Einleitung
Obwohl verlustreich und furchtbar, war der von 1853 bis 1856 ausgefochtene Krimkrieg zugleich ein farbenprächtiger, visuell faszinierender Krieg, dessen ästhetischer Reiz an der Schwelle der Moderne nicht nur von traditionellen Kunstgenres in Adelspalästen festgehalten, sondern auch durch neue Bildmedien wie Photographie, Lithographie und Presseillustration in breite, bis dahin an visueller Kultur kaum beteiligte Bevölkerungsschichten getragen wurde. Dennoch hat der vor über 150 Jahren in Vorderasien ausgetragene Konflikt in Mitteleuropa wenige Erinnerungsspuren hinterlassen. Russland war das Land, das mit der Besetzung der Nordwestregion des kränkelnden osmanischen Reiches (des heutigen Rumänien und Bulgarien) die bald zahlreiche Staaten involvierenden Kampfhandlungen auslöste. England und Frankreich sorgten sich um ihre mediterranen Interessen, schlossen ein Bündnis mit dem Sultan Abdülmecid I. (1823–1861) und schickten eine Expeditionsarmee nach Varna am Schwarzen Meer. Zar Nikolaus I. (1796–1855) zog daraufhin seine Truppen zurück, aber der von einer gesellschaftlichen Russophobie getragene Rachedurst der bürgerlichen Presse in England trieb Königin Viktoria (1819–1901) und ihre Regierung in einen Krieg, den sie nicht wünschten. Napoleon III. (1808–1873) wiederum sah in einem Feldzug gegen Russland die Chance, Frankreich die 1815 verlorene europäische Großmachtstellung zurückzugeben.
Nach einer Wartezeit an der Donaumündung wurde daher das englisch-französische Expeditionscorps von etwa 58.000 Mann im September 1854 mit dem Auftrag auf die Krimhalbinsel entsandt, den russischen Kriegshafen Sewastopol einzunehmen, die Docks in die Luft zu sprengen und dann die langfristig unhaltbare Krim wieder zu räumen. Das Manöver sollte nur wenige Tage dauern. Trotz spektakulärer Siege in anfänglichen Feldschlachten wurden die Alliierten aber auf der Krim in einen langwierigen Belagerungskrieg verwickelt, in dem sich die gegnerischen Armeen den ganzen Winter hindurch ergebnislose Gefechte lieferten. In diesen Monaten kam fast die gesamte britische Armee ums Leben – nicht durch Feindfeuer, sondern durch Hunger, Kälte und Cholera, da die englischen Lords zwar vortrefflich zu Pferde saßen, aber wenig von Nachschuborganisation verstanden und auch keine nennenswerte medizinische Vorsorge getroffen hatten. Erst mit der Rückkehr des warmen Wetters und der Aufstockung der französischen Armee auf 130.000 Soldaten wendete sich das Blatt zugunsten der Alliierten. Insgesamt sollte es ein Jahr und wenigstens 300.000 Tote kosten, bis das beschränkte Kriegsziel der Einnahme Sewastopols mit dem blutigen Sturmangriff vom 8. September 1855 erreicht war. Insgesamt forderte der Krimkrieg fast 800.000 Menschenleben.1
Nichtsdestoweniger wäre er heute von geringem Interesse, wenn es sich nicht um den ersten "modernen" Krieg der Geschichte handelte, in dem Präzisionsgewehre, Dampfschiffe und Chloroform eingesetzt wurden. Generäle schickten ihre Befehle bereits telegraphisch in die Gräben, und Munition gelangte per Eisenbahn an die Front. In der lange auf epische Schlachtschilderungen spezialisierten britischen Historiographie fanden diese modernen Elemente nur verspätete und marginale Beachtung, ganz zu schweigen von den Kriegsaspekten, die mit ästhetischen Mitteln zu tun haben. Gemeint ist die Masse der optischen Signale und Bilder, die dem Krimkrieg in den Augen der Zeitgenossen einen visuell einmaligen Charakter verliehen. Indem sie sich auf schriftliche Quellen konzentrierten, haben Historiker die bildliche Hinterlassenschaft des Krimkriegs lange ignoriert – sie schien nicht der primären Schicht historischer Handlungen und Realitäten anzugehören, sondern nachträglicher Spiegelreflex und kosmetische Verbrämung zu sein. Eine gründliche Sichtung dieser Bildquellen zeigt aber, dass die Ästhetik eine funktionale Kriegskomponente und somit für das historische Endresultat mitentscheidend war. In vielerlei Hinsicht bildet diese Ästhetisierung des Kriegsgeschehens den modernsten Aspekt der Krimkampagne.2
Doch ist zu präzisieren, was mit "Bildquellen" gemeint ist. In der Frühen Neuzeit war die Historienmalerei, zunehmend unterstützt von der breiter streubaren Druckgraphik in Form von Einzelblättern oder gelegentlichen Zeitungsbeilagen, für die visuelle Vermittlung geschichtlicher Ereignisse zuständig und richtete sich überwiegend an die Adresse exklusiver Honoratiorenkreise. Augenzeugenschaft wurde hier nicht erwartet, und so hinkten Historienbilder um Jahre und Jahrzehnte dem abgebildeten Geschehen hinterher. Sie griffen also nicht in den geschichtlichen Ablauf ein, sondern hatten eine nachträglich kommemorative Funktion. Die zunehmende Beschleunigung der historischen Prozesse untergrub jedoch die Relevanz des Genres, und im Lauf des 19. Jahrhunderts kam es zur Ablösung der Historienmalerei durch die Bildreportage, wenn auch traditionelle Formen von Geschichtsdarstellung marginal weiterlebten. Jedenfalls markiert das Aufkommen der Presseberichterstattung einen tiefen Einschnitt in die Modalitäten der Vermittlung und damit der Produktion von Geschichte. Statt der langsamen, durch Agrarwirtschaft und Feudalherrschaft bestimmten Zeitrhythmen vergangener Jahrhunderte schrieben nun Technik und Industrie der Geschichte das Tempo vor und ermöglichten die virtuelle Simultaneität von Ereignis und Vermittlung. Die Verbreitung von Bildnachrichten diesem Tempo anzupassen bereitete zunächst Schwierigkeiten, aber mit Hilfe neuer Transportmittel (Eisenbahn) und Drucktechniken (Holzstich) machten ab 1842 Wochenzeitungen wie die Illustrated London News, die Pariser L'Illustration und die Leipziger Illustrirte Zeitung sowie seit den 1880er Jahren dann auch die Tagespresse die visuelle Information einer breiten bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich. In der Folge trennten sich verschiedene "low-brow"-Genres verbaler und visueller Kommunikation von der hohen Literatur und Kunst ab.
Gleichzeitig bildeten sich neue Ansprüche an faktische Korrektheit und Authentizität heraus. Der unverblümten fürstlichen Propaganda von einst wurde in der bürgerlichen Presse ein dem Selbstverständnis nach unparteiischer, Objektivitätsnormen verpflichteter Apparat der Berichterstattung entgegengesetzt, so ideologisch er in der Praxis auch verfuhr. Und während die Deckengemälde von Versailles nur einem exklusiven Kreis von Höflingen und Botschaftern sichtbar waren, suchte die Pressereportage der gesamten Nation die Partizipation am historischen Prozess zu eröffnen. Es versteht sich, dass diese neuen Modalitäten historischer Vermittlung (Simultaneität, Authentizität, öffentliche Teilnahme) die Struktur der historischen Ereignisse selbst veränderten. Reportagen berichteten nicht von abgeschlossenen, sondern laufenden, zeitgenössischer Intervention offenen Vorgängen. Letztlich führte die Bildreportage auch einen sozusagen kosmetischen Imperativ in die Geschichte ein. Wer historisch handelte, musste von nun an mitbedenken, wie sein Handeln als Illustration auf der Zeitungsseite von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden würde, und das machte die sorgfältige Inszenierung mancher Ereignisse zum Zweck der medialen Verarbeitung unumgänglich.3
Kommunikations-Modernität bildete sich zuerst im westlichen Europa und in Nordamerika aus; daher beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die visuelle Vermittlung des Krimkriegs in England und Frankreich, die zwar eng verbündet waren, aber ganz verschiedene "visuelle Kulturen" ausbildeten. Innerhalb der schwachen zentralstaatlichen Strukturen hatten sich in England Adel und Bürgertum "arrangiert", das heißt in ihren jeweiligen Interessenssphären bestätigt, wobei die Schlichtung von Konflikten Parlament und Justiz überlassen blieb. Im Kontext der resultierenden juristischen Auseinandersetzungen war im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine unparteiische Presse entstanden, die einklagbaren Standards von Tatsache statt Fiktion und Beweis statt Verleumdung verpflichtet war. Trotz aller Spannungen zwischen den sozialen Gruppen stärkten die Zeitungen auf diese Weise die zivile Koexistenz, und sie konnten als kapitalistische Privatunternehmen auch ohne staatliche Zensur funktionieren.4 Im Krimkrieg führte das zu einer reichhaltigen, zum Teil regierungskritischen Berichterstattung in einem breiten Pressespektrum. Frankreich dagegen war ein straff organisierter Zentralstaat; in einer Serie von Revolutionen hatten hier verschiedene soziale Gruppen den zentralen Zwangs- und Verwaltungsapparat erobert und wieder verloren. Der jeweilige Machthaber regierte mit repressiven Mitteln, Pressezensur inklusive, und da auch der Kunstbetrieb zentralstaatlich organisiert war, bildeten die akademischen Salon-Ausstellungen und der staatliche Ankauf riesiger Historienbilder die Eckpfeiler der französischen Bildkultur. Der Bildreportage kam hier wegen der staatlichen Zensur, dem unterentwickelten Presse-Unternehmertum und der Zentralität der offiziellen Malerei nur eine untergeordnete Rolle zu.5
Neue Bildmedien
Die Presseillustration
Schon im Sommer 1854 entsandte die englische Presse mehrere Reporter und einen sogenannten Special artist in den Osten, doch militärisch geschah zunächst wenig Darstellenswertes, und Transportprobleme verhinderten journalistische Effizienz. Als sich aber der Konflikt im September auf die Krim verlagerte, kam es zu großräumigen Truppenbewegungen und offenen Feldschlachten, die von Bild- und Textreportern leicht beobachtet und mit patriotischer Begeisterung nach Hause gemeldet werden konnten – hier eine authentische Augenzeugen-Skizze der schnell legendär gewordenen Charge of the Light Brigade, die Constantin Guys (1802–1892) an die Illustrated London News sandte. Kavalleriegefechte an der Front und buntes Volkstreiben in der Etappe brachten die Reportage zunächst auf die Bahn lebendiger Schilderung, ohne dass sie Regierungsmeldungen widersprach oder sich wesentlich von der Springflut bunt-fiktional gemalter und lithographierter Schlachtdarstellungen abhob, die bald den Markt überschwemmten. In den katastrophalen Wintermonaten, als die britische Armee in den Gräben vor Sewastopol umkam – nicht durch feindliches Feuer, sondern durch Hunger und Kälte – setzten Malerei und Graphik jedoch völlig aus. Nur der eine oder andere Special artist berichtete weiter und begann mit erschütternden Bildnachrichten eine ebenso konkurrenz- wie präzedenzlose kritische Rolle zu spielen. Der Sturz der britischen Regierung im Januar 1855 ging auf das Konto einer von der London Times initiierten Pressekampagne, zu der die Illustrated London News mehrere drastische Skizzen frierender Truppen in den Gräben und eines beinamputierten Invaliden in einem Militärhospital beisteuerte. So machten Reportagen die Not der britischen Krimarmee zum öffentlichen Ereignis – gegen die traditionelle Historiographie ist daher zu betonen, dass Reportagebilder nicht passiv gegebene, unabhängig ablaufende Prozesse reflektieren, sondern an der Produktion von Geschichte aktiv beteiligt sind.
Dass die Bildpresse sich hier in die historisch handelnden Mächte einreiht, ist auch daran zu ermessen, dass ihr Angriff auf derselben bildlichen Ebene an der heimatlichen Pressefront mit defensiven Maßnahmen von offizieller Seite beantwortet wurde: Königin Viktoria entschloss sich bald nach der Intervention der Illustrated London News zu einer Serie von Visiten in Militärhospitälern, die durch Pressebilder im ganzen Land bekannt gemacht wurden. Die Dezimierung der britischen Armee vor Sewastopol, in den liberalen Zeitungen als Skandal angeprangert, wurde durch diese publikumswirksamen Auftritte der Königin in den Hintergrund gedrängt. Die Nation lernte zu schätzen, dass die Soldaten für Thron und Altar geblutet hatten, und das leistete einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung der zeitweise recht bedrohlichen Regierungskrise. Polyphon konkurrierender Bildeinsatz dieser Art, der gesellschaftlichen Gegnern gestattete, ihre politischen Differenzen in regelrechten Bilderschlachten auszutragen, war ein historisches Novum.
Für ihre Krimreportagen verließ sich die Illustrated London News hauptsächlich auf den ehemaligen französischen Kavallerieoffizier Constantin Guys, der sich in Paris mit brillanten, von Charles Baudelaire (1821–1867) begeistert kommentierten Skizzen des Großstadtlebens aus der Flaneur-Perspektive einen Namen gemacht hatte. Die Illustrated London News erwartete allerdings, dass er sich als Tatsachenreporter statt als "historien des mœurs" betätigte – nicht auf subjektive Eindrücke, sondern auf unparteiische, unanfechtbare Bilddokumente kam es der englischen Presse an.6 Dazu passen viele fieberhaft im Eifer des Gefechts hingeworfene Zeichnungen, die Guys' persönliche Anwesenheit und Augenzeugenschaft unter Beweis stellen. Mit der Unterschrift "Taken on the spot" beglaubigte Guys die historische Authentizität einer Skizze, die den verwundeten, Zigarre rauchenden General François Certain de Canrobert (1809–1895)[] in der Schlacht von Inkerman festhält: Es waren diese Reportagezeichnungen und nicht etwa die Photographien Roger Fentons (1819–1869), die die historisch neue Bildqualität kunst- und fiktionsfreier Tatsächlichkeit suggerierten. Als schließlich der für die britische Armee höchst verlustreiche Winter von 1854/1855 einsetzte, war der erfahrene Kavallerist und Reporter Guys als einziger Künstler bzw. Special artist an der Front zu finden, wo er u.a. die Nottransporte britischer Verwundeter zum Nachschubhafen Balaklava als endlosen Leidensstrom in Bildberichten festhielt, die das Heimatpublikum erschüttern sollten. Zu den ganz konkreten militärischen Auswirkungen dieser außergewöhnlichen Reportageleistung, die sich eben nicht in der bloßen Spiegelung der Ereignisse erschöpfte, gehört die Tatsache, dass die englische Armee den zweiten Kriegswinter mit erheblich verbesserter Ausstattung ohne große Verluste überstand.
Trotz Zensur gab es auch in Frankreich faktisch fundierte Bildreportagen, wie Henri Durand-Bragers (1814–1879) Arbeit für L'Illustration zeigt. Als Marineoffizier war er im Wesentlichen mit Feindaufklärung befasst; seine Zeichnungen von russischen Küsteninstallationen und dem Stellungskrieg um Sewastopol entstanden in militärischem Auftrag, wurden zum Teil aber nebst anekdotischen Schilderungen des Lagerlebens an die Bildpresse weitergegeben. An der Objektivität seiner quasi geheimdienstlichen Darstellungen von der Front ist kaum ein Zweifel möglich, sie offenbaren aber auch die Beschränkungen rein faktischer Bildberichterstattung, denn als visuelle Quelle zur vielschichtigen Kriegswirklichkeit sind sie erstaunlich unergiebig – in der Menge der technischen und topographischen Einzelheiten werden wichtige soziale Kriegsaspekte unauffindbar.7
In Frankreich war die sachliche Reportage als journalistisches Genre noch nicht eingebürgert, weshalb Durand-Brager mehrfach klarstellte, dass er sich nicht als "historien des mœurs" verstünde und keine Kunstansprüche erhöbe: "Was ich mache, gehört ins Gebiet der Geschichte, nicht der Phantasie".8 Das verhinderte freilich nicht, dass seine Bildberichte vor allem im zweiten Kriegswinter von 1855/1856 mehr verschleiert als enthüllt haben. Das eroberte Sewastopol musste damals nur noch bis zum absehbaren Friedensschluss besetzt gehalten werden, doch da die inzwischen auf einen sechsstelligen Mannschaftsbestand angewachsene französische Armee eng zusammengepfercht feuchte und unhygienische Erdunterstände bewohnte, herrschten katastrophale Zustände, die Durand-Brager reichlichen Stoff für aufrüttelnde Reportagen à la Guys hätten geben können, doch falls er überhaupt Anstrengungen in dieser Richtung machte, wurden sie von der Zensur blockiert. Es liegt eine große Ironie darin, dass zeitgleich mit der großen Cholera- und Typhusepidemie im französischen Lager, der L'Illustration weder Wort noch Bild gönnte, nun eine Serie humoristischer Beiträge unter dem Titel "Types et physionomies de l'armée d'Orient" erschien. Sie offenbart eine gewisse Affinität zum zeitgenössischen Genre des Militärromans, der von offizieller Seite zur Aufbesserung des seit Waterloo gesunkenen militärischen Ansehens gefördert wurde.9
Die Photographie
Der Krimkrieg ist das erste größere Kriegsereignis, das photographisch festgehalten wurde, aber streng genommen war die Kamera 1854/1855 noch kein Reportageinstrument. Da die Belichtungszeit noch etwa zehn Sekunden betrug, konnte sie nicht die Ereignisse selbst, sondern nur ihre materiellen Relikte und nachträglich gestellte Gruppenbilder der Akteure festhalten. Trotz des glaubhaften Anspruchs, mit größerer Wahrheitstreue als Stift und Pinsel zu arbeiten, erwies sich die Photographie im Übrigen als ebenso unbegrenzt manipulierbar und zeigte trotz ihres angeblich demokratisch-egalitären Charakters auch eine erstaunliche Affinität zu regierungstreuer Berichterstattung.
Als Roger Fenton, der Leibphotograph Königin Viktorias, im März 1855 mit königlichen Empfehlungsschreiben auf der Krim erschien, verfolgte er zwei höchst traditionelle Ziele außerhalb des Pressekontexts, denen sich Maler und Stecher militärischer Sujets schon immer gewidmet hatten.10 Erstens nämlich ging es ihm um die Aufzeichnung eines topographischen Überblicks über den Kriegsschauplatz, angefangen mit einigen Aufnahmen in der drangvollen Enge des Nachschubhafens von Balaklava und bis hin zum britischen Feldlager vor Sewastopol. Dazu gehört auch die Mörserbatterie, die gerne von Touristen zu einem ungefährlichen Blick auf die belagerte Stadt genutzt wurde, denn sie lag weit hinter den Gräben und außer Reichweite der russischen Artillerie. Sein zweiter und deutlich für wichtiger erachteter Exkursionszweck war die Erstellung einer Porträtserie des britischen Generalstabs vor Sewastopol, und dieser Generalstab lebte sehr bequem nach feudaler Manier, fern der Front. Nur ein einziger namenloser Gefreiter wurde in diese erlauchte Galerie aufgenommen, um die britische Marschuniform vorzuführen. Hätte Fenton die Offiziere nach Kriegsende aufgenommen, sähen sie kaum anders aus, und es lässt sich nachweisen, dass etwa ein Zehntel seiner Krimporträts in der Tat nachträglich in London aufgenommen wurden. Das Porträtieren war überhaupt der Kern von Fentons Krim-Mission: Der wohlhabende Kunsthändler und Verleger Thomas Agnew (1794–1871) in Manchester finanzierte die Reise, um die resultierenden Konterfeis von Thomas Jones Barker (1815–1882) in ein profitträchtiges Gemälde "übersetzen" zu lassen.
Mit seinem schwerfälligen Dunkelkammer-Wagen, der im Krim-Morast sechs Artilleriepferde zur Fortbewegung erforderte, konnte Fenton von vornherein nicht daran denken, in die Gräben vorzudringen. Das wäre auch gefährlich gewesen, denn dort wurde geschossen und gestorben. Einmal jedoch scheint er neben unzähligen, vom aktuellen Geschehen unberührten Porträts und Landschaften ein genuines Ereignis von militärischer Bedeutung abgelichtet zu haben, freilich weitab vom Schuss. Kriegsrat der drei alliierten Befehlshaber am Morgen der Eroberung der Mamelon-Festung behauptet die Bildunterschrift in aller Eindeutigkeit – doch sie täuscht. Zugestanden, es gab ein Militärkonzil zur Planung des Sturms auf die gegnerische Bastion, doch fand es drei Tage vorher unter Beteiligung von 17 Offizieren, vor allem Artilleristen und Ingenieuren, statt – auch dies übrigens ein Hinweis auf die "Modernität" des Krimkriegs.11 Dass die drei Armeechefs sich auch einmal im kleinen Kreis getroffen haben, wird von Fentons Aufnahme zwar bewiesen, ist aber nach Aussage seiner Korrespondenz auf einen Zeitpunkt 24 Stunden vor dem Angriff zu datieren; das heißt, sie stellten sich dem königlichen Leibphotographen kurz für mediales "Window-Dressing" zur Verfügung und ließen sich von ihm willig zu einem "Kriegsrat" gruppieren. Man darf aber annehmen, dass sie sich möglichst schnell wieder ihren eigentlichen militärischen Problemen zuwandten. Immerhin, sie kooperierten mit der Kamera in einer kritischen Feldzugsphase; das liefert ein gutes Beispiel für den schon genannten kosmetischen Imperativ, dem sich auch Oberbefehlshaber mitten im Krieg nicht entziehen konnten.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Fenton mit einem Verzeichnis aller Generalstabsmitglieder in die Krim kam und nach Kräften versuchte, es lückenlos zu illustrieren. Die resultierende Porträtserie wurde zu dem sehr hohen, nur für wohlhabende Käufer erschwinglichen Preis von 63 Pfund Sterling verkauft – wohl hauptsächlich an die Familien der abgebildeten Stabsoffiziere. An Tod und Verwundung ihrer Angehörigen waren diese Familien nicht im geringsten interessiert; das erklärt, warum Szenen dieser Art von Fenton grundsätzlich nicht aufgenommen wurden, so viele er davon auch zu Gesicht bekommen hatte.
Da Fenton die Negative ausgingen und er Gesundheitsprobleme bekam, verließ er das Kriegstheater im Juli 1855, zwei Monate vor dem Fall Sewastopols. So blieb es dem Photographenteam James Robertson (1813–1888) und Felice Beato (1825–1907) überlassen, das Kriegende zu dokumentieren. Sie benutzten vorgefertigte Trockenplatten, die im Gegensatz zu Fentons nassen Kollodiumnegativen von dem Nachteil frei waren, vor Ort beschichtet und entwickelt werden zu müssen. Noch vor der Eroberung der Stadt, bei andauernden Kanonaden, konnten Robertson und Beato daher die alliierten Gräben und Batterien patrouillieren und verschiedene Aspekte des Belagerungslebens festhalten, ohne sich großer persönlicher Gefahr auszusetzen. Ihr permanenter Standplatz war Istanbul, höchstens zwei Tage zu Schiff von der Krim entfernt, so dass sie keine Schwierigkeit hatten, kurz nach dem Sieg vom 8. September an die Front zurückzukehren. Bei diesem Besuch und einigen späteren (vielleicht von Beato allein unternommenen) Exkursionen waren sie in der Lage, eine imposante Bildserie von dem eroberten russischen Festungsgürtel und der in Trümmern liegenden Stadt zusammenzustellen. Die britischen Offiziere rissen sich um die Abzüge, die erkennen lassen, dass die Gefallenen bereits entfernt worden waren, während der Wust der zerschossenen Stellungen noch ganz "frisch" zutage liegt. Die photographischen Aufnahmen sind die Spur der materiellen Kriegsrelikte, diese Relikte sind wiederum die Spur blutiger Kämpfe; vom Krieg selbst sind wir hier also zweifach abgekoppelt; doch insofern, als es sich um Spuren statt um Darstellungen handelt, ist der Krieg darin stärker präsent als im großartigsten Historiengemälde.12
Verweise auf das, was sowohl Fentons wie Beatos und Robertsons Photos systematisch aussparen, nämlich die menschlichen Verluste der Krimkampagne, finden sich indessen dort, wo man sie am wenigsten erwartet, nämlich in einem königlichen Porträtalbum britischer Gefreiter und Unteroffiziere. Im Winter 1854/1855, als die Belagerung Sewastopols schlecht lief und das Aberdeen-Kabinett stürzte, ergriff Königin Viktoria systemstabilisierende Maßnahmen wie die schon erwähnten Besuche bei den Kriminvaliden in den Militärhospitälern. Jeder Einzelne wurde ihr dabei vorgestellt und nicht nur nach seinen Kriegserfahrungen befragt sowie mit freundlichen Worten aufgemuntert, sondern auch von Joseph Cundall (1818–1895) photographiert. Obwohl einige wenige dieser Aufnahmen an die Presse gelangten und per Holzstich abgebildet wurden, verdankten sie sich doch im Wesentlichen dem persönlichen Interesse, das die Königin ihren Soldaten bis hin zum einfachsten Gefreiten entgegenbrachte. Sir Charles Beaumont Phipps (1801–1866), ihr Sekretär, stellte daraus ein ganzes Album zusammen, das jedes Photo mit genauen handschriftlichen Vermerken über Regimentszugehörigkeit, Gefechtsteilnahme und Art der Verwundung erläutert und von Viktoria jahrzehntelang immer wieder durchgeblättert wurde. In den emotionsstarken Briefen der Königin figurieren diese Invaliden als "my nearest and dearest", mithin quasi als Familienangehörige, und doch fallen die Distanz und Nüchternheit der von ihr bestellten Bilder auf. Was ist von der pointierten Manier zu halten, mit der Verkrüppelungen hier zur Schau gestellt werden, nebst der von Viktoria gestifteten Beinprothese? Mit den Wünschen und Interessen der Dargestellten hat dies gewiss weniger zu tun als mit der quasi anthropologischen Neugier, mit der Viktoria bei allem Gefühlsüberschwang auf diese sozial Anderen blickte. Dass zwei der drei Invaliden ihre Beine nicht durch russisches Feuer, sondern Erfrierungen in den Gräben verloren, verweist auf eine schockierende militärische Fehlleistung. Dass sie mit Decken gut versorgt ein Zimmer bewohnen, wäre dagegen ein tröstliches Anzeichen, wenn periphere Details nicht auf ein künstliches Arrangement im Kasernenhof deuteten. In einer früheren Photoserie hatte Cundall die Ungastlichkeit des Orts nicht verschleiert; die beschönigenden Maßnahmen in der vorliegenden Aufnahme dürften als Antwort auf die Beschwerden zu verstehen sein, die Königin Viktoria gegen die schlechte Unterbringung der Veteranen bei der Krankenhausdirektion eingereicht hatte. Jedenfalls reflektiert Cundalls Porträtgruppe letztlich nicht eine Familien-, sondern eine Standesperspektive: in der bestehenden Sozialordnung war es Viktoria, die Macht und Subjektivität besaß und Andere ihrem Blick unterordnen konnte, einem Blick, der soziale Differenz ebenso observierte wie kreierte.13
Auch in Frankreich wurde der Krimkrieg photographisch dokumentiert, doch aus Mangel an unternehmerischer Initiative geschah dies verspätet und auf rein individueller Basis. Hier ist wieder Durand-Brager zu nennen, der Anfang November 1855 mit dem Amateurphotographen Bernard Lassimonne (1787–1877) nach Sewastopol zurückkehrte. Unter der Anleitung des Malers machte Lassimonne 48 topographische Aufnahmen, die dann mit wenig Erfolg vermarktet wurden. Charles Langlois (1789–1870) und Léon Méhédin (1828–1905) bildeten ein weiteres Maler/Photographen-Team, das aber anders vorging. Langlois war über eine Offizierslaufbahn zum Militärmaler geworden und besaß auf den Champs Elysées ein einträgliches Panorama-Gebäude. Für das Projekt, ein großes Rundbild vom Fall Sewastopols auszuführen, konnte er die Unterstützung Napoleons III. gewinnen. Um dem Gemälde durch die Augenzeugenschaft des Malers Respektabilität zu sichern, finanzierte die Regierung Langlois eine Krim-Exkursion. Dort wollte er seinem Gedächtnis mit der Kamera nachhelfen, aber da er nicht über das nötige technische Geschick verfügte, behalf er sich damit, den jungen Photographen Méhé14
Die Abdankung der Historienmalerei
Die britischen Militärmaler blickten neidvoll auf Frankreich, wo der Staat Millionen für den Ankauf von Schlachtenbildern ausgab. In England waren militärische Sujets dagegen hauptsächlich bei Unternehmern erwünscht, unter denen wieder Agnew zu nennen ist, der bekannte Maler zur Darstellung von Krimkriegs-Szenen engagierte – und zwar, um Stichkopien nach ihnen zu verkaufen, die viel höhere Profite als die Gemälde selbst einbrachten. Thomas Barkers Alliierte Generäle vor Sewastopol kann für die ganze Serie von Kriegs-Sujets stehen, die Agnew in Auftrag gab. Das Bild wurde unter größtem Zeitdruck innerhalb von elf Monaten gemalt und gestochen, damit es Aktualitätswert hatte und noch vor Kriegsende angeboten werden konnte. Die Leinwand gruppiert nicht weniger als 70 prominente Offiziere vor den Bastionen Sewastopols, so dass sie weniger als Ereignisbild denn als visueller Honoratiorenkatalog zu klassifizieren ist. Die in Akademien beheimatete Hochkunst ist hier zur Zwischenstation in der kommerziellen Vermarktung moderner graphischer Medien herabgesunken. Im Prinzip handelt es sich hier nämlich um wenig mehr als eine malerische Aufbereitung der Fenton-Photos, die Agnew als bildliche Materialsammlung für Barker in Auftrag gegeben hatte, und diese malerische Fassung war nicht Selbstzweck, sondern sollte nur als Vorlage für die Herstellung und Verbreitung einer Stichreproduktion in großer Auflage dienen. Die Rechnung ging auf, denn der Verkauf des Stichs spielte 10.000 Pfund Sterling Gewinn ein. Die ehemals autonome, schrittmachende Kunstgattung der Historienmalerei geriet dabei in völlige Abhängigkeit von Photographie und Graphik. Daneben lebte sie freilich noch in Adelspalästen fort, doch ohne nennenswerte gesellschaftliche Resonanz. James Thomas Brudenell, Earl of Cardigan (1797–1868), der Anführer der gefeierten Attacke der Leichten Brigade, hängte z.B. ein großformatiges Porträt des Modemalers Alfred F. de Prades (1840–1895) in seinen Salon, das ihn draufgängerisch an der Spitze seiner Truppen darstellte – nachdem er sich durch einen stark verfrühten Rückzug aus dem Gefecht ins Gerede gebracht hatte. Über seine Reputation entschied aber letztlich nicht der Schmuck der feudalen Residenz, sondern die Pressereportage.15
In Frankreich dagegen nutzte der Staat die akademische Malerei als eine Art publizistische Hilfsagentur, die wechselnden politischen Prioritäten zu dienen hatte. Ein staatliches Ausstellungs- und Ankaufssystem brachte die Künstler auf Regierungskurs und machte auch die rigorose mimetische Programmierung der Bildproduktion zur Norm, um den reibungslosen Transport gewünschter Bildbotschaften zu garantieren. Optimale Natur- und Kostümtreue, offizielle Prämierung der Werke, vor allem auch Verwissenschaftlichung der Historienmalerei durch Geschichts- und Archivstudium, Augenzeugenschaft und dergleichen mehr sicherten den resultierenden Werken und ihren staatsmythologischen Botschaften einen hohen Grad von Kredibilität. Man steht vor dem Paradox, dass die akademische Malerei mit ihrer strengen mimetischen Detailtreue sozusagen gemalte Photographien von Ereignissen lieferte, die trotzdem nie etwas anderes als regierungsamtliche Konstrukte sein konnten. In den Salons von 1855 bis 1861 waren an die hundert Krim-Sujets zu bewundern, die der Staat für fast eine Million Francs ankaufte.16
Kurzum, die Historienmalerei war Staatsangelegenheit ersten Ranges in Paris; paradigmatisch dafür ist Adolphe Yvons (1817–1893) Gemälde Die Einnahme der Malakoff-Bastion, also der russischen Schlüsselstellung, mit deren Fall der Krimkrieg für Russland verloren war. Yvons Auftrag für die immense Leinwand stammte vom Kaiser selbst, der dafür ein fürstliches Honorar von 20.000 Francs genehmigte und wohl auch dafür sorgte, dass der Marineminister den Maler auf einer Fregatte mit 300 Mann Besatzung in die Krim beförderte, damit das Bildprojekt sich auch auf persönliche Augenzeugenschaft berufen konnte. Ferner war offenbar die Armee auch mit der "Ausleihe" von Soldaten, Waffen und Uniformen behilflich, und wie ein Kritiker bemerkte, hatten sich Schlachtenmaler wie Yvon auch streng an die Armee-Bulletins zu halten. Der gewissermaßen wissenschaftlich einklagbare Objektivitätszwang, der so auf die Historienmalerei ausgeübt wurde, führte zu Komplikationen in der symbolischen Ökonomie des Genres. Z.B. wurde es nun unvermeidlich, das traditionelle hierarchische Gefälle zwischen Generälen und Gefreiten abzubauen, deren Positionen auf der Leinwand nicht mehr von sozialer Eminenz, sondern von perspektivischen Regeln und positiv verbürgten Handlungen im tatsächlichen Schlachtverlauf bestimmt wurden. Yvon optierte daher für ein parataktisch organisiertes Gemälde, das anstelle hierarchisch-pyramidal verdichteter Kompositionsmuster und in offenkundiger Anlehnung an das Organisationsprinzip von Panoramabildern eine große Episoden- und Figurendichte von Rand zu Rand entfaltet. Letztlich konnte seine Leinwand daher größeren dokumentarischen Wert beanspruchen als die Reportage-Skizze, die kurz nach dem Fall des Malakoff-Turms in L'Illustration erschienen war – Durand-Brager hatte sie aufgrund der ersten, noch ganz ungenauen telegraphischen Nachrichten und ansonsten nur auf seine Ortskenntnis gestützt zu Hause in Paris zu Papier gebracht. Abschließend lässt sich sagen, dass die Historienmalerei mit der Unterwerfung unter die Objektivitätszwänge der positivistischen Epoche an ihre Grenzen stieß: Ihre gesellschaftliche Nützlichkeit hatte einst in ihrer Funktion als Mythos-Maschine gelegen, doch der Mythos-Transport gestaltete sich unter dem Diktat von Heeres-Bulletins und in der hoffnungslosen Konkurrenz mit der Presseillustration immer schwieriger. Dem Aktualitätswert zuliebe hatte Yvon sein 54 Quadratmeter messendes Kolossalbild in einer Tour de force von neun Monaten fertiggestellt. Das lohnte bald den Aufwand nicht mehr, und gegen Ende des Jahrhunderts verschwand die Historienmalerei aus dem zeitgenössischen französischen Kunstbetrieb.17
Neue Medien: Das großstädtische Showbusiness
Am äußersten Ende des Bildmedienspektrums, in einer Übergangszone zu dreidimensionalen, mehr oder weniger theatralischen Schaudarbietungen ohne Hochkunst-Status, begegnet man schließlich populären Massenattraktionen, deren spektakulärer Charakter alles in den Schatten stellte, was die traditionellen Kriegsschilderungen auf Leinwand und Papier zu bieten hatten. Historisch ging dieses Showbusiness auf die Epoche der Französischen Revolution zurück, in der der Aufstieg des Bürgertums zu einer so massiven Ausweitung des Kunstkonsums führte, dass die althergebrachte Kabinettmalerei dem quantitativen Bedarf hoffnungslos hinterher hinkte. Unternehmerisch begabte Maler erkannten die Chance, die in der Produktion populärer Riesenleinwände wie Panoramen und Dioramen lag, die im Vordergrund ins Dreidimensionale übergingen, durch Darbietungen von Schauspielertruppen ergänzt wurden und wie Kinos gegen eine Eintrittsgebühr stundenweise Unterhaltung boten.
Neben den wechselnden Krimsujets in Robert Burfords (1791–1861) Panorama bestand die hinreißendste Londoner Krimkriegsunterhaltung in den Scheinschlachten, die nächtlich um kolossale Attrappen der Befestigungen von Sewastopol in Surrey Zoological Gardens oder Astley's Amphitheater inszeniert wurden. Lange bevor sie sich wirklich ereignete, konnte man die Eroberung von Sewastopol hier schon als permanentes Spektakel genießen. Tatsächliches und inszeniertes Kriegstheater wurden auch dadurch ununterscheidbar, dass Kriminvaliden bereit waren, sich für eine kleine Gage im Zoo von Surrey allabendlich selbst darzustellen.18 Nonchalante Dandys und elegante Damen in Krinolinen konnten sich aber auch tagsüber von musealen Aufbereitungen des Kriegs unterhalten lassen, so z.B. von James Wylds (1812–1887) Reliefpanorama der Belagerung Sewastopols, das zusätzlich russische Beutegewehre zu inspizieren erlaubte.
Im Gegensatz zu London war die Pariser Unterhaltungssphäre noch nicht großkapitalistisch durchorganisiert. Das Showbusiness insbesondere erfreute sich noch keiner permanenten Institutionalisierung; trotzdem feierte es aber einige kurzfristige kriegsbedingte Erfolge. Die Belagerung von Silistria in der einleitenden Donau-Phase des Krimfeldzugs wurde z.B. im August 1854 bei einem Sommerfest auf dem Marsfeld in ein Volksspektakel mit eineinhalb Kilometer breiter Kulisse und ganzen Bataillonen von Kombattanten umgemünzt, die sich nach einem zeitgenössischen Pressekommentar "gewissenhaft bis zum bitteren Ende massakrierten". Auch das Panorama-Genre hatte es schwer in Paris, aber dank der Förderung durch Napoleon III. konnte Langlois sein bereits erwähntes Rundbild von der Erstürmung Sewastopols im Jahre 1860 eröffnen, und trotz der zeitlichen Verzögerung erwies es sich fünf Jahre lang als Zuschauermagnet.19
Bemerkenswert ist, dass auch das Showbusiness nicht dem Zwang entging, sich als "authentisch" auszuweisen, wie z.B. das kolossale Belagerungsmodell in Surrey Gardens belegt, das von dem Maler George Danson (1799–1881) nach Karten, Zeichnungen und Augenzeugenberichten mit quasi wissenschaftlicher Zuverlässigkeit angefertigt wurde.20 Panorama-Maler verfuhren ähnlich und nutzten oft Photos der Kriegsschauplätze. Bei aller sensationalistischen Aufmachung übte also auch das Showbusiness den Gestus der faktischen Objektivität ein; anders war optimaler Publikumszuspruch offenbar nicht zu erreichen.
Aber Paris und London füllten sich nicht nur mit spektakulären Nachbereitungen der Krim-Ereignisse durch Kunst und Showbusiness; das Großstadtpublikum konnte auch zahllosen Planungs-, Test- und Trainingsveranstaltungen beiwohnen, durch die die militärischen Ereignisse bis ins Detail vorprogrammiert wurden. Vor Beginn des Krimfeldzugs wurde z.B. in Chatham bei London zu Versuchszwecken eine Minenzündung vorgenommen; sie wurde von der neugierigen Menge mit derselben Begeisterung applaudiert, die später für die alliierten Soldaten typisch war, wenn sie die Granateneinschläge im belagerten Sewastopol bejubelten. Generalisierend kann man folgern, dass die Gestaltung der Geschichte in die Hände derer übergegangen war, die über die Mittel zur Erprobung und Wiederholung erwünschter Szenarien verfügten. Dazu passt Jean Baudrillards (1929–2007) These, dass heute "das Wirkliche aus Miniatureinheiten, Matrizen, Datenbanken und Generalstabsmodellen hergestellt wird – und dass das Wirkliche wie diese unendlich oft reproduziert werden kann."21 Die Prähistorie dieses postmodernen Befunds setzt mit dem Krimkrieg ein.
Insgesamt ist deutlich, dass der Krimkrieg im Kontext vorgegebener, gewaltiger Darstellungsapparaturen stattfand, die die Darstellung von Geschichte zum Epiphänomen großstädtischen Spektakels machten. Die Druckerpressen und die Amphitheater liefen immer schon auf Hochtouren und verlangten nach Speisung, noch ehe die historischen Ereignisse eintraten. Sobald sie eintraten, taten sie es in vorgefertigten Kostümen auf vorhandenen Schaubühnen. Anders gesagt: der Krieg, der tatsächlich geführt wurde, war zum ständigen ästhetischen Wettstreit mit dem anderen gezwungen, der längst über die Londoner und Pariser Bühnen ging. Ein Aperçu des englischen Kavallerie-Obersten Edward Cooper Hodge (1810–1894) bringt das auf den Punkt. Nach Beobachtung einer nächtlichen Krim-Kanonade schrieb er trocken nach Hause: "Der Vergnügungspark von Vauxhall ist viel toller, wie unsere Mädchen sagen würden." Ähnlich fiel einem französischen Artillerieoffizier auf, dass die Muster großstädtischen Kulturkonsums auch die Wahrnehmung des Krimkriegs prägten, denn als die Bestattung der Gefallenen nach einem Sturmangriff viele Schaulustige auf die alliierten Verschanzungen lockte, meinten sie "einem Opernbegräbnis beizuwohnen".22 Das von den modernen Medien gegebene Versprechen der Simultaneität, Authentizität und Partizipationsfähigkeit der Geschichtsvermittlung ließ sich in diesem Rahmen letztlich nicht einlösen. Die spektakuläre Aufmachung des Falls von Sewastopol in Theater, Kunst und Presse überwucherte alle sachliche Information. In der ständigen Vorwegnahme und Wiederholung der Ereignisse verflüchtigte sich das Moment der Gleichzeitigkeit, und von populärer Teilnahme am Geschehen konnte keine Rede sein, weil der sensationelle, profitorientierte Medienaufwand dem zahlenden Publikum kaum mehr als die Rolle passiver Konsumtion übrig ließ.