Lesen Sie auch den Beitrag "La représentation cartographique de l’Europe à la Renaissance" in der EHNE.
Einleitung: Ist Europa etwas Reales oder etwas Imaginiertes?
Ist Europa etwas Reales oder etwas Imaginiertes? Das, was im Lauf der letzten drei Jahrtausende als Europa bezeichnet wurde, änderte sich ständig; man kann sich nie sicher sein, dass zwei Personen dasselbe meinen, wenn sie Europa sagen. Unstrittig hingegen ist, dass spätestens seit dem frühen 6. Jahrhundert v. Chr. ein von der "spanischen" Atlantikküste bis zum Ostufer des Schwarzen Meeres reichender Raum als Kontinent begriffen und als Europa bezeichnet wurde. Nach Norden verlief sich dieses Europa ins Ungewisse, allerdings nahm man auch im Norden Wassergrenzen (Meer) an bzw. wertete entsprechende Informationen dahingehend aus. Jedenfalls entstanden in der griechischen Antike insoweit klare Vorstellungen von der Erde, dass von der Existenz dreier Kontinente ausgegangen wurde, die Europa, Asia und Libya (≈ Afrika) genannt wurden und die überall von Wasser, sprich: von Ozeanen, begrenzt wurden. Europa wurde doppelt so groß vorgestellt wie Asien und nahm die ganze nördliche Hälfte der Welt ein. Verdichtete geographische, topographische und allgemein kulturgeschichtliche Informationen existierten vorwiegend für den Mittelmeerraum.
Es ist unsicher, wann eine Verbindung zwischen der weiblichen Figur der griechischen Mythologie namens Europa und dem Kontinent Europa geschaffen wurde. In seiner um 700 v. Chr. entstandenen Theogonie führt Hesiod eine Göttin Europe an, deren Bezug zum Kontinentnamen aber unklar ist. Die weitverbreitete Annahme, dass Europa nach dem Europamythos benannt sei, also nach der von Zeus in Gestalt eines Stiers entführten phönizischen Königstochter namens Europa, trat zwar schon in der Antike auf, aber es handelte sich hierbei um Spekulationen und Konjekturen. Anders ausgedrückt: Niemand wusste es genau – und das ist bis heute so geblieben.1
Europa stellte von Anfang an eher etwas Imaginiertes denn eine genau definierbare Realität dar. Dies ist typisch für kulturelle Referenzen, die etwas Imaginiertes kulturellen Ursprungs und Charakters in einer Kultur präsent halten. Das Imaginierte wird mit Personen, Artefakten, Räumen und Ideen verbunden, aber es bleibt dehnbar, veränderbar, vielfach einsetz- und verwendbar. Kulturelle Referenzen eignen sich als Zitate; sie dienen der Begründung von Zukunftsplänen, wie wir sie in Bezug auf Europa seit Jahrhunderten kennen; sie dienen der raumübergreifenden Kommunikation und Verständigung oder der raumübergreifenden Kontroverse. Sie dienen auch als Korrektiv, so etwa, wenn dem Nationalen Europa entgegengestellt wird.
Die Entstehung der kulturellen Referenz Europa
Die Welt, wie sie in der griechischen Zivilisation, die als Ursprung von Europavorstellungen maßgeblich ist, gedacht wurde, besaß anfangs den Charakter einer Oikumene. Ob bei Hecataeus (um 550 v. Chr.) oder Herodot (um 450 v. Chr.), die drei Kontinente bildeten eine zusammenhängende Landmasse, die durch Meere und Flüsse strukturiert wurde. Doch bei Krates von Mallos (um 150 v. Chr.) findet sich bereits ein Zonenmodell der als Kugel vorgestellten Erde. Es gab die unbewohnbaren Pole, die unbewohnbare Äquatorialzone sowie vier bewohnbare Zonen (je zwei auf der Nord- und Südhalbkugel), die jeweils durch Ozeane getrennt und begrenzt waren. In der Geschichte der Imagination der Welt bedeutete diese Aufteilung der einen Landmasse in mehrere, durch Wasser voneinander getrennte Landmassen einen entscheidenden Schritt, der es später erlaubte, die einzelnen Kontinente zu eigenständigen kulturellen Referenzen werden zu lassen.
Dieser Schritt wurde allerdings erst im Lauf des Mittelalters vollzogen. Zunächst hatte auch hier die oikumenische Auffassung der Welt Vorrang, wie sie sich in den mittelalterlichen Weltkarten ausdrückte. Wie schon in der Antike existierten Zonenmodelle und oikumenische Modelle nebeneinander, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Rund 200 Jahre nach Krates von Mallos zeigte Pomponius Melas (um 50 n. Chr.) Weltkarte (43 n. Chr.) keine Zonen, sondern eine Welt aus einer Landmasse, die durch Meere, Flüsse und die drei Kontinentnamen strukturiert wird. Weit später, im 12. Jahrhundert, finden sich mittelalterliche Zonenmodelle, aber auch Weltkarten nach dem T-Schema, in denen die drei Kontinente bereits deutlich voneinander unterschieden werden, aber immer noch als Oikumene begriffen werden.2
Der Grund hierfür waren zwei Fundamente, an denen noch nicht zu rütteln war: Die Welt war eine Schöpfung Gottes; es handelte sich um eine ganzheitliche und vollkommen weise Schö
Was das genau hieß, lässt sich, ohne die ungefähr 1.100 mittelalterlichen Weltkarten über einen Kamm zu scheren, gut anhand der berühmten Ebstorfer Weltkarte erkennen. Aus 30 Pergamentblättern bestehend, 3,56 Meter mal 3,58 Meter groß, wurde diese aus dem 13. Jahrhundert stammende und wohl größte europäische Weltkarte3 des Mittelalters im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstört, später jedoch am angestammten Platz, dem Kloster Ebstorf in der Lüneburger Heide, rekonstruiert.4 Der Betrachter sieht den Kopf, die Hände und Füße Christi, das heißt die Erde ist entweder der Leib Christi oder sie wird von Christus getragen. Aus der Heilsgeschichte sind folgende Orte eingetragen:5 Jerusalem als Mittelpunkt der Erde (Christus wird gezeigt, wie er mit der Siegesfahne dem Grab entsteigt), das Paradies am östlichen Erdrand, die Kornspeicher Josefs (Ägypten), die Arche Noah am Berg Ararat (Armenien, heute Ostgrenze der Türkei), der Turm zu Babel sowie Sodom und Gomorrha. Aus dem Neuen Testament sind Stationen aus dem Leben Christi verzeichnet wie Bethlehem und der Stern, der die drei Könige führte, aber auch "die wilden Völker Gog und Magog, die Alexander d. Gr. eingesperrt haben soll, bis sie im Gefolge des Antichrist die Erde verheeren".6 Europa wird durch Rom und seine Kirchen sowie durch bedeutende Orte der Verbreitung des Christentums, darunter das Kloster Ebstorf, ausgezeichnet. Es wird jedoch deutlich, dass Europa eben mit diesen Ursprüngen nichts zu tun hat, sondern erst in der fortschreitenden Heilsgeschichte Bedeutung erlangte. Zudem hatte sich mittlerweile eine realistischere geographische Sicht Europas durchgesetzt; Europa macht nicht mehr die Hälfte, sondern nur mehr ein Viertel der Erde aus.
Diese Sicht wurde später gelegentlich zugespitzt, wenn Europa ein anderer Name gegeben wird, nämlich Jafetien oder Land des Jafet (Weltkarte des Hans Rüst). Da sich der heidnische Europamythos nicht als Ursprungsmythos oder -legende des christlichen Europas eignete, verfiel man auf Jafet, jenen Sohn Noahs, dem laut Altem Testament Gott Europa und ein Stück von Asien zuteilte und der somit zum Stammvater der christlichen Europäer erhoben wurde. Parallel gab es Ansätze, den Europamythos christlich zu interpretieren, allerdings konnte sich diese Version vom Ursprung der Europäer nicht durchsetzen. Nimmt man all diese Elemente zusammen, so entwickelte sich in den mittelalterlichen Jahrhunderten Europa trotz aller Oikumene und Heilsgeschichte allmählich zu einem unterscheidbaren Kontinent, der evoziert und als kulturelle Referenz adressiert werden konnte.
Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts beschleunigte sich die Entwicklung spürbar. Die Osmanen expandierten unaufhaltsam. Der Fall Konstantinopels 1453 war das absehbare vorläufige Ende des Prozesses. Zwar war Trapezunt noch nicht unterworfen und bis zum Vordringen der Osmanen bis vor Wien sollte noch Zeit vergehen, aber auf einer symbolischen Ebene wurde der Fall Konstantinopels durchaus als tragisch wahrgenommen. Plötzlich wurde klar, dass Europa auf sich selbst zurückgeworfen wurde. Noch deutlicher wurde dies den Zeitgenossen vor Augen geführt, wenn sie sich überlegten, was eigentlich von der Christenheit übrig geblieben war, nämlich nur die europäische Christenheit. Freilich war diese Perspektive etwas schief. Es gab ja immerhin die orthodoxen Kirchen, und auch die Christen verschwanden nicht automatisch mit dem Vordringen des Osmanischen Reiches, sondern lebten weiter in ihren angestammten Gebieten; die Konversionen zum Islam waren ein allmählicher und zu keiner Zeit ein vollständiger Prozess. Nun, wie gesagt, es wurde tragisch genommen – und Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II., prägte die langlebige Metapher vom "Haus Europa". Spätestens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde Europa als Haus, später als ins Bild setzbare Christliche Republik, herausgearbeitet und geradezu singulär gesetzt. So singulär war diese Setzung, dass die im Zuge der Entdeckungen auftretenden, bis dahin den Europäern unbekannten Menschen, die man Indianer nennen sollte, einer Rückbesinnung auf die alte oikumenisch-heilsgeschichtliche Interpretation der Welt bedurften, um sie gesichert als Menschen einzustufen.
Die Konstituierung Europas als kulturelle Referenz
Europa wurde also zu einer kulturellen Referenz, auf die man sich beziehen, die man adressieren, evozieren, instrumentalisieren, mythisieren und politisieren konnte. Der Begriff der kulturellen Referenz ist berechtigt, denn real gab es kein Europa: Kein Reich umfasste eine Gesamtheit namens Europa; das blieb Traum und Illusion. Die geographische Definition und Eingrenzung war umstritten:7 Der berühmte Geograph Abraham Ortelius (1527–1598) sah 1570 die Ostgrenze Europas in einer Linie vom Schwarzen zum Weißen Meer. Sie verlief nur wenig östlich von Moskau. Vom Ural als Ostgrenze war noch keine Rede. Der französische Kartograph André Thevet (1502–1590) legte 1575 die Ostgrenze ab der Höhe Moskau nach Norden teilweise ein Stück weiter östlich als Ortelius, um sie dann an derselben Stelle wie jener ins Weiße Meer münden zu lassen. Philippus Cluverius (1580–1622) wagte sich 1616 weiter nach Osten und zog Europas Ostgrenze über die Flüsse Don, Wolga, Kama und Ob. Sie wich über die längste Strecke deutlich von Ortelius und Thevet Richtung Osten ab. Im späten 17. Jahrhundert grenzte der Niederländer Gerard Valck (1651–1726) Europa im Osten so ab: vom Schwarzen Meer durch den Kaukasus zum Kaspischen Meer, Uralfluss, Tobol, Irtysch und Ob. Im 18. Jahrhundert überzeugte der in Russland nach der Schlacht von Poltawa (1709) festgehaltene schwedische Offizier Philip Johan Strahlenberg (eigentlich: Philip Johan Tabbert, 1676–1747) mit seiner Auffassung. Er propagierte aufgrund empirischer Beobachtungen den Ural als Grenze zwischen Europa und Asien. Es war nicht das Gebirge als solches, sondern die Veränderung der Vegetation und anderes, das ihn veranlasste, eine in der "Natur" sichtbare Grenze zu konstatieren. Dieser empirische Zugriff erwies sich als erfolgreich, noch heute wird gerne das Schlagwort "Europa vom Atlantik bis zum Ural" in den Mund genommen. Dies täuscht ein wenig darüber hinweg, dass trotz Strahlenbergs Rezeptionserfolg die Uralgrenze keineswegs unbestrittenen Konsens erlangte. Parallele Definitionen blieben im Gespräch. Immer wieder wurden auch radikale Neudefinitionen in Umlauf gebracht wie im Zuge des Eurasismus.8 Die Gründung der Sowjetunion begünstigte die Vorstellung vom Eurasischen Kontinent, der weitgehend mit der Ausdehnung der UdSSR übereinstimmte.
Wird Europa geschichtlich betrachtet, lässt sich erst recht kein Europa im Singular feststellen. Die Unterteilung des Römischen Reichs in Ost- und Westrom zeitigte nachhaltige Wirkungen, die sich ins 19. Jahrhundert bis zu den griechischen Freiheitskämpfen fortsetzten, insoweit dass das Osmanische Reich das Byzantinische in sich aufsog und für ein Fortbestehen nicht nur politischer, sondern, wenn auch unter neuen Vorzeichen, kultureller und religiöser bzw. konfessioneller Grenzen sorgte. Was Westrom anbelangt, so wanderte der Schwerpunkt vom Mittelmeer mit dem Reich Karls des Großen (747–814) und seinem expliziten Bezug auf die Kontinuität zum Römischen Reich nördlich der Alpen: Zu ihm zählten römisch-romanisch und germanisch sowie slawisch geprägte Gebiete. Erst in der Renaissance wurde versucht, die Geschichte südlich der Alpen und Geschichte nördlich der Alpen als zusammengehörige Geschichte zu begreifen.9
Die Idee von einer Universalmonarchie in Europa war stark – bis zu Napoleon I. (1769–1821).10 Aber sie konnte nie umgesetzt werden, stattdessen entwickelten sich seit dem ausgehenden Mittelalter und der Renaissance in immer größerer Deutlichkeit künftige Nationalstaaten. Es existierte somit zu keinem Zeitpunkt in der europäischen Geschichte ein reales, Europa umfassendes Reich. Das gilt ebenso für den Anspruch der Päpste.
Europa als kulturelle Referenz kompensierte dies: Was nicht ist, ist umso besser imaginierbar und für vielerlei Zwecke verwendbar. Europa war ein Projektionsraum, um den Machtkonflikte ausgetragen wurden. In Europa als kultureller Referenz summierten sich kulturelle und andere Gemeinsamkeiten, die beliebig zitiert werden konnten.
Wie Europa als kulturelle Referenz in der Praxis funktionierte, soll am französischen Beispiel gezeigt werden.11 In der Schlacht von Bouvines (1214) besiegte der französische König Philipp II. (1165–1223) Kaiser Otto IV. (1175–1218) und die Kaiserkrone ging damit an den von Philipp favorisierten Staufer Friedrich II. (1194–1250). Aus diesem Ereigniskomplex entstand ein spezifischer Zuschnitt von Europa als Referenz: Frankreich spielte die Rolle eines selbstlosen Schiedsrichters Europas. Eine solche Rolle sollte auch England im 16. Jahrhundert für sich beanspruchen, aber die längste Kontinuität zeigt sich in Frankreich. Das Wohlergehen Europas wird durch die französische Schiedsrichterfunktion gewährleistet. Für das Selbstverständnis gerade auch nach innen stellte Europa so eine Referenz dar, die je nach politischer Lage adressiert wurde. Dies zieht sich bis zu Maximilien de Béthune Sully (1560–1641) in den 1630er Jahren hin. Sully, nicht nur Minister, sondern auch Freund Heinrichs IV. (1553–1610), fügte in seine Memoiren, die er als Pensionär während des Dreißigjährigen Kriegs schrieb, allerlei europapolitische Ideen und Planungen ein, die er Heinrich IV. in den Mund legte. Diese wurden später, exzerpiert und zusammengefasst, als Grand Dessein bekannt. Noch der englische Premierminister Winston Churchill (1874–1965) glaubte, dass Heinrich IV. der geistige Urheber dieses Planes einer vollständigen politischen Neuordnung Europas gewesen sei.12 Worum es ging, war eine Neuordnung zum Wohle Europas, bei der Frankreich keine Territorialgewinne beanspruchte, sondern als altruistischer Mittler aufgetreten wäre. Gerne griffen Ludwig XIV. (1638–1715), Ludwig XV. (1710–1774) und Ludwig XVI. (1754–1793) diese Vorlage auf. Nicht ohne Einfluss blieb dabei das Selbstverständnis Frankreichs als "älteste Tochter der Kirche", seine Rolle bei den ersten Kreuzzügen, die es zur Wächterin der wahren europäischen Identität, nämlich der katholisch-christlichen machte. Bis heute lässt sich in der französischen Politik dieser Bezug auf ein ungenau definiertes Europa feststellen, für das Frankreich Verantwortung trage, ohne dieses Europa jedoch zu beherrschen.
Cum grano salis gilt dies für weitere Monarchien oder spätere Republiken in Europa, die ihre politischen Handlungen mit der Notwendigkeit, dies für Europa zu tun oder tun zu müssen, begründen.
Europa als kulturelle Referenz in der Neueren Geschichte
Wird kulturelle Referenz in einem wörtlichen Sinn aufgefasst, nämlich als die Vorstellung Europas als Kultur, die in verschiedenen Zusammenhängen referenziert wird, verweist ein solcher Zugriff auf die Erdteilallegorie Europa und auf die intellektuelle Konzipierung Europas als Kultur. Ersteres gewinnt im späten 16. Jahrhundert an Bedeutung, Letzteres um die Mitte des 18. Jahrhunderts.
Erdteilallegorien porträtieren ganze Kontinente als Zivilisation; in der Allegorie erscheint ein Kontinent als zivilisatorische Einheit, die auf einen Blick an kulturellen Kernmerkmalen erkennbar ist. Im Falle Europas sind es die Krone, das Pferd, eine Kirche, die vollständige Bekleidung der Figur und, je nach Kontext und Aufwand, viele weitere Attribute, die sich insbesondere im 18. Jahrhundert vermehren und die für wichtig erachtete Komponenten europäischer Kultur hervorheben. So werden Musik, Architektur, Wissenschaften und anderes durch entsprechende Attribute repräsentiert. Im Falle der America sind solche Attribute Federschmuck, Nacktheit, Pfeil und Bogen oder ein wildes Tier. Die Africa ist dunkelhäutig und zeigt viel Haut; ein wildes Tier begleitet sie. Die Asia erweist sich zumeist als nächste Schwester der Europa, d.h. sie ist in der Regel vollständig bekleidet. Gewürze und ein einheimisches Tier, wie z.B. das Kamel, sind ihre Attribute. Der Europa wird besonders gern ein überquellendes Füllhorn in die Hand gedrückt, um Überfluss und Reichtum dieses Kontinents auszudrücken.13
Die Erdteilallegorie der Europa ließ sich je nach Interesse und Zielsetzung unterschiedlich aufladen. Dies wurde durch die Wahl entsprechender Attribute deutlich gemacht, aber auch durch das gesamte Bildprogramm des Raums, der Fassade oder des Gartens, zu dem die allegorische Darstellung gehörte. Mal wurde eher der christlich-missionarische Gesichtspunkt, mal der politisch-kulturelle Aspekt der europäischen Überlegenheit,14 mal die Konzeptualisierung der Welt durch die bekannten Viererschemata (vier Jahreszeiten, vier Elemente, vier Kontinente usw.) oder anderes in den Vordergrund gestellt.
Ikonographisch reichen die Vorbilder für Erdteilallegorien in die Antike zurück, aber es ist nicht ganz geklärt, was den Ausschlag für die Flut an Erdteilallegorien seit dem späten 16. Jahrhundert gab. Eine Personifikation drückt besonders klar aus, dass das Dargestellte als Entität begriffen wird. In Bezug auf die Erdteilallegorie Europas bedeutet dies, die Einheit Europas sichtbar in den Vordergrund zu stellen. Unter Außerachtlassung ungeklärter Überlieferungsverhältnisse15 tauchte 1537 eine Darstellung Europas als Erdteilallegorie dergestalt auf, dass die geographischen Konturen Europas zu einem weiblichen Körper stilisiert werden.
Tieferer Sinn dieser von dem Humanisten Johannes Putsch (1516–1542) geschaffenen Europa ist die Verbildlichung der Idee von der Christlichen Republik. Ob die späteren Erdteilallegorien mit dieser Europa etwas zu tun haben, ist aufgrund von Überlieferungslücken nicht zu beweisen.16 Wie auch immer, die europäische Expansion des 16. Jahrhunderts, die Bedrohung durch die Osmanen und die empirisch geleitete Erforschung der europäischen Regionen lieferten umfassenden Stoff, um Europa in Fortsetzung der schon in den mittelalterlichen Weltkarten sich abzeichnenden Verselbständigung des Weltteils Europa als Entität zu begreifen und adäquat darzustellen. Nicht zuletzt auch kulturell zeigte sich Europa zunehmend als Entität, als "europäische Kultur", die einen Kontra- und Bezugs-, also Referenzpunkt zur wachsenden Regionalisierung und Nationalisierung der Kulturen in Europa bedeutete. Die Hochzeit von Europa als kultureller Referenz begann mit dem späteren 16. Jahrhundert und brach sich in der Ikonographie eine Bahn. In der weiblichen Allegorie der Europa verbanden sich mehrere Traditions- und Erzähllinien. Die Erdteilallegorie im engeren Sinn trat gewöhnlicherweise nur im Kreis der vier Erdteile auf. Die weibliche Figur der Europa, vermutlich abgeleitet von der Europa des Mythos und von dessen Zutaten abgetrennt, konnte zudem für sich stehen. In der Literatur wie in bildlichen Darstellungen tauchte die Europa als klagende, als kämpfende, als siegreiche und triumphierende Europa auf.17 Es ging soweit, dass man die Europa leibhaftig auf echten oder imaginären (in der Literatur) Bühnen auftreten ließ.18 Ein dergestalt verselbständigtes Europa lässt sich ideal referenzieren. Im Bereich der Erdteilallegorie fließen die Allegorie der Christlichen Republik und des Erdteils ineinander, denn Europa im Kontext der Kontinente darzustellen, heißt in der Frühen Neuzeit immer auch, auf den christlichen Charakter Europas abzuheben und als dessen Ausdruck die Christliche Republik anzunehmen, auf die bis ins 18. Jahrhundert in den europäischen Friedensverträgen als Christianitas Bezug genommen wird.19 In der politischen Praxis gibt es kein Europa als Christliche Republik, es ist nur eine Imagination, die jedoch überall evoziert werden kann.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entsteht im Rahmen der Kulturgeschichtsschreibung der Menschheit ein Konzept der europäischen Geschichte, die nicht Nationalgeschichten addiert, sondern auf gemeineuropäische Phänomene und Resultate von Europäisierungsprozessen abhebt. Hervorzuheben sind Voltaire (1694-1778)[], William Robertson (1721-1793)[], Johann Gottfried Herder (1744-1803)[] oder, schon dem 19. Jahrhundert zugehörig, François Guizot (1787-1874)[].20 Europa als Kultur im Singular wird damit im engeren Wortsinn zur kulturellen Referenz, auf die man sich bezieht, um die eigene Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu Europa zu unterstreichen. Da in der Historiographie der Aufklärungsepoche europäische Kultur mit Fortschritt an der Spitze der Entwicklung der Menschheit identifiziert wird, entstehen auch innerhalb Europas asymmetrische Sichtweisen: Kultur- und Forschungsreisende glauben ein deutliches Fortschrittsgefälle von West nach Ost und Südost feststellen zu können, das dazu führt, dass die kulturelle Referenz Europa zu einer Referenz Westeuropa mutiert. Östlich der Oder sieht man sich irgendwann nicht mehr in Europa, ähnlich im Südosten.21 Trotz eines durchaus europäistischen 19. Jahrhunderts verfestigen sich solche Vorstellungen in West und Ost. Nicht zufällig wurde 1989 (Öffnung des Eisernen Vorhangs) und 2004 (Beitritt mehrerer ostmitteleuropäischer Länder zur EU) von einer "Rückkehr nach Europa" gesprochen, was sich zunächst auf die Epoche des Ostblocks bezog, jedoch weiter zurückreichte.
Europa als kulturelle Referenz und Zitatensystem seit 1800
Schon die Vermehrung der Attribute, die der Erdteilallegorie Europa beigegeben wurden, deutete die Entwicklung eines Zitatensystems an. Europa als Zitatensystem zu begreifen, ist naheliegend, da ein so vielfältiges und sich beharrlich Definitionen entziehendes Gebilde auf Bestimmtes reduziert werden muss, um in jedweder Art von kommunikativer Verständigung präsent sein zu können. Der Gebrauch der Erdteilallegorie erlaubt, die europäische Kultur als solche zu zitieren. Dies ist ein Grund dafür, dass derartige Allegorien trotz einer gewissen Krise im Verlauf des 19. Jahrhunderts22 nicht obsolet wurden, sondern in der Zeit des Imperialismus sogar eine Renaissance erlebten.
Ähnliches gilt für die Europa des Europamythos, die oftmals in emblematischer Verkürzung zitiert wurde. Typisch hierfür wurden Hotels wie das 1890 erbaute Grand Hotel in Rom in der Via Vittorio Emanuele Orlanda, das zwischen den Fenstern des vierten Stocks Erdteilallegorien zeigt. Hotels dieser Klasse verweisen auf jene Schicht von Großbürgern und Aristokraten, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa äußerst mobil waren, Europa ihr Zuhause nannten und sich in solchen Hotels trafen. Zum Teil nannten sie sich Hotel Europa wie in Prag23 und referierten oder zitierten Europa so schon durch ihre Namen, die sich auf die Tradition der Erdteilallegorien oder des Europamythos bezogen.
Diese ikonographischen Zitate haben bis heute ihre Attraktivität behalten, auch wenn es sich eher um die Europa des Mythos und kaum mehr um eine Erdteilallegorie handelt. Zumeist sind die ikonographischen Zitate abstrakter, aber auch die europäische Flagge zitiert natürlich ein bestimmtes Europa: das integrierte und unterstellt harmonisch zusammenarbeitende Europa. Hotel Europa und Café Europa stellen nach wie vor beliebte Europa-Zitate dar.24 Anders als in der Frühen Neuzeit finden sich ikonographische künstlerische Variationen des Europamythos spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Ostmitteleuropa.
Europa als Zitatensystem umfasst mehr als die Ikonographie. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wiedererstand die griechische Antike insbesondere dank der Vermittlung des Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717–1768)25 als eine Hauptreferenz, als ein Hauptzitat aus der Geschichte der kulturellen Ursprünge Europas, das durch den Philhellenismus im 19. Jahrhundert und die Begeisterung für den griechischen Freiheitskampf in den 1820er Jahren mehrfach potenziert wurde.26 Ein Architekturstil, der sich an die Bauten des klassischen Athens anlehnte, durchzog Europa und prägte das sich entfaltende Athen des 19. Jahrhunderts. Das historistische 19. Jahrhundert holte verschiedene, als gesamteuropäisch verstandene und kanonisierte Epochen ins öffentliche Straßenbild und Bewusstsein. Neoromanik, Neogotik, Neorenaissance, Neobarock, Neoklassizismus und Neobyzantinismus bestimmten öffentliche Gebäude, Prachtstraßen und Bürgerhäuser und evozierten europäische Geschichte und Kultur seit der griechischen Antike. Die Wahl des Baustils und die Traditionen, auf die angespielt wurde, waren nicht beliebig. Wenn für Rathäuser bevorzugt die Neogotik und Neorenaissance bemüht wurden, so knüpften Architekten und Bauherren an die Hochzeit des städtischen Bürgertums und Patriziats im späteren Mittelalter und in der Renaissance an, als es sich selbstbewusst neben oder gegen Herrscher stellte. Tempelartige Bauten für Parlamente verstanden sich geradezu von selbst. Neoromanische und neogotische Kirchen wurden in einer Perfektion ausgeführt, die der vom romantischen Dichter Novalis (1772-1801)[] eingeleiteten Verklärung der mittelalterlichen europäischen Christenheit als goldenem Zeitalter europäischer Einheit, die sich im gemeinsamen, vermeintlich durch keine theologischen und dogmatischen Gegensätze getrübten christlichen Glauben begründete, alle Ehre machte.27
Historische Baukomplexe, hoch aufgeladen mit Bedeutung in Bezug auf die europäische Geschichte und Kultur, wurden vollendet und zu harmonischen Entitäten entwickelt. Berühmte und sprechende Beispiele sind der Kölner Dom und der Louvre, die sich beide heute als absolut vollkommene und harmonische, zugleich überaus mächtige Anlagen präsentieren, zu denen sie aber erst im 19. Jahrhundert geworden sind. Im Fall des Louvre ist die heute verwirklichte Gleichmäßigkeit niemals geplant gewesen, sondern eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts, die für sich allein den Anspruch des Paris des 19. Jahrhunderts als Kulturhauptstadt Europas repräsentierte.
Wer durch Europa reiste, bekam in den großen und vielfach auch kleineren Städten eine in der Architektur ausgedrückte kanonisierte Fassung europäischer Geschichte und Kultur als Sammlung eindeutiger Zitate zu sehen. Diese öffentliche kanonisierte Zitatensammlung verlor mit dem Ersten Weltkrieg und dem Nationalismusschub der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Grundlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Europarat die selbstgewählte Aufgabe, Europa als Zitat im öffentlichen Raum wiedererstehen zu lassen. Gemeint ist damit die Initiative, in den Städten der Mitgliedsländer Europaplätze zu schaffen bzw. vorhandene Plätze auf den Namen Europa zu taufen und eine Erinnerungstafel an die Europaratsinitiative anzubringen. Die Wirkung ist freilich mit der grandiosen historistischen Urbanistik des 19. Jahrhunderts nicht zu vergleichen, oft sind es schäbige Plätze wie ausgerechnet in Brüssel, die zum Europaplatz wurden.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich Europa als Zitatensystem von der Bildlichkeit zum Ideellen, zum ideellen, zum Wertesystem hin verschoben. Die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen im Krieg wurde als Bruch mit den historischen Werten Europas verstanden. Begriffe wie Zivilisationsbruch und Holocaust waren in den ersten Nachkriegsjahren noch nicht in Gebrauch, um dem Ungeheuerlichen einen klaren Namen zu geben; aber der Widerspruch zur europäischen Tradition, wie sie gesehen wurde, war offensichtlich. So wurde mit Nachdruck auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte als Bestandteile europäischer Tradition hingewiesen, mit der gebrochen worden und die wiederherzustellen sei. Europa wird seitdem oftmals in solchen Schlüsselbegriffen kondensiert, die im Gebrauch wie ein Zitatensystem wirken. Zugleich bilden sie gemeinsam ein spezifisches Europa als kulturelle Referenz aus, nämlich ein Europa der Werte, die an die positiv gesehene Geschichte rückgebunden werden. Neue, mit Werten aufgeladene Ziele, wie Wirtschaftsgemeinschaft, andere Gemeinschaften, Wohlstand, immerwährende Ziele wie Frieden und Solidarität bilden einen breiten Referenzrahmen.
Nach und nach rück(t)en die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dann die Europäische Gemeinschaft (EG) und nun die Europäische Union (EU) in die Position einer kulturellen Referenz, die erstmals auch negativen Charakter haben kann. Schlagworte wie Eurokratie, Eurosklerose, Vorrang der nationalen Interessen vor dem europäischen Gemeinwohl werden vor allem negativ der EU angelastet. Europa, das oft mit der EU gleichgesetzt wird, entwickelt sich zur negativen kulturellen Referenz, der nationale, regionale, wenn nicht lokale Identitäten als Referenzrahmen entgegengesetzt werden.