Einleitung und Periodisierung
Der Begriff "Römisches Recht"1 hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Bedeutungen angenommen. So bezeichnet er die römische Rechtsordnung in ihrer Geschichtlichkeit, die romanistische Tradition, also das Weiterleben des römischen Rechts in den einzelnen europäischen Rechtsordnungen, das Gemeine Recht, die deutsche Pandektistik und schließlich die heutige Wissenschaft vom Römischen Recht (Romanistik). Deren Gegenstand ist das römische Recht in inhaltlicher und historischer Hinsicht. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, das römische Recht in der zuletzt erwähnten Bedeutung zu behandeln. Die Darstellung wird sich darum hauptsächlich auf das römische Recht im Sinne der Rechtsordnung Roms in der Antike beziehen und zudem auf die Wiederentdeckung des römischen Rechts im Mittelalter und seine Verbreitung in den einzelnen europäischen Ländern bis ins 19. Jahrhundert eingehen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Entstehung und Entwicklung dieses Rechts sowie den Akteuren der Rechtsschöpfung und den Rechtsquellen.
Die Entwicklung des römischen Rechts beginnt nach herkömmlicher Ansicht mit der Entstehung Roms im Jahre 753 v. Chr. und endet 565 n. Chr., als Kaiser Justinian I. (482–565) starb. Dieser hatte zu Lebzeiten das römische Recht in seiner Gesamtheit kodifizieren lassen und damit die spätere Rechtsentwicklung in Europa entscheidend beeinflusst. Diese 14 Jahrhunderte sind von der modernen Geschichtsschreibung und Romanistik unterschiedlich periodisiert worden. Im Folgenden wird die in den romanistischen Gesamtdarstellungen am meisten verbreitete Einteilung zugrunde gelegt: Monarchie (753–509 v. Chr.), Republik (509–27 v. Chr.), Prinzipat (27 v. Chr.–284 n. Chr.) und Dominat (284–565 n. Chr.).
Öffentliches Recht und Privatrecht
Die Römer selbst unterschieden öffentliches Recht und Privatrecht. Die berühmteste Formulierung dazu stammt vom Juristen Domitius Ulpianus (ca. 170–ca. 228): "Ius publicum est quod ad statum rei romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem (Öffentliches Recht ist das, was sich auf die Ordnung des römischen Staatswesens bezieht, Privatrecht das, was sich auf die Interessen der einzelnen bezieht: Digesten 1.1.1.2)". Das öffentliche Recht bezieht sich also auf die Organisationsstruktur der Gesellschaft, das Privatrecht hingegen auf ihre einzelnen Mitglieder und auf deren Verhältnis untereinander. Innerhalb des öffentlichen Rechts unterschied der römische Jurist Ulpianus mehrere Teilgebiete: "Publicum ius in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus consistit (Das öffentliche Recht regelt den Staatskult, die Priesterschaften und die Magistraturen: Digesten 1.1.1.2)".
Das römische Privatrecht ging auf unterschiedliche Faktoren zurück und durchlief mehrere Entwicklungsstufen. Die Dreiteilung dieses Rechtsgebietes in personae, res, actiones (Personen, Dinge, Klagen) ist auf dem Jurist Gaius (ca. 110–ca. 180) und seinen Institutiones (eine Einführung in das Rechtsstudium) zurückzuführen. Sie wurde vom Kaiser Justinian I. seinen eigenen Institutiones zugrunde gelegt und dient noch immer als Grundstruktur vieler moderner Kodifikationen des Privatrechts Kodifikation. Zum römischen Privatrecht gehören Rechtsinstitute wie Obligationen und Verträge, Besitz und Eigentum, Verwandtschaft, Ehe und Ehegüterrecht, Vormundschaft, gesetzliche und gewillkürte Erbfolge u.a. Darüber hinaus gehören hierzu auch die delicta (Privatdelikte), wie z.B. das furtum (Diebstahl) oder die iniuria (Personen- und Persönlichkeitsverletzung. Prinzipien wie "Treu und Glauben", "Schuldverhältnis" und "Haftung" wurden ebenso von den Römern eingeführt bzw. entwickelt. Diese Institute bilden immer noch die Grundlage der modernen Rechtsordnungen. Wegen ihrer Komplexität sollen sie hier aber außer Betracht bleiben.
Rechtsquellen in der Republik
Die Aufeinanderfolge der verschiedenen Regierungsformen im Laufe der römischen Geschichte beeinflusste die jeweilige Form der Rechtserzeugung erheblich. Die einzelnen Rechtsquellen haben in Entwicklung und Bedeutung dementsprechend große Veränderungen erfahren.
Lex und mos
Am Anfang hatte allein der König die öffentliche, einschließlich die gesetzgebende Gewalt inne. Neben den mores (Sitten) waren daher die vom König sanktionierten leges regiae (königlichen Gesetze) die einzige Quelle des Rechts. Diese Gesetze verloren ihre Gültigkeit mit der Einführung der Republik.
Im Laufe der Republik, die durch das Amt der Konsulen und ein erhebliches Gewicht der Volksversammlungen charakterisiert war, fällt der leges populi Romani (Gesetze des römischen Volkes, auch leges publicae genannt) eine immer größere Bedeutung zu. Am Gesetzgebungsverfahren wirkten die wichtigsten republikanischen Institutionen und Ämter – Konsuln, Volksversammlungen und Senat – mit. Die Plebejer hatten auch eigene Magistrate und Volksversammlungen (die sogenannten concilia plebis), deren Beschlüsse nur für die Plebejer selbst galten. Spätestens ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. wurden aber die Beschlüsse der plebejischen Volksversammlung mit den leges publicae gleichgestellt. Damit erhielten sie bindende Kraft für das gesamte Gemeinwesen.
Das Zwölftafelgesetz
Mehr als die leges regelte am Anfang der republikanischen Zeit das Gewohnheitsrecht die Rechtsverhältnisse unter den Bürgern. Dieser Zustand änderte sich erst mit der Lex XII Tabularum (Zwölftafelgesetz), welche der Überlieferung nach 451–450 v. Chr. von zwei verschiedenen Kommissionen, mit je zehn Männern (decemviri legibus scribundis), ausgearbeitet wurde. Anlass dafür waren, im Rahmen des sozialen Ständekampfes, die wachsenden Beschwerden der Plebejer gegen die willkürliche Anwendung des ungeschriebenen Rechts seitens der patrizischen regierenden Elite. Dieser Kodifikation waren direkte Kontakte zur griechischen Welt (einschließlich die griechische Kolonien in Unteritalien) vorausgegangen, wo es bereits bedeutende Vorbilder gab, wie z.B. die Kodifikation des Solon (ca. 640–ca. 560 v. Chr.). Das Zwölftafelgesetz, dessen ursprünglicher Text nicht erhalten geblieben ist, regelte u.a. das Prozessrecht zusammen mit Zwangsvollstreckung, das Erbrecht, die Hausgewalt, Vormundschaft und Pflegschaft, das Eigentum und seine Begrenzungen, die Deliktsobligationen und das Bestattungswesen.
Indem die Zwölftafeln das bisherige Gewohnheitsrecht niederschrieben, wurde der Machtmissbrauch der Patrizier gegenüber den Plebejern erschwert. Die Zwölftafeln blieben bis zu Justinian I. die "Wiege" des Rechts der Stadt Rom, die "Quelle jedes öffentlichen und Privatrechts",2 so Titus Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.), und außerdem die einzige Kodifikation mit umfassendem Anspruch. Auf Basis der Zwölftafeln wurden die ersten legis actiones (Prozessformeln) und weitere Rechtsinstitute entwickelt; sie dienten auch als Grundlage für das erste rechtswissenschaftliche Werk überhaupt, die Tripertita des Juristen Sextus Aelius Paetus Catus (2. Jh. v. Chr.), zugleich eine literarische Fassung der Zwölftafeln.
Die Jurisprudenz und ihre Ursprünge
Innerhalb der römischen Rechtsordnung war auch die Rechtswissenschaft eine anerkannte Rechtsquelle. Von den Pontifices begründet, war Rechtskenntnis von Beginn an ein elitäres Vorrecht. Neben den Auguren und Fetialen, waren die Pontifices Mitglieder eines der bedeutendsten römischen Priesterkollegien.
Die Rechtskenntnisse der Pontifices, ihre Beherrschung des Kalenders und die damit zusammenhängende Kenntnis der Tage an denen, aus Sicht der Religion, Geschäfte vorgenommen und Prozesshandlungen gesetzt werden durften, machte die Pontifices unersetzlich für die Erörterung und Behandlung von Rechtsfragen. Sie waren als einzige in der Lage, nicht nur die existierenden Normen auszulegen und sie auf konkrete Sachverhalte anzuwenden, sondern auch neues Recht zu schöpfen. So war ihnen die Kenntnis der Klageformeln vorbehalten. Ihre Mitwirkung war daher für die Magistraten wie für die Parteien unerlässlich, um einen Prozess korrekt durchführen zu können (das Prinzip des agere; dt. [einen Prozess] führen). Die Pontifices wurden dementsprechend von Amtsträgern und Privaten um Rechtsauskünfte über konkrete Rechtsfälle gebeten, die sie dann durch responsa entschieden (das Prinzip des respondere; dt. antworten/einen rechtlichen Bescheid geben). Sie verfügten schließlich über die notwendigen Formeln, um Rechtsakte korrekt aufzusetzen (das Prinzip des cavere: dt. sichern/sich hüten/die richtige Formel für den beabsichtigten Zweck zu raten). Die Kenntnisse und die beratende Funktion dieser ersten Juristen waren grundlegend für die Entstehung und Entwicklung eines ius civile (Zivilrecht), vor allem im Wege ihrer Auslegungtätigkeit.
Die Vielschichtigkeit der Rechtsordnung: Das Honorarrecht
Leges, mores und fachjuristische responsa bildeten das Zivilrecht (ius civile), das seiner Eigenschaft nach nur für die Bürger (cives) der Stadt Rom galt. Die römische Rechtsordnung war aber dadurch charakterisiert, dass mehrere interagierende Rechtsschichten nebeneinander existierten. So entstand ein paralleles ius honorarium (Honorarrecht), auch ius praetorium (Prätorenrecht) genannt, das durch die ständige Rechtsprechungstätigkeit des Prätors und die von ihm bei Amtsantritt vorgenommene Publikation des Edikts ausgebildet wurde. Das Edikt enthielt das Rechtsschutzprogramm in Form eines Albums (weiße Tafel) mit einer Liste der zugelassenen Klagen. Aus der Nichtrömer betreffenden Tätigkeit des Fremdenprätors (praetor peregrinus) entwickelte sich außerdem ein besonderer Typ von Honorarrecht: Das ius gentium, ein auch für Fremde geltendes "Völker(gemein)recht". Dieses Recht war dadurch charakterisiert, dass ihm die Förmlichkeiten des herkömmlichen Rechts fehlten und es daher besonders geeignet war, die Interessen der Parteien vernünftig und gerecht zu regeln.
Die römische Rechtswissenschaft
Ende eines Rechtsmonopols
Das Rechtswissen, das innerhalb der Priesterkollegien entstanden war, blieb für lange Zeit Monopol der Pontifices. Dieses Monopol zerfiel jedoch aufgrund einer Reihe einschneidender Ereignisse. Dazu trugen besonders die Bekanntmachung und Veröffentlichung des Zwölftafelgesetzes bei, ebenso wie die Veröffentlichung des Kalenders und der Prozessformeln durch Gnaeus Flavius (ca. 4. Jh.) – Schreiber des Zensors Appius Claudius (ca. 340–273 v. Chr.) –, sowie die Lex Ogulnia aus dem Jahre 300 v. Chr., welche die Priesterkollegien für die Plebejern öffnete. So war es der erste plebejische Pontifex Maximus, Tiberius Coruncanius (ca. 254–ca. 243 v. Chr.), der um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. erstmals Rechtsgutachten öffentlich erteilte und die Zuhörer auch an seinen Vorüberlegungen teilhaben ließ.
Entstehung einer säkularen Jurisprudenz
Infolge der Lehrtätigkeit des Coruncanius wurden das juristische Wissen und die juristischen Techniken der Auslegung und Argumentation allen Interessenten zugänglich gemacht und ermöglichten die Entstehung eines "säkularen" Juristenstandes. Die Funktionen des agere, respondere und cavere gingen nun auf den säkularen Juristen über. Unter dem Einfluss griechischer Philosophie und der Theorie der Rhetorik kam es zu einer vertieften systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes, wodurch aus "Rechtswissen" eine "Rechtswissenschaft" entstehen konnte. Die Juristen, in aller Regel Patrizier, begannen, ihre Rechtsgutachten schriftlich festzuhalten und riefen somit eine eigene juristische Literatur ins Leben, die im Laufe der Zeit immer differenzierter ausfiel. Das Werk des Juristen Sextus Aelius über das Zwölftafelgesetz, die sogenannte Tripertita, war das erste schriftliche Zeugnis der Auslegungstätigkeit der Juristen (interpretatio prudentium), die sich vor allem in den Responsen (Rechtsgutachten) niederschlug und zu einer eigenen Rechtsquelle wurde.
Die auctoritas (Ansehen/Würde/Autorität) des einzelnen Juristen verlieh seinen Meinungen Durchsetzungskraft, doch blieben viele Fragen umstritten. So entstand das besondere Gepräge des römischen Rechts als eines ius controversum ("strittiges Recht"), das sich einerseits nicht auf klare Regel fixieren ließ, andererseits aber nicht spekulativ war. Stattdessen stand stets der konkrete Fall im Mittelpunkt und die einmal gefundene Entscheidung konnte per analogiam (durch Analogie) auf ähnliche Fälle übertragen werden. Aus diesem Grunde vergleicht man auch gerne das römische Recht mit dem angloamerikanischen case law. Ihre Grenze fand diese Rechtsfortbildung in den Meinungen der einzelnen Juristen, die sich als wahre Hüter der Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit ansahen.
Die Juristen in der Kaiserzeit
Von Beginn des Prinzipates an hatten die Kaiser immer öfter versucht, die Tätigkeit der Juristen an sich zu binden, um sie zu kontrollieren.3 Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) hatte die auctoritas der Juristen, welche bis dahin auf ihrem persönlichen Prestige beruht hatte, durch seine eigene auctoritas ersetzt, indem er nur ausgewählten Juristen das ius respondendi ex auctoritate principis ("das Recht, aus Autorität des Kaisers Gutachten zu erstatten"), eine Art Gütesiegel, verlieh. Kaiser Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.) setzte diese Linie durch das ius publice respondendi ("das Recht, öffenlich Gutachten zu erstatten") fort. Die Rechtsgutachten nicht ausgezeichneter Juristen verloren damit den Charakter einer Rechtsquelle. Im Laufe der Zeit wurden die Juristen in den Rat der Kaiser, also den engsten Zirkel der Macht, aufgenommen und waren damit dem Kaiser noch enger verbunden.
Unter den herausragenden Juristen nimmt Gaius (gest. ca. 178 n. Chr.), der in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. aktiv war, eine besondere Stellung ein. Er verfasste unter anderem die Institutiones,4 welche für Jahrhunderte die Grundlage des Rechtsunterrichts bildeten und von Justinian I. als Hauptquelle für sein eigenes Lehrbuch verwendet wurden.
In der Zeit der severischen Dynastie (erste Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.) erlebte die Rechtswissenschaft ihren Höhepunkt. Diese Epoche gilt als produktivste Periode der Jurisprudenz, die daher als "klassisch" bezeichnet wird. In dieser Zeit sind die großen Namen der römischen Jurisprudenz tätig: Aemilius Papinianus (140–212), Iulius Paulus (aktiv ca. 200) und Domitius Ulpianus sowie der weniger berühmte Herennius Modestinus (3. Jh.). Die Größe dieser Juristen besteht weniger in der Originalität ihrer Meinungen als in ihrer Systematisierungskraft und ihrer Kenntnis der gesamten römischen Rechtswissenschaft. Dank ihrer Organisationsleistung erhielt die römische Rechtswissenschaft jenen durchgebildeten Charakter, der es ihr erlaubte, die Jahrhunderte zu überdauern. Als in der Spätantike die Rechtswissenschaft ihre Bedeutung als lebendige Quelle des Rechts verlor, und damit auch die Figur des Juristen andere Konturen bekam, blieb die Produktion dieser Juristen ein Bezugspunkt für alle Rechtsanwender.
Die Autorität der o.g. Juristen wurde sogar formal sanktioniert in dem sogenannten Zitiergesetz des Jahres 426 n. Chr. Es handelt sich hierbei um ein Gesetz des Kaisers der Westhälfte des Reiches, Valentinian III. (419–455), das die Werke der Rechtswissenschaft bestimmt, die zur Entscheidung eines Rechtsstreits angeführt werden dürfen. Das Gesetz bezieht sich vor allem auf die Werke von fünf Juristen: Papinianus, Paulus, Ulpianus, Modestinus und Gaius. Dass man sich noch im 5. Jahrhundert n. Chr. fast ausschließlich auf die severischen Juristen bezog, zeugte davon, dass es der eigenen Jurisprudenz an Durchsetzungskraft fehlte und dass sich die Funktionen der Juristen tiefgreifend verändert hatten. Die wichtigste Rolle spielte hierbei die Verabsolutierung der kaiserlichen Macht, wodurch die Gesetzgebungsbefugnisse allein in der Hand des Kaisers lagen.
Kaisergesetze und ihre Sammlungen
Mit dem Prinzipat verloren einige der traditionellen Rechtsquellen an Bedeutung oder verschwanden ganz. An ihre Stelle traten neue Formen der Rechtsgewinnung. Schon seit Augustus begann man, sowohl die Senatsbeschlüsse (senatus consulta) als auch die kaiserlichen Anordnungen (bezeichnet mit dem allgemeinen Begriff von "Konstitutionen") für die cives (Bürger) als bindend anzusehen und damit als Rechtsquellen anzuerkennen. Die Kaiserkonstitutionen werden nach den Umständen ihrer Erlassung, ihrer Adressaten und ihrer Zwecke unterschieden: die "Edikte" hatten allgemeine Geltung; "Mandate" waren an kaiserliche Beamte gerichtete Anweisungen; mit "Reskripte" wurden Rechtsanfragen von Richtern, Magistraten und anderen Beamten sowie Parteien beschieden; "Dekrete" waren Entscheidungen, die im Rahmen der kaiserlichen Rechtsprechungstätigkeit, vor allem in der Berufungsinstanz getroffen wurden. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Konstitutionen wurden die leges publicae seit dem Ende des 1. Jahrhunderts immer bedeutungsloser, ebenso die Senatsbeschlüsse. Was die Rechtsprechungstätigkeit des Prätors angeht, so wurde auf Anregung Kaiser Hadrians (76–138) 133 n. Chr. die Liste der zulässigen Klagen in dem vom Juristen Salvius Iulianus Aemilianus redigierten Edictum Perpetuum ("dauerhaftes Edikt") gewissermaßen eingefroren. Die selbständige rechtsschöpferische Tätigkeit des Prätors wurde damit stark begrenzt.
In dem Maße, in dem die überkommenen Rechtsquellen versiegten, wuchs die kaiserliche gesetzgeberische Tätigkeit. In der Epoche des Dominats, die mit Kaiser Diokletian (ca. 230–ca. 305) beginnt, wurden die Rechtsquellen auf die Kaiserkonstitutionen und auf die fachjuristische Auslegungstäius civile und ius honorarium verschwand allmählich.
Codex Gregorianus und Codex Hermogenianus
Am Ende des 3. Jahrhunderts, d.h. zeitgleich mit dem Regierungsantritt Diokletians, entstanden zwei Sammlungen kaiserlicher Konstitutionen, deren Kompilatoren unbekannt sind. Die erste dieser Sammlungen, der Codex Gregorianus, enthielt Reskripte, von denen das älteste erhaltene auf Kaiser Hadrian zurückgeht; das Werk ist systematisch in (mindestens) 14 Bücher gegliedert, welche wiederum in nach Themen geordnete Titel unterteilt sind. Innerhalb dieser Titel sind die Konstitutionen chronologisch aufgeführt. Der Codex Hermogenianus folgte kurz darauf und enthielt vorwiegend Reskripte von Diokletian. Die Existenz von Konstitutionen aus späterer Zeit wird nachfolgenden Textmanipulationen zugeschrieben. Der Codex Hermogenianus ist nur in Titel unterteilt und stellt eine Art Fortsetzung des Gregorianus dar. Beide Codices wurden nur indirekt überliefert, nämlich überwiegend durch die Lex Romana Visigothorum und den Codex Iustinianus.
Codex Theodosianus
Im Jahre 429 n. Chr. ließ Theodosius II. (401–450), Kaiser der östlichen Reichshälfte, eine Sammlung kaiserlicher Konstitutionen allgemeinen Inhalts anfertigen, die seit Kaiser Konstantin I. (ca. 280–337) erlassen worden waren. Das ursprüngliche Projekt sah die Realisierung zweier getrennter Sammlungen vor: Die eine sollte auch in Vergessenheit geratene Konstitutionen enthalten, die andere nur die immer noch gültigen Gesetze, von sachnahen Werken der Jurisprudenz begleitet. Dieses Projekt wurde 435 revidiert und wohl auch reduziert. Der Codex Theodosianus trat offiziell am 1. Januar 439 sicherlich in der östlichen Reichshälfte in Kraft, sehr wahrscheinlich aber auch im Westen, wo der Codex 438 vor dem römischen Senat im Rahmen einer feierlichen Sitzung veröffentlicht wurde.
Der Theodosianus war die erste offizielle Sammlung von Kaiserkonstitutionen. Gleichwohl stand er neben dem Gregorianus und dem Hermogenianus, die auf diese Weise ihre Geltung behielten. Auch diese Sammlung ist nach Büchern (insgesamt 16) und Titeln gegliedert. Die Kommission wählte und überarbeitete die Texte der chronologisch angeordneten Konstitutionen. Die in dem Kodex enthaltenen Rechtsmaterien behandeln viele Bereichen des öffentlichen und des privaten Rechts. Großen Raum nimmt die Verwaltungsorganisation des Reiches und seiner Beamten ein. Als eine echte Neuheit ist das Buch 16 anzusehen, welches ausschließlich Fragen der religiösen Gesetzgebung gewidmet ist. Auch den Codex Theodosianus kennen wir teilweise über Vermittlung der Lex Romana Visigothorum und des Codex Iustinianus. Es sind jedoch auch einige Manuskripte überliefert, die eine eigene unabhängige Textüberlieferung bieten, welche auf die ursprüngliche Redaktion zurückgeht.
Posttheodosianische Novellen
Die nach 437 von Theodosius II. selbst und seinen Nachfolgern erlassenen Konstitutionen, auch als posttheodosianische Novellen bekannt, wurden in keiner offiziellen Kodifikation zusammengetragen, sondern nur privat gesammelt. Ein großer Teil dieser Novellen ist uns indirekt durch die Lex Romana Visigothorum überliefert.
Die Leges barbarorum
Nachdem das römische Westreich durch germanische Königreiche abgelöst worden war, stellte sich die Frage nach der juristischen Behandlung römischer Untertanen. Im Hinblick auf das sogenannte Personalitätsprinzip, war mit dem römischen Teil der Bevölkerung nach römischem Recht zu verfahren. Zu diesem Zweck schuf man eigene Kodifikationen, welche die Verhältnisse der römischen Bürger untereinander regeln sollten und die sich hierbei direkt auf die Quellen des römischen Rechts stützten. Drei dieser Kodifikationen sind von besonderer Bedeutung:
Lex Romana Visigothorum oder Breviarium Alarici
Diese Kodifikation5 aus dem Jahre 506 von Alarich II. (gest. 507), dem König der Westgoten, setzt sich zusammen aus Exzerpten der Codices Gregorianus, Hermogenianus und Theodosianus, einiger posttheodosianischer Novellen sowie der Pauli Sententiae (eine postklassische Kompilation aus den Werken des Juristen Paulus), für welche sie die wesentliche Quelle darstellt. Sie enthält darüber hinaus eine zusammenfassende Bearbeitung der Institutiones des Gaius (die sogenannte Epitome Gai) und ein einzelnes Fragment eines Responsum von Papinianus. Fast jeder Text ist von einer kurzen Erläuterung (interpretatio) begleitet. Da der gallische Teil des westgotischen Königsreich kurz nach dem Inkrafttreten verlorenging, galt dort diese Kodifikation nur kurz. Die Kodifikation erlangte jedoch große und nachhaltige Bedeutung auf der iberischen Halbinsel, wohin sich die Westgoten zurückgezogen hatten.
Lex Romana Burgundionum
Diese Kodifikation wurde von Gundobad (gest. ca. 516), König der Burgunder, zwischen Ende des 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts n. Chr. für die römischen Untertanen seines Reiches erlassen. Auch sie schöpft aus den Codices Gregorianus, Hermogenianus und Theodosianus, aus einigen posttheodosianischer Novellen, der Institutionen des Gaius und der Pauli Sententiae. Das Werk ist in 47 Titel unterteilt und enthält ebenfalls lateinische interpretationes, welche sich freilich von den westgotischen unterscheiden.
Edictum Theoderici
Hierbei handelt es sich um eine von Theoderich der Große (453–526), dem König der Ostgoten, erlassene Kodifikation unbekannten Datums. Anders als die bisher genannten leges wandte sich das Edictum Theoderici nicht nur an römische Untertanen, sondern auch an ostgotische. Auch diese Kodifikation schöpft aus den römischen Rechtsquellen, darunter einige rechtswissenschaftliche Werke aus der klassischen Zeit.
Das Corpus Iuris Civilis Kaiser Justinians I.
Nach seiner Thronbesteigung im Jahre 527 begann Kaiser Justinian I. damit den gesamten Rechtsstoff zu sammeln, zu sichten und zu systematisieren. Die Gesamtheit seiner Kompilations- und Gesetzgebungstätigkeit wird seit der Zeit des Humanismus als Corpus Iuris Civilis ("Gesamtkörper des bürgerlichen Rechts")6 bezeichnet. Die justinianische Kompilation besteht aus zwei Sammlungen von kaiserlichen Konstitutionen (von denen die erste, die durch eine zweite abgelöst wurde, nicht überliefert ist), den Digesten, den Institutionen und den Novellen.
Erster Codex
Im Jahre 528 kündigte Justinian I. in der programmatischen Konstitution Haec Quae Necessario eine neue Sammlung von Kaiserkonstitutionen an, welche den Inhalt der bisherigen Sammlungen aufgreifen und weitere Novellen in sich aufnehmen sollte. Diese neue Sammlung sollte die bisherigen ganz ersetzen. Der hiermit befassten Kommission gehörte der der magister officiorum ("Meister der Hofämter") Tribonianus (gest. ca. 542) an, dessen Beitrag für die Vollendung des Kompilationsprojekts entscheidend war. Der erste Codex Iustinianus7 wurde schon im Jahre 529 mit der Konstitution Summa Rei Publicae publiziert. Die Aufgabe der Kompilatoren bestand darin, unter den in Kraft befindlichen Konstitutionen auszuwählen, diese zu kürzen und den Text solchermaßen zu verändern, dass er den gegenwärtigen praktischen Anforderungen genügte. Das in Bücher und Titel unterteilte Werk verfolgte den ausdrücklichen Zweck, die Arbeit der Gerichte zu erleichtern und die Dauer der Prozesse zu verkürzen.
Digesten
In seiner Programmatischen Konstitution Deo Auctore (530 n. Chr.) erklärt Justinian I., in einem einzigen Codex, dem er den Namen Digesta oder Pandectae (aus dem griechischen Πανδέκται) gab, auch die gesamte in den Schriften der klassischen römischen Juristen verstreute Jurisprudenz zusammentragen zu wollen. Justinian I. stattete die hierzu bestellte Kommission unter dem Vorsitz Tribonianus' mit umfangreichen Vollmachten zur Veränderung der Texte aus, um alle Zweideutigkeiten, Wiederholungen, Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten, wie sie für ein Fallrecht typisch sind, zu beseitigen.8 Die Auswahl der Werke erfolgte nicht nach dem Vorrang bestimmter Juristen; alle, insoweit sie das ius respondendi hatten, sollten gleichbehandelt werden.
Die Digesten wurden 533 durch eine Konstitution in Kraft gesetzt, die in zwei Versionen erlassen wurde: einer lateinischen (Tanta) und einer griechischen (Δέδωκεν). Die Digesten sind in 50 Bücher unterteilt, von denen jedes wieder in Titel unterteilt ist, außer den Büchern 30–32, welche dem umfangreichen Thema De legatis et fideicommissis (Über die Vermächtnisse und Fideikommisse) gewidmet sind. Die Anordnung des vorwiegend privatrechtlichen Stoffes folgt dem des prätorischen Edikts. Als eine Anthologie von Fragmenten folgen innerhalb jedem Titel der Digesten Auszüge aus Schriften aufeinander, wobei stets der Autor und das angezogenen Werk angegeben sind (inscriptio). Insgesamt wurden über 200 Werke von 37 (oder 38) Juristen exzerpiert, wobei es ein deutliches Übergewicht der beiden besonders produktiven Juristen Ulpianus und Paulus gibt.
Institutiones
Die neue Systematisierung des Rechts innerhalb des Codex und der Digesten machte eine didaktische Gesamtdarstellung des Rechts notwendig, insbesondere da die Institutiones des Gaius jetzt nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren. Die während der Arbeiten an den Digesten begonnene Redaktion dieses Lehrbuchs, das Tribonianus sowie die Rechtslehrer Theophilus (ca. 6. Jh.) und Dorotheus anfertigten, wurde zusammen mit den Digesten abgeschlossen und gleichzeitig mit diesen im Jahr 533 durch die kaiserliche Anordnung Imperatoriam Maiestatem veröffentlicht. Die Institutiones sind in vier Bücher unterteilt, welche (1) den Personen, (2) den Sachenrechten und der testamentarischen Erbfolge, (3) der gesetzlichen Erbfolge und den Kontraktsobligationen sowie (4) den Klagen und Kriminalprozessen gewidmet sind. Wie den anderen Werken Justinians I., erkannte der Kaiser auch den Institutiones Gesetzeskraft zu.
Gemäß den Absichten Justinians I. sollten Codex, Digesten und Institutiones nicht nur dazu dienen, den Rechtsstoff neu zu organisieren, sondern auch die Grundlage des Rechtsstudiums bilden, das der Kaiser gleichfalls reformierte. Das neue Studienprogramm wurde in der Konstitution Omnem (Ende 533) formuliert.
Zweiter Codex (oder Codex Repetitae Praelectionis)
Wenige Jahre nach der Publikation des ersten Codex machte die gesetzgeberische Tätigkeit der oströmischen Kaiserkanzlei in den Jahren 529–533, sowie die Veröffentlichung der anderen Kompilationswerke, eine zweite Auflage des Codex erforderlich. Dieser Codex Repetitae Praelectionis (d.h. zweite Auflage), dessen programmatische Einführungskonstitution nicht überliefert ist, wurde 534 durch die Konstitution Cordi veröffentlicht. Er ist in 12 Bücher unterteilt und sollte den alten Codex vollständig ersetzen. Dieser wurde dementsprechend ungültig, ebenso wie auch diejenigen Konstitutionen, welche in den zweiten Codex nicht aufgenommen worden waren. Die wichtigste Neuerung bestand darin, dass im zweiten Codex das sogenannte Zitiergesetz nicht mitaufgenommen worden war, da es durch das Inkrafttreten der Digesten hinfällig war.
Novellen
Von der Publikation des zweiten Codex an bis zu seinem Tod entwickelte Justinian I. eine reiche Gesetzgebungstätigkeit, die aber nie in einer offiziellen Sammlung zusammengetragen wurde. Diese sogenannten leges novellae (oder Novellae constitutiones ) wurden jedoch privat gesammelt. Besonders bedeutsam sind folgende Sammlungen:
- die Epitome Iuliani, redigiert im Jahre 555 durch Iulianus Constantinopolitanus (ca. 535–555/65), Professor des Rechts in Konstantinopel, bestehend aus einer lateinischen, abgekürzten Version von 124 Konstitutionen, welche möglicherweise zur Verwendung in der westlichen Reichshälfte diente;
- die sogenannte Graeca oder Marciana, eine Sammlung von 168 Konstitutionen, die vermutlich unter der Herrschaft Tiberius' II. (ca. 540–582) entstand und auch Konstitutionen von Justinians I. Nachfolgern enthält;
- das sogenannte Authenticum, eine mittelalterliche Sammlung von 134 Novellen in lateinischer Sprache.
Geltungskraft und Reichweite der Justinianischen Kompilation
Erst nach der Rückeroberung Italiens aus den Händen der Ostgoten (553) wurde die Justinianische Kompilation auch in einigen Territorien des Westens eingeführt. Auf Ersuchen von Papst Vigilius (ca. 500–555) ordnete Justinian I. in der Konstitution Pragmatica sanctio pro petitione Vigilii an, dass seine Kompilation auch in Italien Geltungskraft erhalten sollte. Diese war freilich nur von kurzer Dauer: 14 Jahre später besetzten die Langobarden das Land – mit Ausnahme einiger weniger Territorien, die byzantinisch blieben. Die Kompilation Justinians wurde bald auf Griechisch übersetzt sowie paraphrasiert und von Kaiser Leo VI. (865–912) in abgekürzter Form als Basilika neu erlassen. Durch diese und andere späterer Quellen galt das justinianische Recht in Byzanz bis zur osmanischen Eroberung im Jahre 1453.
Mit Justinian I. reifte die Idee einer Rechtsordnung als dauerhaftes, homogenes und kompaktes System, das harmonisch und frei von Widersprüche war. Die justinianische Gesetzgebung, und insbesondere die Digesten, sollten nicht nur die Entstehung der europäischen Rechtsordnungen, sondern auch die Geschichte des Rechts und der Kultur in Europa in den darauf folgenden Jahrhunderten entscheidend beeinflussen. Damit bildeten sie die Grundlage der westeuropäischen Rechtstradition.
Das römische Recht im Mittelalter
In den germanischen Königreichen, welche auf dem Boden des weströmischen Reiches entstanden waren, fand germanisches Recht Anwendung. Als Gewohnheitsrecht war dieses nicht kodifiziert. Das römische Recht, in Form des vorjustinianischen Rechts und der kaiserlichen Gesetzgebung, bestand jedoch sehr beschränkt und indirekt weiter, so fern es in die germanischen Gesetzessammlungen eingegangen war. Durch diese Inkorporation beeinflusste das römische Recht die germanischen Volksrechte, insbesondere das langobardische Recht.
Die justinianische Kompilation hingegen wurde im Westen kaum rezipiert. Wie die handschriftlichen Quellen zeigen, überlebte sie nur in einigen Teilen Italiens (vor allem im Süden), und auch dort fand sie – auf Institutionen und Codex beschränkt – wenig Verbreitung und Anwendung. Im frühen Mittelalter war der Codex nur in Form einer in verschiedenen Versionen verfassten Epitome der ersten 9 Bücher bekannt: Eine davon ist die sogenannte Summa Perusina. Die Digesten und damit das klassische Juristenrecht hingegen gerieten völlig in Vergessenheit, womit die Rechtskultur verloren ging. Hüter des römischen Rechts, insbesondere der justinianischen Kompilation, blieb hingegen die Kirche, welche zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert die für sie wichtigen Texte auswählte, in ihre eigenen Texte inkorporierte und für ihre Zwecke nutzte. Dank der Kirche erreichte das römische Recht so auch die entferntesten Gegenden, wo es – über die Vermittlung des kanonischen Rechts – in Domschulen und Klöstern unterrichtet wurde.9
Die Wiederentdeckung der Digesten
Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts tauchten in Italien in einigen juristischen Werken und Rechtsurkunden präzise Referenzen auf das römische Recht und insbesondere die Justinianische Kompilation auf.10 Sie belegten das wiedererwachte Interesse an diesen Texten und deren gesteigertes Verständnis. So wurden Texte aus den justinianischen Quellen (insbesondere Codex, Institutiones und die Epitome Iuliani als die zugänglichsten Texte) in die sogenannten Expositio ad Librum Papiensiem (um 1070) herangezogen, eine aus dem Umkreis von Pavia entstandene Sammlung von Kommentaren und Glossen zum Liber Papiensis, einer Quelle des langobardischen Rechts. Im sogenannten "Urteil von Marturi" (1076) taucht zum ersten Mal ein Zitat aus den Digesten auf. Eine Vielzahl von Textstücken aus den Digesten und den Institutiones finden sich auch in der um 1090 entstanden sogenannten Collectio Britannica, eine Dekretalensammlung, die teilweise auch aus der Justinianischen Kompilation schöpft.
Die Schule von Bologna: Die Glossatoren
Das Studium des römischen Rechts galt im hohen Mittelalter als Bestandteil des Studiums der Rhetorik, welche zusammen mit den beiden anderen artes liberales (Freie Künste) Dialektik und Grammatik (als sogenanntes Trivium) besonders in Rom und Ravenna kultiviert wurde. Es war jedoch Bologna, wo die Rechtwissenschaft im 11. Jahrhundert wieder begründet wurde. Dort entstand eine Rechtsschule,11 welche die von Pavia weit überholte und wo das justinianische Gesetzgebungswerk die Grundlage des Rechtsstudiums bildete. Als Gründer der Schule von Bologna (1088) und der Rechtswissenschaft, für die sie bekannt wurde, gilt Irnerius Bononiensis (ca. 1050–ca. 1125).
Aus den Rechtsstudien, auf denen die Digesten aufgebaut waren, entwickelte sich allmählich eine Standardausgabe der Digesten, die sogenannte Vulgata oder Littera Bononiensis, die die Grundlage des Rechtsunterrichts bildete. Wie die spätere Textkritik gezeigt hat, stammten alle Fassungen der Digestenvulgata direkt oder indirekt – über Vermittlung eines verschollenen Codex (des sogenannten Codex Secundus) – von einer einzigen Handschrift ab, der sogenanten Littera Florentina oder Pisana.12 Irnerius' Auslegungen wurden gewöhnlich zwischen den Zeilen des Textes oder am Rand desselben notiert; hieraus entstand die Glosse als typische Arbeitsmethode der mittelalterlichen Juristen. Wegen dieser exegetischen Methode, nennt man die Schule von Bologna auch die der Glossatoren.13 Die Auslegungstätigkeit der Glossatoren basierte auf den wissenschaftlichen Prinzipien der artes liberales des Triviums. Diese eigentümliche Ausrichtung brachte besondere Werkgattungen hervor, wie den summae (Übersichten über den Inhalt einzelner Titel der Rechtsbücher), den distinctiones (Begriffsunterscheidungen) und den quaestiones (in Frageform abgefassten Abhandlungen). Was den Codex angeht, konzentrierte sich die Arbeit vor allem darauf, den ursprünglichen Text so weit wie möglich wiederherzustellen.
Zu den bedeutendsten Meistern der Schule von Bologna nach Pepo und Irnerius zählte auch Johannes Bassianus (gest. 1197),14 welcher die Methode der Glossatoren verfeinerte. Sein Schüler Azo Portius (ca. 1150–ca. 1230) ordnete auf systematische Weise alle vorhandenen Glossen verschiedener Gelehrter, die bis dahin entstanden waren und sich teilweise überlagerten. Seine Summa zum Codex Iustinianus, eine zusammenfassende Darstellung von verschiedenen Rechtsgebieten, wurde in der Praxis und vor Gericht zum Standardwerk. Franciscus Accursius (ca. 1185–ca. 1263), ein Schüler des Azo, fügte in den Jahren 1220–1240 die gut 96.000 Glossen zu einer geschlossenen Einheit zusammen: der sogenanten Glossa Ordinaria oder Glossa Accursiana. Diese gewann im Laufe der Zeit eine solche Autorität, dass die Rechtsanwender sie selbst als Rechtsquelle behandelten. Es wurde zum Standard, die Texte der justinianischen Kompilation zusammen mit der Glossa Ordinaria wiederzugeben, die den Text der Digesten umringte, so dass beide eine untrennbare Einheit bildeten. Mit der Glossa Ordinaria wurde die Schule von Bologna zum bedeutendsten Zentrum der juristischen Studien, das Studenten aus vielen europäischen Ländern anzog. Kehrten sie in ihr Herkunftsland zurück, so brachten sie nicht nur die in Bologna erworbenen Rechtskenntnisse und Methoden mit, sondern auch die Texte, welche die Grundlage des Unterrichts gebildet hatten. Auf diese Weise breiteten sich das römische Recht und die von den Bolognesern neu begründete Rechtswissenschaft in ganz Europa aus.
Die Kommentatoren
Am Beginn des 14. Jahrhunderts entwickelte sich in Südfrankreich eine neue Auslegungstechnik: die der Kommentatoren,15 die sich in anderen europäischen Ländern verbreitete. Aus der dialektischen Methode der Scholastik entstanden, zielte diese Methode weniger darauf ab, die Texte logisch-formal zu harmonisieren, sondern die darin enthaltenen Prinzipien auf die konkrete Situation ihrer Zeit anzuwenden.16 Diese Technik, welche die der Glossatoren bald ablösen sollte, war nicht mehr mit der glossa verbunden, sondern mit der Literaturgattung des "Kommentars". Den sogenannten Kommentatoren verdanken wir eine tiefgreifende Systematisierung des Rechtsstoffes. Als erster Kommentator gilt Cinus de Pistorio (ca. 1270–ca. 1336), der seine Ausbildung an der Rechtschule von Orléans erhielt. Er wendete in seiner Lectura super Codicem zum ersten Mal das Programm der Kommentatoren systematisch an.
Unter den Kommentatoren nehmen, neben Cinus, zwei Juristen eine ganz besondere Stellung ein: Bartolus de Saxoferrato (ca. 1314–1357) (Cinus' Schüler) und Baldus de Ubaldis (ca. 1327–1400). Bartolus, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Pisa und Perugia als Rechtslehrer wirkte, schrieb ausführliche Kommentare zu jedem Teil des Corpus Iuris. In seinen Werken führte er nicht nur die Meinungen vorangegangener Juristen an, sondern entwickelte in der Regel auch eine eigene Position, die oftmals mit der Tradition brach und sich gegenüber den Glossatoren durchsetzte. Bartolus versuchte, in der justinianischen Kompilation Lösungen für typische Probleme seiner Zeit zu finden und das römische Recht den neuen Verhältnissen anzupassen. Seine Methode, die viele Nachfolger fand und sich in den Rechtsschulen etablierte, war so erfolgreich, dass die Kommentatoren auch als "Bartolisten" bezeichnet wurden.
Baldus dehnte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts den Anwendungsbereich von Bartolus' Methode auf das kanonische Recht und das Feudalrecht (Lehnrecht) aus. Er war auch stärker in der Praxis tätig und veröffentlichte eine Reihe von Kommentaren und consilia (Gutachten zu konkreten Rechtsfragen) aus denen sich eine Literaturgattung entwickelte. Auch das Werk des Baldus diente dazu, das justinianische Recht, das als Modell juristischer Rationalität begriffen wurde, den Bedürfnissen der eigenen Zeit anzupassen. Das römische Recht, das die Ausbildung des Juristen ohnehin weiter prägte, blieb entsprechend die Basis, von der aus das geltende Recht in rationaler Weise abgeleitet wurde.
Römisches Recht und kanonisches Recht
In Bologna studierte auch der Mönch Gratianus de Clusio (gest. ca. 1158), der den Stoff des kanonischen Rechts – vom römischen Recht stark beeinflusst – systematisch organisierte und als Decretum Gratiani 1140 veröffentlichte. Es handelte sich hierbei um ein Regelwerk, das aus verschiedenen Quellen des Kirchenrechts gewonnen und später von anderen Dekretalensammlungen (Liber Extra, Liber Sextus, Clementinae) ergänzt wurde. Was Ausbildung und Wissenschaft angeht, stand das kanonische Recht mit dem römischen in enger Verbindung und diente oft als dessen Vermittler.
Das kanonische Recht entwickelte sich langsam zu einem einheitlichen und geschlossenen System. Im Laufe des 14. Jahrhundert begannen Kleriker und profane Juristen, eine Ausbildung in utroque iure ("im Recht beiderlei Richtungen", d.h. römisches und kanonisches Recht) zu durchlaufen, und man ging dazu über, beide Systeme als Aspekte eines einheitlichen ius commune ("Gemeinen Rechts") zu erachten, welches über ganz Europa verbreitet war. In der Rechtspraxis halfen die Grundsätze beider Rechtsordnungen besonders dabei, ein rationaleres Prozessrecht auszubilden.17
Das römische Recht in der Neuzeit
Der Einfluss des Humanismus: Mos italicus und mos gallicus
Im Zuge der Renaissance wandten sich im 15. Jahrhundert auch die Juristen in Italien verstärkt der Antike zu. Im Anschluss an Studien Lorenzo Vallas (ca. 1407–1457) und Angelo Polizianos (1454–1494) entstand eine neue Rechtsschule der Humanisten,18 die sich vom Werk der Glossatoren und Kommentatoren entschieden absetzte. Mit dem Ziel die Rechtswissenschaft zu erneuern, hielten vor allem zwei neue Methoden Einzug in das Studium der römischen Rechtsquellen: die Historisierung und die philologische Analyse. Gründer und wichtigster Exponent dieser neuen gelehrten oder humanistischen Schule war der italienische Jurist Andrea Alciati (1492–1550). Im 16. Jahrhundert fiel diese neue Methode auf fruchtbaren Boden vor allem in Frankreich, wo Alciatus an den Universitäten von Avignon und Bourges gelehrt hatte. Diese Schule, deren wichtigsten Vertreter Hugo Doneau (1527–1591) und Jacques Cujas (1522–1590) wurden,19 zeichnete sich durch eine strikte Ablehnung der Methode und der Weitschweifigkeit der mittelalterlichen Juristen aus, insbesondere der Kommentatoren. Stattdessen verfolgten die humanistischen Gelehrten eine systematisch geschlossene und klare Darstellung und bemühten sich zudem um Unabhängigkeit gegenüber dem Urteil der mittelalterlichen Juristen. Ihr Ziel war eine "Rückkehr" zur Antike, die mit einer besonderen Wertschätzung des klassischen Rechts einherging. Mit Hilfe einer neuen philologischen Methode versuchten sie, die Manipulationen der justinianischen Kompilatoren (sogenannte "Interpolationen" oder auch "Tribonianismen") zu erkennen und die Reinheit der klassischen Rechtstexte in ihrem ursprünglichen Sinn wiederherzustellen.
Da diese Schule in Frankreich besonderen Erfolg hatte, bezeichnete man ihre Methode, obwohl sie in Italien entstanden war, als mos gallicus ("französischer Stil"). Die vorangehende Schule der Kommentatoren hingegen nannte man in Abgrenzung hierzu mos italicus ("italienischer Stil"). Zu diesem Erfolg trug auch ein wachsendes französisches Selbstbewusstsein bei, das sich ebenfalls in einem gesteigerten Interesse an der Geschichte und an den Institutionen Frankreichs sowie in einer immer stärkeren Bedeutung des droit coutumier (Gewohnheitsrecht) niederschlug. Im Zuge der Historisierung kam es unter den französischen Juristen zu einem Bedeutungsverlust des römischen Rechts in der Rechtspraxis. Man meinte nun, das römische Recht habe den Charakter eines ewigen und unwandelbaren Modells der Gerechtigkeit verloren. Gegen das römische Recht richtete sich Widerstand und regelrechte Feindschaft, die François Hotmans (1524–1590) polemische Schrift Antitribonianus (verfasst 1567)20 belegte.
Die Rezeption des römischen Rechts in Europa: Frankreich und Deutschland
Während das Studium des römischen Rechts weiterhin als unerlässlich für die Ausbildung der Juristen galt, verlor es im 16. und 17. Jahrhundert in manchen Ländern als Quelle des geltenden Rechts an Bedeutung. Mit Blick auf die vielen lokalen Partikularrechte (ius proprium) fiel dem römischen Recht mehr und mehr die Funktion einer Ersatzrechtsordnung mit allgemeiner Geltung zu, die vor allem dann galt, wenn das ius proprium zu unbefriedigenden Lösungen führte oder Lücken aufwies.21
Dies betraf vor allem Frankreich, wo das römische Recht zunehmend an Autorität einbüßte und als ius commune seine Geltung nur insoweit behielt, als es das lokale Recht, und zwar die aus den germanischen Volksrechten stammenden coutumes (Gewohnheiten/Sitten), ergänzte. Als das Recht der coutumes offiziell für den Gerichtsgebrauch vor allem in Nordfrankreich gesammelt wurde, wurde dieses droit coutumier Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung und löste insoweit das römische Recht ab. Dieses galt nicht mehr als ein Korpus von geltenden Normen, sondern ausschließlich als ein Komplex von Theorien und Dogmen, welche für die Ausbildung des Juristen nützlich waren. Kritisiert wurde am römischen Recht, und insbesondere an der justinianischen Kompilation – mit Ausnahme der Institutionen –, ein Mangel an systematischer Geschlossenheit. Anders war es in Südfrankreich, wo das römische Recht als droit écrit ("geschriebenes Recht") prägend blieb.
In anderen, vor allem in den mitteleuropäischen Ländern, wo das römische Recht kaum verbreitet war, führten insbesondere das kanonische Recht und die Übernahme der römisch-kanonischen Prozessform durch verschiedene Gerichtsbarkeiten zu jener historischen Entwicklung, die allgemein als "Rezeption des römischen Rechts" bekannt ist. Ihre erste Spuren (die sogenannte "Frührezeption") sind schon im Spätmittelalter nachweisbar. Als "Rezeption" bezeichnet man das Phänomen, wofür das römische Recht in Gestalt des ius commune in die Gerichtspraxis einging und als eine Ersatzrechtsordnung angewandt wurde. Dabei wurde vor allem die in den italienischen Universitäten gelehrte Arbeitsmethode des mos italicus übernommen. Dieses komplexe soziokulturelle Phänomen, das sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte, griff in verschiedenem Ausmaß auf fast ganz Europa über, nicht aber auf England, wo sich schon früher das System des common law herausgebildet hatte.
Am bedeutendsten war die Rezeption in Deutschland,22 wo sich die Prinzipien des römischen Rechts im Laufe des Mittelalters nicht weit verbreitet hatten. Vielmehr bestand das Recht in Deutschland aus einem Mosaik verschiedener Gewohnheitsrechte, welche als einzige vor Gericht unmittelbare Anwendung fanden. An den deutschen Universitäten, welche seit dem 14. Jahrhundert entstanden waren und vorwiegend von Klerikern besucht wurden, lehrte man zumeist kanonisches Recht. Nur in einigen Einrichtungen wurde ab der Mitte des 15. Jahrhunderts der elementare Unterricht im römischen Recht eingeführt, da es für die Ausbildung der Juristen nützlich schien.
Dank der Tätigkeit der Juristen, deren Zahl zunehmend wuchs, begann seit dem Ende des 15. Jahrhunderts eine "Romanisierung" der Rechtsordnung. Dieser komplexe Prozess hatte mehrere Ursachen.23 Vermittler waren einerseits deutsche Studenten, die seit jeher italienische und französische Universitäten frequentierten. Gelehrte Juristen besetzten als Räte, Syndici, Richter und Rechtsanwälte Posten in der Verwaltung, einschließlich der Justizverwaltung. Zusätzlich begannen weltliche Gerichte den römisch-kanonischen Prozess zu übernehmen. Diesem Prozess gegenüber bestand der Nachteil der autochthonen Rechte darin, dass sie nicht schriftlich fixiert waren. Ein weiterer Grund für die Rezeption römischen Rechts lag in der Praxis der Gerichte, die Rechtsfakultäten um Gutachten zu bitten. Bei der Beantwortung stützte man sich, vor allem im Bereich des Obligationen- und Vertragsrechts, auf die romanistische Lehre. Dies führte zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu einer Annäherung von Theorie und Praxis und damit zu einer verstärkten Rezeption des römischen Rechts. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die Einsetzung des Reichskammergerichts (1495),24 das zur Hälfte aus Fachjuristen bestand. Seine Verfahrensordnung sah den Rückgriff auf das römische Recht in Gestalt des ius commune ausdrücklich dort vor, wo die Anwendung der Volksrechte nicht möglich war.
Diese rasche Entwicklung, welche auch durch die Wiederentdeckung der Antike im Zuge der Renaissance begünstigt wurde, war nicht frei von Ideologie: Im dezentral organisierten Heiligen Römischen Reich galt das Corpus Iuris Kaiser Justinians I. als Symbol und Garant der Einheit sowie als Ausdruck des Oberhoheitsanspruchs des Kaisers.
Usus Modernus Pandectarum
Mit Blick auf einen engeren Praxisbezug entwickelte sich in der deutschen Rechtswissenschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Richtung, die darauf zielte, das römische Privatrecht justinianischer Prägung auf die soziokulturellen Zustände Deutschlands jener Zeit anzuwenden. Hierbei stützte man sich auf den mos italicus, die Praxis der deutschen Gerichte und den Stoff der lokalen Rechte. Diese neue Strömung,25 die hauptsächlich auf das Gebiet des Privatrechts konzentriert war, bestand bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort, als sie von der Pandektistik abgelöst wurde. Getragen wurde sie von Juristen, die an der Universität eine Ausbildung in römischem Recht erhalten hatten, und die teils als Universitätsdozenten, teils als Praktiker tätig waren. Wichtigste Vertreter dieser Richtung sind Benedict Carpzov (1595–1666) und Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741).26 Besonders hervorzuheben ist Samuel Stryk (1640–1710), dessen Usus Modernus Pandectarum (1690–1709), eine mehrbändige Darstellung des Rechts nach der Ordnung der Pandekten, dieser Richtung ihren Namen gab.
Die Rezeption des römischen Rechts in den Niederlanden: Die "holländische elegante Schule"
Auch in den Niederlanden fand im späten Mittelalter eine "frühe" Rezeption des römischen Rechts statt, wiederum über die italienische Rechtswissenschaft und das kanonische Recht. Dazu trugen auch die Gründungen der Universität in Löwen (1427) und der höheren Gerichte, wie den "Grote Raad" von Mechelen (1473), bei. Im Laufe des 16. Jahrhunderts kam es dann zu einer Blüte der Rechtswissenschaft: Die Werke der Juristen Joost de Damhouder (1507–1581), Wigle van Aytta (1507–1577), Jacques de Corte (ca. 1505–ca. 1567) und Jacobus Raevardus (1534–1568), die hauptsächlich auf dem römischen Recht basierten, waren in vielen europäischen Länder verbreitet und prägten dort die Entwicklung des Rechts.27
Die endgültige Spaltung der Niederlande in die nördlichen (protestantischen) und südlichen (katholischen) Provinzen gegen Ende des 16. Jahrhunderts förderte den Rezeptionsprozess. An den ersten Universitäten (besonders Leiden), die in den nördlichen Niederlanden gegründet wurden, basierte der Rechtsunterricht auf römische Rechtsquellen. Das Eindringen des "gelehrten" römischen Rechts in die Praxis nahm in der Folge zu. Dazu trugen u.a. auch die Entstehung von zentralen Appellationsgerichten, an denen im Römischen Recht geschulte Juristen tätig waren, und vor allem die Verbreitung der humanistischen Strömungen bei, die nach der religiös motivierten Zuflucht humanistisch gebildeter Juristen aus Frankreich gestärkt wurden. Die Rechtslehrer, insbesondere der Universität von Leiden, wirkten entscheidend auf die Entwicklung eines neuen Rechts ein, das auf dem römische Recht in der Form der justinianischen Kompilation basierte. Infolge der Lehrtätigkeit des französischen Juristen Doneau an der Universität Leiden (1579–1587), dessen Wirkung auch durch seine Schüler vermittelt wurde, entstand eine neue, sogenannte "elegante" Jurisprudenz, die sich aber erst später, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, vollständig herausgebildet hatte.28 Sie war zum einen durch antiquarisch-humanistische (d.h. historisch-philologische) Züge, zum anderen durch ihre Praxisnähe charakterisiert, wobei sie mos Gallicus, mos Italicus und den Pragmatismus des deutschen Usus Modernus Pandectarum harmonisch kombinierte und deren Ziele synthetisierte. Dieser Schule, zu der einerseits Gerard Noodt (1647–1725), Henrik Brenkman (1680–1736), Anton Schulting (1659–1734) und Cornelius van Bijnkershoek (1673–1743), andererseits Arnoldus Vinnius (1588–1657), Ulrik Huber (1636–1694) und Johannes Voet (1647–1713) gehörten, galt eine Ausbildung im römischen Recht als unersetzlich. Die holländische Rechtswissenschaft wurde so Ende des 17. Jahrhunderts in Europa führend und erlebte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine Blütezeit. Sie beeinflusste auch die niederländischen Kolonien – vor allem Südafrika, wo sie als römisch-holländisches Recht Geltung hatte – und erlangte auch in Schottland große Bedeutung, da schottische Studenten in großer Zahl holländische Universitäten besuchten.
Das Fortleben des römischen Rechts bis zum 19. Jahrhundert
Obwohl der Entstehungsprozess der lokalen Rechte – in Form sowohl der Gewohnheits- als auch der Nationalrechte – in vielen europäischen Ländern schon längst weit fortgeschritten war, fungierte das römische Recht des justinianischen Corpus Iuris noch im 17. und 18. Jahrhundert als Gemeinrecht. Seine Geltung, die vorher Ausdruck einer übernationalen Rechtskultur war, lebte aber nur noch subsidiär fort. An den Universitäten ganz Europas basierte der Rechtsunterricht weiterhin auf dem römischen Recht. Dieses Recht wurde immer noch vor Gericht angewandt, insbesondere dann, wenn sich Lücken im geltenden Recht auftaten, was besonders im Privatrecht der Fall war. Auch diejenigen Rechtsordnungen, die sich am deutlichsten vom römischen Recht gelöst hatten, wie z.B. die französische, wiesen weiterhin romanistische Einflüsse auf. In Frankreich lebte in der Gesamtheit der napoleonischen Kodifikation, vor allem im Code Civil (1804), die romanistische Tradition fort, indem die Normen und Prinzipien des römischen Rechts einbezogen wurden. Von Frankreich ausgehend beeinflusste der Code Civil und dessen romanistische Grundlage auch Italien, wo man ihn als Vorbild für die eigene Kodifikation – den sogenannten Statuto Albertino (1865) – aufgriff.29
In Deutschland förderte die neue wissenschaftliche Richtung der von Carl Friedrich von Savigny (1779–1861) gegründeten "Historischen Rechtsschule"30 das Studium des römischen Rechts und dessen Quellen. Man untersuchte es sowohl in seiner historischen Dimension (womit man die von Gustav Hugo [1764–1844] eingeleitete Tendenz weiterführte) als auch gezielt auf dessen praktische Anwendung hin, vor allem im Bereich des Privatrechts. Durch die Untersuchung der römischen Rechtsquellen wollte man eine neue deutsche Rechtswissenschaft hervorbringen, was auch die politischen Einheitsbestrebungen widerspiegelte. Aus der Historischen Schule heraus entwickelte sich, dank Georg Friedrich Puchta (1798–1846), einem Schüler von Savigny, die sogenannte "Pandektenschule", auch "Pandektistik" genannt,31 die sich vor allem den privatrechtlichen Aspekten des römischen Rechts zuwandte. Diese Schule, die durch Begriffsformalismus charakterisiert war und in Europa auf große Resonanz und Einfluss stieß, förderte eine kritische Forschung vor allem der Digesten (auch Pandekten genannt). Ziel war es, mit direkt vom römischen Recht abgeleiteten Bausteinen die Bildung und Organisation eine dogmatische Konstruktion des Privatrechts auszubilden und zu organisieren. Außerdem wollte man ein rationales, in Begriffe strukturiertes Rechtssystems schaffen, um eine praktische Anwendung des justinianischen Rechts zu ermöglichen. Unter den Pandektisten ist besonders Bernhard Windscheid (1817–1892) und sein Hauptwerk Lehrbuch des Pandektenrechts (seit 1862 u.f.) zu nennen.32
Das lange vorbereitete Nationalgesetzbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB),33 an dessen erstem Entwurf auch Windscheid teilgenommen hatte und dessen Erarbeitung nicht reibungslos verlaufen war, trat am 1. Januar 1900 in Kraft und setzte somit die positive Geltung des römischen Rechts außer Kraft. Dessen Prinzipien aber, so wie sie von der deutschen Pandektistik interpretiert wurden, waren darin integriert. Das BGB repräsentiert das klarste Bild einer europäischen Rechtskultur, die immer noch fest in ihrer romanistischen Tradition verwurzelt war und ist.