geben würde. Den Aufstieg von außereuropäischen Großreichen – dazu zählt er Panamerika, Russland mit Kleinasien, das britische "Südreich" und die "mongolischen" Großreiche China und Japan – versteht er als Wegweiser für die zur Überwindung der Misere und der Gefahren notwendige europäische Einigung. Außerdem sei der Völkerbund aufgrund seiner universalen Ausrichtung und des fehlenden Beitritts wichtiger Akteure, wie die USA, Mexiko, Russland und Deutschland, gescheitert. Er habe politisch keine Autorität und sei keine gerechte Institution, da er Aggressionen wie die Polens gegen Litauen und die Italiens gegen Griechenland geschehen lasse. Außerdem seien die Probleme, mit denen er sich hauptsächlich beschäftige, europäischer Natur, so dass seine universale Tendenz "unorganisch" sei. Der Völkerbund müsse vielmehr regionalisiert werden. Paneuropa solle ein zukünftiger Pfeiler des Völkerbunds werden.
Infolge des Echos auf seine Initiative gründete Coudenhove 1924 die Zeitschrift Pan-Europa und rief einen Verein ins Leben, wofür ihm auf Fürsprache des tschechischen Präsidenten Tomáš Masaryk (1850–1937) der österreichische Kanzler Ignaz Seipel (1876–1932)[] Räumlichkeiten in der Wiener Hofburg zur Verfügung stellte.
Etwa parallel dazu griff 1924 der dänische Arzt Christian F. Heerfordt (1871–1953), der mit skandinavischen Kreisen in engem Kontakt stand, in seinem große Aufmerksamkeit findenden Buch Et nyt Europa (1924; 1925 englisch; 1926/1927 deutsch) die gleichzeitigen Diskussionen im Norden Europas auf. Er kritisierte den Völkerbund als ein unzureichendes "Mittel zur Sicherung" des politischen Friedens und der "rechten ökonomischen Zusammenarbeit der europäischen Nationen". Daher bedürften die Europäer – innerhalb des Völkerbundsrahmens – einer besonderen Organisation, "die Vereinigten Staaten der europäischen Nationen".36 Der internationale Friede würde durch einen europäischen Zusammenschluss besser gewahrt. Heerfordt fasste damit progressive skandinavische Überzeugungen zusammen, wonach nur eine europäische Staatenorganisation unter Einschluss Großbritanniens den Völkern des Kontinents Frieden bringen könne.37
Auf dem 23. Weltfriedenskongress, der vom 6. bis 8. Oktober 1924 in Berlin stattfand und mit 500 Teilnehmern der größte Friedenskongress seit Kriegsende war, wurde der dritte Tag ganz dem Thema "Völkerbund und Paneuropa" gewidmet. Coudenhove-Kalergi gelang es, nach beharrlichem Einsatz in die Rednerliste aufgenommen zu werden, um für seine Idee zu werben.38 Auf dem Kongress versuchte Coudenhove das Argument der Pazifisten zu entkräften, wonach sich Paneuropa gegen den Völkerbund richte.39 Diese Vorbehalte hatte er durch seine scharfe Kritik am Völkerbund selbst hervorgerufen. Insbesondere versuchte er, Einwänden der Völkerbundsbefürworter durch einen Kompetenzausgleich zwischen Völkerbund und Paneuropa zu begegnen. Ersterer sollte u.a. für Abrüstung und eine Weltsprache zuständig sein. In das Aufgabengebiet Paneuropas sollten u.a. Minderheitenschutz, Kolonien, Garantiepakt, in dem Großbritannien und Italien die von Deutschland anerkannte Westgrenze des Versailler Vertrags garantierten, internationales Parlament und wirtschaftliche Zusammenarbeit fallen. Europa müsse sich von der "Weltkontrolle", unter der es im Völkerbund stehe, "emanzipieren".40 Der liberale Politiker und Völkerrechtler Walther Schücking (1875–1935) lehnte in einer ebenso kurzen wie scharfen Antwort das Paneuropa-Programm ab und wies darauf hin, dass eine wirtschaftliche Einigung Europas angesichts der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen keinen Sinn ergebe.41 Die Aussprache verlief lebhaft. Insbesondere erhoben sich Widersprüche gegen den Ausschluss des britischen Weltreiches und der Sowjetunion. Paul Löbe (1875–1967)[] stimmte hingegen dem Programm Coudenhoves zu und wurde zum Präsidenten der deutschen Gruppe der Paneuropa-Bewegung. Außerdem gelang es Coudenhove 1925, die finanzielle Unterstützung des Hamburger Bankiers Max Warburg (1867–1946) zu gewinnen und einen deutschen Wirtschaftsausschuss der Paneuropa-Union unter Beteiligung der wichtigsten Verbandsvertreter zu gründen.42
Auch in Warschau formierte sich ein nationales Paneuropa-Komitee um den Violinisten Bronisław Huberman (1882–1947)[], der von Coudenhove begeistert war.43 Ihm traten zahlreiche Intellektuelle, Adlige sowie einige linksgerichtete Aktivisten und junge Akademiker bei, darunter auch Völkerbundfreunde und Pazifisten. Einige taten dies auf Weisung des Außenministeriums, das die Richtung der Bewegung kontrollieren wollte. Neben dem Pfarrer Zygmunt Kaczyński (1894–1953), dem Abgeordneten Marian Dąbrowski (1878–1958) und dem ehemaligen polnischen Außenminister Aleksander Skrzyński (1882–1931) zählten auch die Rektoren der Universitäten Wilna und Kraków zu den Mitgliedern. Der Rechtsgelehrte Aleksander Lednicki (1866–1934), der sich 1905 als polnischer Freiheitskämpfer einen Namen gemacht hatte und nun für eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft plädierte, saß dem Komitee vor. Die amerikanische Föderation, die Schweiz sowie idealisierte Vorstellungen der einstigen polnisch-litauischen Union dienten als wichtige Vorbilder bzw. Anknüpfungspunkte in den Debatten.
In Budapest entstand Anfang 1926 ebenfalls ein nationales Paneuropa-Komitee unter Beteiligung von zahlreichen führenden Intellektuellen wie dem Komponisten Béla Bartók (1881–1945), dem Juristen Elemér Hantos (1881–1942) sowie hochkarätigen Redakteuren und Politikern.44 Wichtigen Einfluss auf das Komitee übten der ungarische Cobden-Bund aus, eine freihändlerische Organisation, und die Freimaurerloge. Führende Persönlichkeit des Komitees war der oppositionelle Abgeordnete Antal Rainprecht (1881–1946), der dem Komitee als Geschäftsführer und Vizepräsident diente. Zum Präsidenten wurde der ehemalige Minister György Lukács (1865–1950) gewählt, der auch als Delegierter für die Ungarische Liga für Völkerbund und die ungarische Sektion der Interparlamentarischen Union fungierte und in der Friedensbewegung als Konservativer eine aktive Rolle spielte.45 Lukács plädierte für die Solidarität der Nationen, die in seiner Friedenskonzeption die Bausteine darstellten. Nach Auffassung der ungarischen Sektion sollte die friedliche Revision des Vertrages von Trianon durch die Aufhebung der Einstimmigkeitsregel im Völkerbund erreicht werden. Paneuropa könne als regionale Einrichtung des Völkerbunds die Revision der Friedensordnung beschleunigen. Der ungarische Premierminister István Bethlen blieb jedoch auf Distanz und machte 1926 gegenüber Coudenhove ausdrücklich die Revision des Friedenvertrages zur Bedingung für eine Zusammenarbeit mit der Paneuropa-Bewegung.46
Die Formierung der europäischen Bewegung zeigte bald erste Wirkungen in Politik und Wirtschaft. Nach einem Gespräch mit Coudenhove stellte der französische Ministerpräsident Édouard Herriot (1872–1957)[] Anfang 1925 in einer Rede vor der Nationalversammlung die europäische Einigung als eine Option nach erfolgter Befriedigung des französischen Sicherheitsbedürfnisses und erfolgreicher Versöhnung dar. Zugleich wies er dem Völkerbund als Stufe auf dem Weg zur europäischen Einigung eine neue Rolle zu. Der von Herriot eingeleitete Wandel führte dann unter Aristide Briand (1862-1932)[] im Oktober 1925 zu den Locarno-Verträgen.
Getragen von der Welle der Verständigungspolitik war der erste Kongress der Paneuropa-Union, der im Oktober 1926 in Wien mit Unterstützung der österreichischen Regierung stattfand, ein großer öffentlichkeitswirksamer Erfolg. Coudenhove versammelte 2.000 Delegierte aus 24 Staaten und erwies sich als ein Meister der Inszenierung.47 Zwar fehlte die Hälfte des angekündigten hochkarätigen Ehrenpräsidiums, und ungarische sowie auch deutsch-österreichische Vertreter nutzten die Gelegenheit für revisionistische Propaganda bzw. Anträge, die allersamt abgelehnt wurden.48 Jedoch ließen sich Briand und Herriot in das Ehrenpräsidium der Paneuropa-Union aufnehmen, als ein französisches Paneuropa-Komitee gegründet wurde. Außerdem entstanden Wirtschaftskomitees: in Frankreich unter Louis Loucheurs (1872–1931) und in Deutschland unter Beteiligung von führenden Wirtschaftsvertretern wie Carl Bosch (1874–1940), Carl Duisberg (1861–1935), Carl Melchior (1871–1933), Ernst Poensgen (1871–1949) und Paul Silverberg (1876–1959)[].
Coudenhove gelang allerdings nicht viel mehr, als einen Diskurs anzustoßen und Netzwerke zu begründen. 1930 hielt er einen zweiten Paneuropa-Kongress in Berlin ab, musste allerdings erkennen, dass der deutsche Außenminister Julius Curtius (1877–1948) kein wirkliches Interesse am Europa-Gedanken zeigte. Auch der Briand-Plan, den Coudenhove zwar öffentlich unterstützte, blieb hinter seinen föderativen Vorstellungen zurück. Seine Bemühungen, auf die Debatten im Studienkomitee des Völkerbunds zur europäischen Union (1930–1933) einzuwirken, bleiben ohne nennenswerten Erfolg. Sein Versuch, 1932 eine Paneuropa-Partei zu gründen, verlief ebenfalls im Sande. Er ging zudem in die falsche Richtung, da Coudenhove sich inzwischen zur "konservativen Revolution" und ständestaatlichen Ordnungsvorstellungen hingezogen fühlte.49 Infolge seines Einsatzes für die deutsch-französische Verständigung und einer Rede, in der er die Polen aufforderte, Danzig den Deutschen zu überlassen und dafür Litauen zu übernehmen, verlor er auch die Unterstützung polnischer Paneuropa-Mitglieder. Die polnische Regierung befürchtete, dass eine deutsch-französische Verständigung auf Kosten Polens gehen würde und bezog ab 1933/1934 offen gegen Paneuropa Stellung.50 Festzuhalten bleibt, dass Coudenhove den Gedanken einer europäischen Föderation in einer Zeit des extremen Nationalismus weiter verfolgte und vor dem Hintergrund der judenfeindlichen Politik des Dritten Reiches den Antisemitismus publizistisch als irrational bloßstellte und attackierte.51
Die Komitees für europäische Verständigung bzw. Kooperation
Etwa gleichzeitig zum Programm Coudenhoves entstand um Alfred Nossig (1864–1943) und Wilhelm Heile (1881–1969) 1924/1925 das "Komitee für die Interessengemeinschaft europäischer Völker", das im Juli/August 1926 in "Komitee für europäische Verständigung" umbenannt wurde.52 Das Komitee konstituierte sich zunächst auf der Basis linksliberaler, sozialdemokratischer und Zentrumspolitiker, die sich aus der Interparlamentarischen Union (IPU) bereits kannten, deren Kreis sich aber bald um Politiker aus der Deutschen Volkspartei (DVP) und einzelnen gemäßigten Vertretern der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) erweiterte. Mit Walther Schücking übernahm ein renommierter Völkerbundbefürworter die Präsidentschaft, was bedeutete, dass das Komitee den Völkerbund als größeren Rahmen der europäischen Verständigung betrachtete. Damit stellte es sich der Coudenhoveschen Europakonzeption, die auf einer entschiedenen Kritik am Völkerbund basierte, in einem wesentlichen Punkt entgegen.
Wilhelm Heile war über die Mitteleuropakonzeption Friedrich Naumanns zum Europagedanken gekommen, verfügte aber auch über Verbindungen zu Pazifisten wie Ludwig Quidde (1858–1941) und Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966). Außerdem war er Schriftführer der deutschen Gruppe der IPU und Vizepräsident des Zusammenschlusses linksliberaler Parteien auf europäischer Ebene.53 1920 bis 1924 war er für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) Mitglied des Reichstags. Er begann mit dem in Berlin lebenden polnischen Staatsbürger und Journalisten Alfred Nossig zu kooperieren, als dieser bei seinen Bemühungen, die Unterstützung des Auswärtigen Amts für den Aufbau eines proeuropäischen Netzwerks zu erhalten, auf Vorbehalte gestoßen war. Die Reichsregierung wollte im Sommer 1924 keine Initiative fördern, die als gegen den Völkerbund gerichtet interpretiert werden konnte. Heile versuchte daraufhin, Coudenhove für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Doch während Heile an eine Zusammenarbeit unter Gleichen dachte, strebte der gerade einmal 30-jährige Coudenhove die europaweite Führung der Bewegung an und bot dem 53-jährigen Heile an, sich ihm als Generalsekretär der deutschen Paneuropa-Abteilung unterzuordnen. Außerdem kritisierte Coudenhove die Linkslastigkeit des deutschen Komitees und die Zusammenarbeit mit Nossig. Fortan rivalisierten die beiden entstehenden Organisationen miteinander. Coudenhove versuchte anscheinend mehrmals, Heile abzuwerben bzw. seine Bemühungen gezielt, auch durch Verbreitung böswilliger Gerüchte, zu hintertreiben. Er bezichtigte beispielsweise Heile und andere Mitglieder des deutschen Komitees gegenüber französischen Gesprächspartnern als Großdeutsche und den Europäischen Kulturbund Prinz Rohans faschistischer Tendenzen.54 Was Prinz Rohan anbelangte, waren diese Kritiken nicht aus der Luft gegriffen.55 Konzeptionelle Divergenzen, insbesondere Heiles Ablehnung des Coudenhoveschen "Kleineuropa", verhärteten den Gegensatz. Heile war der Auffassung, dass der Ausschluss Großbritanniens Frankreichs Furcht vor einem dominanten Deutschland verstärken würde.56 Zugleich war die Einbeziehung Großbritanniens aus deutscher Sicht eine Notwendigkeit, denn nur mit England als Vermittler bestand Aussicht auf eine Regelung der zentralen Probleme der deutschen Außenpolitik.
Das Auswärtige Amt sah sich durch die zunehmend erbitterte Konkurrenz zwischen dem Komitee bzw. dem sich seit Ende 1925 organisierenden Verband für europäische Verständigung und der Paneuropa-Union wiederholt in einer delikaten Lage. Einerseits wollte es das deutsch-britische Verhältnis nicht durch eine Unterstützung der Paneuropa-Union gefährden und hegte Vorbehalte gegenüber der Persönlichkeit Coudenhoves, die der Völkerbundsreferent im Auswärtigen Amt, Bernhard Wilhelm von Bülow (1885–1936), als doktrinär und selbstherrlich einschätzte. Andererseits begegnete es Nossig, der mit allerlei phantastischen Projekten aufwartete, mit ähnlich starken Vorbehalten. Dessen fehlendes Fingerspitzengefühl, wohl aber auch seine polnische Staatsbürgerschaft, jüdische Abstammung und zionistischen Neigungen sowie eine wachsende Konkurrenz mit Heile, zu der 1927/1928 obendrein auch noch skeptische Töne aus Frankreich traten, führten zu seiner Verdrängung. 1925 war es Heile und Nossig noch gelungen, mit Hilfe des Ansehens Schückings finanzielle Zuwendungen vom Auswärtigen Amt zu erhalten. Beim Einwerben von Mitteln bei Verbänden und der deutschen Wirtschaft versagten sie jedoch, da sie den Industriellen entschieden zu weit links standen.57
Es gelang Nossig jedoch, in Frankreich die Gründung eines gleichgerichteten Komitees von Politikern auf den Weg zu bringen. Dies hatte das Auswärtige Amt zur Vorbedingung für eine offizielle Unterstützung des Gründungsaufrufs erklärt. Unter französischen Abgeordneten, die der IPU nahestanden, konnte er die Unterstützung eines breiten Parteienspektrums gewinnen. Allerdings wollten die französischen Partner vermeiden, dass der Eindruck entstehe, es handele sich um eine deutsche Initiative. Daher forderten sie, gleichzeitige Gründungsaufrufe in Großbritannien und Polen zu starten, und erklärten sich bereit, Nossig durch die Entsendung zweier französischer Vertreter, Émile Borel und André François-Poncet (1887–1978), nach London zu unterstützen. In Großbritannien schlug Nossig Skepsis entgegen, da die Britische Liga für Völkerbund zu einer Massenbewegung angewachsen war, die ihre Hoffnungen ganz auf den Völkerbund setzte und dessen Schwächung durch eine konkurrierende europäische Organisation ablehnte. Gleichzeitig versuchte Coudenhove die Initiativen Heiles und Nossigs in London zu unterlaufen. Das deutsche Auswärtige Amt schaltete sich erneut ein. Wie sich herausstellte, war auch die französische Regierung besorgt über die Rivalität mit Coudenhove und forderte den organisatorischen Zusammenschluss der Europaverbände. Diese Haltung übernahm auch das Auswärtige Amt, jedoch ohne Erfolg.58
Nach einer Vorkonferenz der deutschen, französischen und polnischen Nationalkomitees kam es im Juli 1926 zu einem vorzeitigen deutschen Gründungsaufruf, der mit rund 400 Unterschriften von namhaften Politikern versehen war. Darunter waren ehemalige und amtierende Reichs- und Staatsminister, andere hochrangige Amtsträger, Bankiers, Industrielle, Gewerkschaftsführer und Intellektuelle wie Albert Einstein (1879–1955)[], Lujo Brentano (1844–1931)[] oder Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (1874–1936) und Vertreter des künstlerischen Lebens wie Gerhart Hauptmann (1862–1946)[]. Auch die Namen von Pazifisten wie Hans Wehberg (1885–1962), Harry Graf von Kessler (1868–1937)[] und anderen schmückten neben dem Schückings die Liste. Am 2. September 1926 folgte in Genf im Umfeld einer IPU-Tagung die Konstituierung des Verbandes für europäische Verständigung, wobei das Gründungsmanifest Unterstützer aus 22 Ländern aufführte. Grußtelegramme der Außenminister Briand und Stresemann sowie des deutschen Reichskanzlers Wilhelm Marx (1863–1946) verliehen dem Ganzen einen offiziellen Anstrich. Dabei konnte allerdings nicht der Eindruck vermieden werden, dass es sich um eine stark von deutscher Seite betriebene Initiative handelte. Denn das Manifest, das auf der Tagung angenommen wurde, wies Berlin als Sitz des Generalsekretariats des europäischen Verbands aus.59 Anscheinend folgten organisatorische Querelen. Jedenfalls verschwand der Dachverband wieder von der Bildfläche.
Bereits 1927 jedoch gingen von Émile Borel in Frankreich neue Initiativen aus. Zunächst gründete er im Februar/März 1927 das Französische Komitee für europäische Zusammenarbeit. Die französische Gruppe umfasste zahlreiche hochgestellte politische Persönlichkeiten, darunter Aristide Briand, Joseph Caillaux, Édouard Herriot, Léon Jouhaux (1879–1954), Paul Painlevé (1863–1933) und Raymond Poincaré (1860–1934). Ende 1927 gründete Borel einen Dachverband für die nationalen Komitees, die Fédération internationale des Comités de coopération européenne. Anscheinend war es für französische Regierungskreise nicht möglich, sich auf einen deutschen Dachverband einzulassen. Borels Französisches Komitee blieb aber mit Heile im Kontakt. Wie dieser unterstützte Borel die Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbunds. Im November 1928 wurde das Französische Komitee von Briand empfangen, wobei dieser erstmals von einer europäischen Föderation sprach. Borel rief auch einen Wirtschaftsaussschuss ins Leben, den Henri Truchy (1864–1950) leitete. Truchy war Professor der Rechte an der Universität von Paris und zugleich eines der führenden Mitglieder der Union douanière européenne ( ). Auf einem Kongress der Föderation der Komitees für europäische Zusammenarbeit, der im Mai 1929 in Madrid stattfand, wurde die europäische Wirtschafts- und Zollunion von Truchy vorgestellt. Daraufhin wurde innerhalb des französischen Komitees eine Wirtschaftssektion gegründet, die von Yves Le Trocquer (1877–1938)[] geleitet wurde.60
Das Auswärtige Amt unterstützte das deutsche Komitee für europäische Verständigung bis 1929 mit finanziellen Zuwendungen, allerdings ohne diese zu etatisieren. Darin drückte sich die Skepsis gegenüber dessen Erfolgschancen ebenso aus wie die Absicht, das Komitee politisch zu kontrollieren. 1930 beendete Stresemanns Nachfolger Curtius die Zahlungen abrupt, was zur Umwandlung des Verbands in einen Ausschuss der Deutschen Liga für Völkerbund führte. Heile durfte zunächst wieder die Geschäftsführung übernehmen. Die organisatorische Unterordnung unter die bereits vom Auswärtigen Amt kontrollierte Liga signalisierte das Ende der europäischen Bewegung in Deutschland.
Horizonte einer europäischen Wirtschaftsverständigung: Die Union douanière européenne und andere Wirtschaftsorganisationen
Seit 1925 rückten wirtschaftliche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt der Europadiskussion. Bereits fünf Jahre zuvor war die Internationale Handelskammer in Paris gegründet worden.61 Ihr Netzwerk wies seine größte Dichte in Europa auf und umfasste Vertreter der international agierenden Großindustrie, des Handels und der mittelständischen Unternehmen sowie entsprechender Verbände. 1923 forderte sie in einer Resolution erstmals die europaweite Harmonisierung von Zollnomenklaturen, um den Handel zu erleichtern. Erst während der Locarno-Ära traten ihr der Deutsche Industrie- und Handelstag bei; kurz darauf bildete sich ein Europa-Komitee. Eines der prominenten Mitglieder der deutschen IHK-Gruppe, der Frankfurter Großindustrielle Richard Merton (1881–1960), finanzierte zwischen den Kriegen die Zeitschrift Europäische Revue und wurde nach Internierung in einem Konzentrationslager (1938) und anschließendem Exil zu einem wichtigen Förderer einer europäischen Wirtschaftsintegration im Nachkriegsdeutschland.62
Der Gedanke einer europäischen Zollunion dynamisierte ab 1925 die Debatte um ein Wirtschafts-Europa. Walther Rathenau (1867–1922)[],63 Joseph Caillaux (1863-1944)[] und der ungarische Professor der Rechte und ehemalige habsburgische Finanzstaatssekretär Elemér Hantos, der außerdem Mitbegründer der Mitteleuropäischen Wirtschaftstagung war, gehörten zu den Vordenkern einer europäischen Zollunion. Alle drei machten in Gesprächen oder publizistisch seit dem Krieg (Rathenau) bzw. seit Beginn der zwanziger Jahre auf die Notwendigkeit eines großen innereuropäischen Marktes aufmerksam.64 Rathenau dachte unter anderem an den gemeinsamen Wiederaufbau der kriegszerstörten Gebiete mit Frankreich. Hantos forderte die Wiederherstellung eines einheitlichen monetären und Wirtschaftsraums in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, war aber gegenüber einer breiteren europäischen Wirtschaftszusammenarbeit in Form einer Präferenzzone bzw. einer Koalition regionaler Wirtschaftsgruppen aufgeschlossen.65 Die Aktivitäten der Mitteleuropäischen Wirtschaftstagung hingen mit der schwierigen Ausgangslage der ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften nach der Friedensregelung zusammen, da den exportorientierten Unternehmen durch die neuen Zollgrenzen die Märkte wegbrachen. Auch der russische Markt war nach der Oktoberrevolution weggefallen, und der deutsche Markt war Anfang der zwanziger Jahre zu schwach, um in großem Stil Importe aus Ostmitteleuropa aufzunehmen.
Den Anfang machte ein Aufruf an die Europäer zur Unterstützung einer europäischen Zollunion und der Gründung der Union douanière européenne (UDE), publiziert am 12. März 1925 in der Verbandszeitschrift L'Europe de demain und gleichzeitig in der neugegründeten deutschen Zeitschrift Europäische Zollunion, die von dem liberalen Politiker und Mitglied der Mitteleuropäischen Wirtschaftstagung Georg Gothein (1857–1940) herausgegeben wurde.66 Zehn namhafte Ökonomen warnten in dem Aufruf vor den Folgen des Protektionismus und einer weiteren Wirtschaftsanarchie für Europa und forderten stattdessen eine Zollunion. Darunter waren die Franzosen Yves Le Trocquer und Charles Gide (1847–1932), einer der großen Namen des französischen Pazifismus, Joseph Caillaux, der Journalist und Vertraute Stresemanns Edgar Stern-Rubarth (1883–1972),67 der Berliner Professor Ludwig Stein (1859–1930) und der Frankfurter Wirtschaftsjournalist Moritz John Elsas (1881–1952), der ehemalige niederländische Finanzminister Anton van Gijn (1866–1933), Elemér Hantos sowie Norman Angell (1874–1967)[]. Die Unterzeichner gründeten das Koordinationskomitee des Verbands auf europäischer Ebene. Es folgten nationale Komitees zunächst in Deutschland, Frankreich und Ungarn, kurz darauf in Belgien, den Niederlanden, Polen und der Tschechoslowakei. Bis Ende 1930 entstanden achtzehn nationale Komitees. Einige bestanden jedoch nur aus einzelnen korrespondierenden Mitgliedern, während in den genannten eine rege Mitarbeit herrschte. Das französische Komitee war bei weitem das stärkste.68 Über das Ziel einer Zollunion hinaus wurden in diesem Netzwerk auch die Errichtung eines großen europäischen Markts befürwortet, in dem Waren, Personen und Kapital ohne Hindernisse Grenzen überschreiten konnten.69 Damit entwickelte sich im Kern bereits die Idee der späteren Römischen Verträge (1957), wenn auch noch nicht in Form eines ausgeklügelten Konzepts. Begleitet wurde der Aufruf von einer Meinungsumfrage Stern-Rubarths zum Gedanken einer Zollunion. Zahlreiche Antworten von bekannten Wirtschaftsfachleuten und Publizisten, darunter die von Walter Layton (1884–1966), dem Herausgeber der britischen Wochenzeitschrift The Economist, fielen positiv aus.
Ein kurzer Blick auf die Zusammensetzung des nationalen französischen Komitees der UDE zu Beginn des Jahres 1928 erlaubt Aufschlüsse über seine politische Reichweite und Repräsentativität. Das Komitee hatte 42 Mitglieder, darunter waren allein neun Abgeordnete der Nationalversammlung und drei Senatoren, von denen acht nach 1919 Ministerposten bekleidet hatten. Es handelte sich also um hochrangige Politiker, darunter wiederum Briand und Herriot. Sieben Professoren und zehn in Handel und Industrie tätige Persönlichkeiten bildeten einen Teil der höheren französischen Gesellschaft ab. Außerdem befanden sich Delegierte des Komitees für europäische Zusammenarbeit, der Französischen Gesellschaft für den Völkerbund, des Französischen Aktionskomitees für Wirtschafts- und Zollfragen und der Carnegie-Stiftung auf der Mitgliederliste.70 Somit wurde großer Wert auf Repräsentativität, fachliche Autorität und Einbeziehung wichtiger gesellschaftlicher Kräfte gelegt. Der Germanistik-Professor Henri Lichtenberger (1864–1941) wurde als Bindeglied zu Deutschland hinzugezogen.
Zur weiteren Dynamik trug die Unterstützung des Industriellen und Politikers Louis Loucheur zur Abhaltung einer Internationalen Wirtschaftskonferenz bei, die 1927 beim Völkerbund stattfand. Die Vorarbeiten zur Konferenz wurden vom Völkerbundrat im September 1925 einem Vorbereitungsausschuss übertragen, in dem sich zahlreiche hochrangige Vertreter befanden: Darunter waren der deutsche Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Ernst Trendelenburg (1882–1945), der Reichstagsabgeordnete (Zentrum) Clemens Lammers (1882–1957), der von der Internationalen Arbeitsorganisation nominierte Präsident des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes Wilhelm Eggert (1880–1938), auf französischer Seite Loucheur und auf ungarischer Hantos. Die zur Vorbereitung in Auftrag gegebenen Studien eröffneten vielfältige Möglichkeiten der innereuropäischen und weltweiten Wirtschaftszusammenarbeit.71
Auch eine Fülle von Publikationen widmete sich fortan diesem Thema. Paradigmatisch für den neuen Diskurs und seine Rezeption auch in Deutschland waren zwei 1926 erschienene Bücher: Der Ökonom Hanns Heiman gab unter dem Titel Die Europäische Zollunion: Beiträge zu Problem und Lösung eine Sammlung wissenschaftlicher Beiträge und Überlegungen von Beamten und Parlamentariern heraus.72 Auch der exilrussische Ökonom, Sozialdemokrat, Herausgeber des statistischen Almanach Die Welt der Zahlen (seit 1923) und Vordenker einer aktiven Konjunkturpolitik Vladimir S. Vojtinskij (1885–1960) begeisterte sich in seinem 1926 erschienenen gleichnamigen Buch für die Vereinigten Staaten von Europa, in dem er für eine Zollunion plädierte, die über den Weg der Schaffung einer Interessengemeinschaft zur politischen Einigung führen würde.73 Nicht für den Kampf mit den äußeren Kräften, nicht für den Angriff und nicht für die Verteidigung müsse die Europäische Union geschaffen werden, sondern für die friedliche Arbeit in voller Einigkeit mit allen außerhalb der Union stehenden Völkern und vor allem mit den Völkern Amerikas, die der Alten Welt als ein Musterbeispiel einer vernünftigen staatlichen Organisation gelten müssen.74 Einen Gegensatz zum Völkerbund sah Woytinski nicht, da eine europäische Einigung und der Völkerbund zwar das gleiche Ziel verfolgten, die "Sicherstellung des Friedens durch Reorganisation der zwischenstaatlichen Beziehungen und durch die Überwindung der nationalen Zersplitterung", aber in unterschiedlichen Sphären arbeiteten: der Völkerbund hauptsächlich im Bereich der Politik, die Vereinigten Staaten von Europa hingegen hauptsächlich im Bereich der Ökonomie. "Die Schwäche des Völkerbunds entspringt … aus der europäischen Zersplitterung". Die Behebung dieser Probleme durch eine europäische Einigung würde auch den Völkerbund stärken.75 Er argumentierte weiter, die Einigung Europas würde dem Völkerbund europäische Probleme abnehmen und es, insofern eine Einigung die Lage in Europa bereinigen werde, den USA ermöglichen würde, dem Völkerbund beizutreten. Paneuropa und der Völkerbund würden sich ergänzen. Woytinskis Europa umfasste aber ebenso wie das Heiles Großbritannien und Russland, da letzteres landwirtschaftliche Erzeugnisse und Brennstoffe habe, die Westeuropa fehlten.
Das französische Komitee der UDE entwickelte 1927 ein Programm, das zwar auf den stufenweisen, vollständigen Zollabbau in Europa hinauslief, jedoch internationalen Kartellen eine Ersatzfunktion zur Kontingentierung der Marktanteile der Produzenten einräumte, was dem Gedanken einer Zollunion und den Verbraucherinteressen zuwiderlief.76 Dieser Widerspruch war symptomatisch für die französische Regierungspolitik, die sich während der gesamten Zwischenkriegszeit nicht zu einer wirklich freiheitlichen Handelspolitik durchringen konnte. Die protektionistischen Tendenzen erwiesen sich innerhalb der französischen Delegation auf der Genfer Internationalen Wirtschaftskonferenz im Mai 1927 als so stark, dass deutsche, britische und andere Vertreter skeptisch gegenüber den französischen Intentionen wurden. Denn aus deutscher Perspektive sollten die Gespräche zum Zollabbau und damit zur Erweiterung des Handels und des Wettbewerbs führen. Dank des Widerstands zahlreicher Delegationen wurden Kartelle auf der Wirtschaftskonferenz nicht befürwortet.77 Der im Sommer unterzeichnete deutsch-französische Handelsvertrag bedeutete immerhin einen Durchbruch in den beiderseitigen Handelsbeziehungen und stabilisierte das politische Verhältnis.
Auch 1928 und 1929 setzte die UDE ihre Lobbyarbeit für eine Zollunion beim Außenministerium fort. Das französische UDE-Komitees stand Außenminister Briand und dem stellvertretenden Direktor der politischen Abteilung Jacques Seydoux (1870–1929) nahe. Dieser trat nach seinem Ausscheiden aus dem Quai d'Orsay Ende 1926 dem Deutsch-Französischen Studienkomitee bei, wurde Vize-Präsident des französischen Komitees der UDE und gab die zugunsten einer europäischen Wirtschaftseinigung streitende Zeitschrift Pax heraus.78 Die Arbeit der UDE und ihre Kontakte zum Außenministerium hatten einen bedeutenden Anteil an Briands Vorstoß für eine Europäische Union 1929/1930. Nur hatte die UDE offenbar keinen hinreichenden Rückhalt im Handelsministerium, jedenfalls nicht bei dem, während der Erarbeitung des Briand-Memorandums 1930 der Mitte-Rechts-Regierung angehörenden, Handelsminister Pierre-Étienne Flandin (1889–1958).79 Nach dem Scheitern des Briand-Plans suchte die UDE vergeblich nach anderen Wegen zu einer europäischen Verständigung im Bereich der Wirtschaft. Am 4. September 1934 meldete sich die UDE noch einmal mit einem Appell an die europäischen Regierungen zu einem "Zoll-Locarno" und bereitete einen zweiten Kongress vor. Ihr Aufruf verlief im Sande. Dennoch setzte sie ihre Publikationstätigkeit bis 1939 fort und lebte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.80 In der 1946 gegründeten Ligue européenne de coopération économique des ehemaligen belgischen Premierministers Paul van Zeeland (1893–1973) setzten einige Persönlichkeiten der UDE wie auch des französischen Comité d'action économique et douanière sich erneut für eine Zollunion ein.
Das Internationale Stahlkartell und das Deutsch-Französische Studienkomitee
Den Gedanken einer wirtschaftlichen Einigung wird man nicht allein auf deutsches Streben nach Erwirtschaftung eines Handelsbilanzüberschusses und nach freiem Zugang zu Rohstoffen in den Kolonien oder auf französische Produzenteninteressen zurückführen können. Im Gegenteil, wie die Beteiligung von Interessierten aus kleineren Ländern zeigt, waren auch hier zahlreiche Wirtschaftsvertreter und Ökonomen von den Vorteilen einer Zollunion oder eines großen Markts aufgrund der zu erwartenden Rationalisierungseffekte und besseren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber amerikanischen Produzenten überzeugt. So gründete der frühere und zukünftige belgische Premierminister Georges Theunis (1873–1944) 1927 die Belgische Vereinigung für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wenig später wurde er Präsident der Internationalen Handelskammer, die sich ebenfalls positiv zur europäischen, noch mehr aber zur weltweiten Handelsfreiheit stellte.81 Freilich befanden sich Freihändler und Zollunionsbefürworter zum Teil im eigenen Land in der Minderheit gegenüber den zahlreichen Protektionisten aus dem Agrarmilieu und den mit Importen konkurrierenden Produzenten. Es genügte jedoch, dass einige einflussreiche Länder in wichtigen Verhandlungsphasen den Fortschritt hemmten.
Ein zentraler Vertreter der Wirtschaftsverständigung war der luxemburgische Stahlindustrielle Émile Mayrisch (1862–1928). Seine Teilnahme am Internationalen Stahlkartell hatte wirtschaftspolitische Gründe, die er als Industrieller eines kleinen Landes nicht ändern konnte. Obgleich eigentlich ein Verfechter freier Märkte, auf denen sich der von ihm geleitete luxemburgisch-multinationale Stahlkonzern Acièries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange (ARBED) mühelos hätte behaupten können,82 wirkte Mayrisch 1926 auch an der Entstehung des Internationalen ("saarländisch"-französisch-belgisch-luxemburgisch-deutschen) Stahlkartells mit. Da die nationalen Schwerindustrien für die Kriegswirtschaft entscheidend waren, kam der Zusammenarbeit der Schwerindustriellen Mitte der zwanziger Jahre eine eminente symbolische und politische Bedeutung zu.
Dem ARBED-Konzern war es nach dem Krieg gelungen, linksrheinische Stahlhütten bei Aachen und im – dem Völkerbund unterstellten, aber von Frankreich verwalteten – Saargebiet zu erwerben. Infolgedessen stieg ARBED bis zur Gründung der Vereinigten Stahlwerke (1926) zum größten multinationalen Stahlkonzern Europas auf und errichtete eine weltumspannende Verkaufsorganisation. Ein wie auch immer gestaltetes Kartell konnte diesem Stahlriesen, der auch Bergwerke betrieb und seine Produktionsstätten nach dem Krieg massiv modernisierte, nur Ketten anlegen. Doch ARBED hing von Kokslieferungen aus Deutschland ab, die dem alliierten Reparationsregime unterlagen. Folglich musste sich Mayrisch mit der französischen Regierung gut stellen, die nach dem Krieg die belgischen und luxemburgischen Produzenten in Marktabsprachen drängte, um kleinere französische Hütten vor Nachfrageeinbrüchen bzw. Preisverfall zu schützen. Die Wirtschaftlichkeit von ARBED wie anderen großen Stahlkonzernen hing dagegen davon ab, durch Kapazitätsauslastung die Gewinne zu maximieren. Daher war ARBED auf Exportmärkte dringend angewiesen. Und diese drohten in den Nachbarländern aufgrund wiederholter staatlicher Interventionen zum Schutz von nicht marktfähigen Stahlproduzenten wegzubrechen. Zudem war der nach dem Versailler Vertrag garantierte relativ freie Zugang zum deutschen Markt auf fünf Jahre befristet (bis zum 9. Januar 1925).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen berief Mayrisch 1925 erstmals ein Treffen europäischer Hüttenindustrieller nach Luxemburg ein. Ein Abkommen mit deutschen Produzenten über Marktkontingente für die lothringische und luxemburgische Stahlproduktion wurde zunächst unter Einfluss der französischen Regierung durch das französische Comité des forges desavouiert. ARBED lief Gefahr, zwischen der Stahlpolitik Frankreichs und Deutschlands aufgerieben zu werden. Paris oktroyierte dem Saargebiet im Juli 1925 eine Wirtschaftsunion mit Frankreich auf. Daraufhin beschloss Berlin, das Zollmoratorium für diejenigen Stahlproduzenten im Saargebiet aufzuheben, die sich nicht dem deutschen Verkaufskartell "Rohstahlgemeinschaft" anschlossen. Mit dem Risiko einer deutsch-französischen Einigung unter Ausschluss Luxemburgs konfrontiert, trat Mayrisch mit den Unternehmen des ARBED-Konzerns in Aachen und im Saargebiet dem deutschen Kartell bei, um für die betreffenden Betriebe den Marktzugang zu sichern. Mayrisch wandte sich also von Frankreich ab und der ihm aufgrund der deutschen Koksproduktion stärker erscheinenden Schwerindustrie im Ruhrgebiet zu.
Im Dezember 1925 machte der deutsche Industrielle Fritz Thyssen (1873–1951) das Inkrafttreten der getroffenen Vereinbarungen jedoch von einem Beitritt des Konzerns ARBED zu einem allgemeinen deutsch-französisch-luxemburgisch-belgischen Stahlkartell abhängig. Um die für ARBED vorteilhafte Vereinbarung zu sichern, nahm Mayrisch den Vorschlag an und wurde somit gegen seine eigenen marktliberalen Überzeugungen zum Förderer des internationalen Stahlkartells. Die Idee einer Wirtschafts- oder Zollunion spielte beim Stahlkartell keine Rolle, wohl aber machte die Quotenregelung Zölle praktisch überflüssig. Das Stahlkartell war somit indirekt ein Vorläufer der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1952, innerhalb derer jedoch die Methoden der Zusammenarbeit gegenüber der Zwischenkriegszeit stark verändert wurden.
Verschiedene politisch-ökonomische Faktoren drängten Mayrisch also zur Unterstützung einer kartellären Verständigungspolitik, deren Schaden für die Verbraucher sich jedoch aufgrund der schwachen Zwänge, die das Kartell den Mitgliedern auferlegte, in engen Grenzen hielt. Der eigentliche Gewinn bestand darin, dass Mayrisch durch seine zentrale Rolle im europäischen Stahlgeschäft in die Rolle eines deutsch-französischen Mittlers hineinwuchs. Dem Problem der deutsch-französischen Aussöhnung widmete sich das von ihm im Mai 1926 gegründete Deutsch-Französische Komitee für Information und Dokumentation (kurz: Deutsch-Französisches Studienkomitee).83 Man wird Mayrischs Bedeutung nicht schmälern, wenn man einräumt, dass er die Interessen seines Stahlkonzerns dadurch wahren wollte, dass er sich auf politisch-kulturellem Gebiet für die französisch-deutsche Aussöhnung einsetzte. Mayrisch lud regelmäßig etwa sechzig Industrielle, Politiker und Schriftsteller und Publizisten zu einem Meinungsaustausch über deutsch-französische Probleme auf das luxemburgische Schloss Kolpach ein. Dazu zählten der Politiker Pierre Vienot (1897–1944), der Germanist Robert d'Harcourt (1881–1965), der Herausgeber der französichen Tageszeitung Le Figaro Wladimir d'Ormesson (1888–1973) sowie auf deutscher Seite der Romanist Ernst Robert Curtius (1886–1956) und der Zentrumspolitiker und spätere Reichskanzler Franz von Papen (1879–1969).84 Auf französischer Seite stellte Jacques Seydoux die Verbindung zur UDE her. Das Bewusstsein, dass der Friede vom Erfolg der deutsch-französischen Aussöhnung abhänge, wurde auf diese Weise gestärkt. Der Kreis blieb jedoch auf eine schmale, überwiegend konservative Wirtschaftselite begrenzt. Vertreter von Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften wurden nicht einbezogen. Mayrisch kam bereits 1928 bei einem Autounfall ums Leben. Das Komitee traf sich noch einige Jahre, doch seine Aktivitäten nahmen während der Weltwirtschaftskrise ab.
Kulminationspunkt und Niedergang der Europa-Netzwerke
Die Aktivitäten der Europa-Netzwerke seit Mitte der zwanziger Jahre schufen ein sich vom dominierenden Nationalismus absetzendes, neues politisches Klima, das sich 1929/1930 im Briand-Plan niederschlug. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und während der folgenden dreißiger Jahre erlebte der Europa-Gedanke allerdings einen Niedergang. Zwar gab es weiterhin Bemühungen um eine deutsch-französische Verständigung, doch diese artikulierten sich isoliert im bilateralen Raum und basierten auf gegenseitigem kulturellen Interesse und traditionellen Formen des Ausgleichs nationaler Interessen. Konservative Milieus beider Länder sowie einige Deutsche, die sich von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließen, bildeten den Mittelpunkt. Der von ihnen postulierte Gedanke der Völkerverständigung stand jedoch in einem immer offensichtlicheren Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie, Gewalt und Kriegsvorbereitung.85
Infolgedessen erlangte der Gedanke einer europäischen Föderation erst mit der wachsenden Bedrohung durch den Nationalsozialismus Ende der dreißiger Jahre wieder eine politische Bedeutung. Im Jahre 1940 versuchte Jean Monnet (1888–1979)[], der Anfang der zwanziger Jahre Untergeneralsekretär des Völkerbunds gewesen war, den britischen Regierungschef Winston Churchill (1874–1965)[] von der Notwendigkeit einer Union zwischen Frankreich und Großbritannien zu überzeugen. Damit sollte eine französische Niederlage gegen Hitler-Deutschland abgewendet werden. Churchill folgte dem Drängen Monnets und bot eine Vollunion Frankreichs mit dem britischen Weltreich an. Die französische Regierung lehnte unter dem Einfluss Marschall Philippe Pétains (1856–1951) ab. In ähnlicher Weise versuchten 1939 bis 1943 Mitglieder der polnischen Exilregierung in London, darunter insbesondere General Władysław Sikorski (1881–1943), mit dem Präsidenten der tschechischen Exilregierung Edvard Beneš (1884–1948) eine Föderation primär im Hinblick auf die Nachkriegszeit zu vereinbaren, was jedoch an ideologischen und persönlichen Gegensätzen scheiterte. Somit zeigte der Europagedanke nach dem erneuten Ausbruch eines Weltkrieges auch sein antihegemoniales Potential.
Fazit
Die in der Zwischenkriegszeit artikulierten Europavorstellungen lassen sich genealogisch verschiedenen Traditionen zuzuordnen: Während gerade auf deutscher Seite hegemoniale Mitteleuropakonzepte, die vor dem bzw. während des Ersten Weltkriegs formuliert worden waren, in den Europadiskurs einflossen, spielte der europäische Gedanke bis zum Ende der zwanziger Jahre auch als Mittel zur Überwindung des deutsch-französischen und, u.a. bei Nossig, auch des deutsch-polnischen Antagonismus eine Rolle. Am konstruktivsten erwiesen sich die wirtschaftlichen Europadebatten über eine stufenweise Zollreduzierung, eine Zollunion bzw. einen gemeinsamen Markt und sogar eine gemeinsame Währung. Hier wurden die möglichen Grundlagen eines europäischen Gemeinwesens erstmals skizziert. Als Leitbild für den Aufbau einer Europäischen Union gelangte auch der Gedanke einer Föderation, der bis heute von Bedeutung ist, erstmals 1929 in die politische Diskussion. Zugleich wohnte manchen Europavorstellungen eine anti-hegemoniale Tendenz inne, wobei es Briand 1929 zunächst um eine konstruktive Einbindung Deutschlands gegen sicherheitspolitische Konzessionen ging, während französische und auch britische Europäer, darunter Churchill, 1938 bis 1940 eine europäische Föderation, dann eine französisch-britische Union als einzigen Ausweg gegen den drohenden deutschen Angriffskrieg ins Auge fassten.
Die Europa-Netzwerke blieben weitgehend auf den Bereich der demokratischen Eliten, die sich vielfach aus der Interparlamentarischen Union kannten, publizistischer oder wirtschaftlicher Eliten beschränkt. Diese mangelnde Breite schwächte die Europa-Bewegung, so dass der Ausbau von Austauschbeziehungen, Städte- und Schulpartnerschaften nach 1945 zu einem wesentlichen Bestandteil der von der Politik schließlich gewollten europäischen Einigung wurde. Doch die entscheidenden Hindernisse, die sich einer Verwirklichung europäischer Einigungspläne zwischen den Kriegen entgegenstellten, waren die nationalistischen Mentalitäten einer Mehrheit der Eliten und Entscheidungsträger, der fraglichen Legitimität der Versailler Ordnung – die gegen ihre eigenen Prinzipien verstieß und damit Wunden offenhielt, deren Heilung die Entscheidungsträger hätten besser fördern sollen –, der auch wirtschaftlich bedingten Fragilität der demokratischen Ordnungen in Mittel-, Ost- und Südeuropa sowie die zwischen den Kriegen misslungene Integration Deutschlands in das internationale System begründet.