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Einführung
Die Gestaltung der täglichen Ernährung1 war und ist von vielen exogenen Faktoren abhängig.2 Dabei spielen individuelle Präferenzen erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewichtigere Rolle. Insbesondere in der Vormoderne bestimmten vielmehr politische, ökonomische und religiöse Faktoren, was auf den Tisch kam. Die Auswahl der Nahrung, aber auch die Kulturtechnik der Einnahme und die Verhaltensnormen bei Tisch waren von der Tradition geprägt; sie galten grundsätzlich als verbindlich.3
Die europäische Esskultur der Neuzeit bot zunächst eine enorme räumliche und soziale Vielfalt, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorherrschte.4 Diese Bandbreite an Traditionen, denen eigentlich nur die große Wertschätzung für energiedichte und eiweißreiche Produkte gemein war, wurde jedoch zumindest bei der europäischen Oberschicht seit dem 16. Jahrhundert eingeschränkt, denn die französische Adelsküche avancierte zum europäischen Leitstern. Mit dem 20. Jahrhundert trat dann eine andere, nämlich amerikanische Nahrungsleitkultur auf den Plan, aber die Ernährungsmuster basierten eher auf industrieller Fertigung, Produkten für ein Massenpublikum und vor allem auf einem neuen Typ von Verzehrsituation, der langfristig maßgeblich zur Auflösung gewachsener Ess-Chronologien beitrug.5
In den historischen Quellen haben viele Bereiche der alltäglichen Ernährung nur unzureichenden Niederschlag gefunden. Das betrifft insbesondere den ländlichen Raum und dabei jene Nahrungsmittel, die weder gehandelt noch besteuert wurden: etwa Kräuter und Gemüse aus dem heimischen Garten oder im Herbst gesammelte Pilze und Beeren. Immerhin ist aber beispielsweise bekannt, dass zunächst Rüben, Kohl, Bohnen und Erbsen, daneben auch Lauch, Sellerie und Kürbis, die Basis bildeten. Anfang des 16. Jahrhunderts erweiterte sich die Palette um Weißkohl, Rotkohl und Wirsing, nach der Mitte des 16. Jahrhunderts kamen Rosenkohl, Kohlrabi, Blumenkohl, Mangold und kopfbildende Salate hinzu. Die ertragreichen Böden Südwestdeutschlands, des niederländischen Raums und vor allem Frankreichs waren auch hier den vergleichsweise mageren Böden Osteuropas und besonders Russlands weit überlegen. Im dünn besiedelten skandinavischen Norden war wiederum überhaupt kein Gartenbau möglich. Allerdings hatte hier das Sammeln im Wald eine größere Bedeutung.
Vergleichsweise detaillierter sind wir über den Alkoholkonsum unterrichtet, da er aus ordnungspolitischen wie fiskalischen Gründen deutliche Spuren in den Quellen hinterlassen hat, weswegen ihm hier auch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden soll.6 Die Ernährung der Neuzeit durchlief mehrere Phasen, die sich zum großen Teil aber überschnitten, indem sie sich gegenseitig bedingten, aber auch divergent verliefen. Sie sind deshalb nur schwer eindeutig zu identifizieren. Relativ klar lassen sich jedoch zwei große Phasen umreißen, nämlich die der Reformation, welche in den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) mündete und aufgrund ihres Umgangs mit der Fastenfrage auf dichtem Raum unterschiedliche Speisesysteme entstehen ließ, und die späte Phase der Kleinen Eiszeit, die für erhebliche Missernten und latente Unterversorgung bis ins 19. Jahrhundert verantwortlich war. Zudem drangen aber auch neue Speisen aus anderen Kontinenten und den Kolonien auf den europäischen Speisezettel vor, und die einst höfischen Tischsitten setzten sich allmählich in breiteren Bevölkerungskreisen durch.
Das Ende der mittelalterlichen Küche?
Im Übergang zur Neuzeit war die Ernährung in Europa noch primär mittelalterlich geprägt, und erst allmählich wurden die alten Schemata aufgebrochen. Das bedeutete für die Bevölkerungsmehrheit vor allem in den Städten Mitteleuropas, dass die Kalorienversorgung sowohl besser als in den Jahrhunderten zuvor als auch als im 18. und frühen 19. Jahrhundert war. Schätzungen gehen von einem Konsum von etwa 200 Kilogramm Getreide pro Kopf und Jahr aus. Beim Fleischverbrauch vermuten neuere Forschungen zwar niedrigere Mengen als frühere Wissenschaftler,7 aber im Gebiet nördlich der Alpen dürften immer noch etwa 50 Kilogramm pro Kopf und Jahr verzehrt worden sein, wobei diese Quoten im Norden des deutschsprachigen Raums deutlich höher waren als etwa am Mittelmeer.8
Eine vollständige Tagesration bestand meist aus einem Morgenimbiss, nachdem die erste Arbeit getan war ("prandium" oder "imbs"), und einem Abendessen. Daneben wurden oft noch bis zu drei Zwischenmahlzeiten eingenommen, nämlich Morgensuppe, Abendbrot und Nachttrunk. Grundnahrungsmittel waren bei den Armen vor allem Brot und Mus (meistens mit Schmalz gekochter Getreidebrei). Brot war umso feiner, je weißer es war. Beim Fleisch war gekochtes Suppenfleisch die einfachste bzw. billigste Variante. Angesehener waren Braten, Geflügel und Wild, welches allerdings reine Herrenspeise war.
Unterschiede zwischen arm und reich gab es auch beim Fisch, den man vor allem an den insgesamt bis zu 150 Fastentagen aß. Den Wohlhabenderen stand eine große Palette frischer See- und Süßwasserfische zur Verfügung. Am beliebtesten war der Lachs, der in Mitteleuropa als Süßwasserfisch praktisch überall relativ leicht zu fangen war. Für ärmere Leute gab es neben heimischen Flusskrebsen vor allem eingesalzenen oder getrockneten Seefisch, auch tief im Binnenland. Eine florierende Teichwirtschaft, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in einem breiten Gürtel von Böhmen, Polen und Schlesien über die Lausitz bis nach Württemberg und Lothringen reichte, ermöglichte bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein eine gute Süßwasserfischversorgung. Gravierende soziale Unterschiede bestanden auch bei der Gemüseversorgung. Für die Armen war kaum mehr als getrocknete Hülsenfrüchte erschwinglich, während die Reichen frische Saisongemüse und in den großen Städten sogar gelegentlich Zitrusfrüchte kaufen konnten.
Einen fundamentalen Wandel an der Schwelle zur Neuzeit erlebte der Getränkekonsum. Zum einen war seit dem Spätmittelalter vor allem wegen der zunehmenden Klimaungunst weniger Wein hergestellt und getrunken worden. Zum anderen begannen die lagerfähigeren untergärigen Hopfenbiere zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert allmählich die älteren, aus einer Kräutermischung gebrauten Grutbiere zu verdrängen.9 Wein, gerne gewürzt, gesüßt und erhitzt, avancierte nun zum zentralen Element einer europäischen Weinkultur der Oberschichten. Allerdings wurden Alkoholika nicht annähernd in jenen Mengen getrunken, von denen die ältere Kultur- und Sittengeschichte ausging. Plausiblen Schätzungen zufolge lag der durchschnittliche Verbrauch selbst in Köln, einer der reichsten Städte jener Zeit, allenfalls zwischen 175 und 295 Litern Bier pro Kopf und Jahr.10 Viele Menschen tranken aber vor allem oder sogar ausschließlich Wasser, da die vormodernen Agrargesellschaften gar nicht in der Lage waren, hinreichend vergärungsfähige Ausgangsstoffe zu produzieren.
Die Kombination aus Mahl, Öffentlichkeit und Repräsentation war für das soziale und kulturelle Leben zentral. Dies galt grundsätzlich für den bäuerlichen Bereich – das um 1568 im flämischen Raum entstandene Gemälde De Boerenbruiloft (Die Bauernhochzeit) von Pieter Bruegel dem Älteren (ca. 1525–1569), strukturell noch mittelalterlich, vermittelt hiervon einen Eindruck. Wegen der zahlreichen Heiligen-, Fest- und Feiertage lag die Arbeitsbelastung im städtischen Handwerk meist bei allenfalls 265 Arbeitstagen jährlich – was einer modernen Fünftagewoche entspricht. Das Essen der arbeitsfreien Tage unterschied sich von dem der Werktage, denn es war reichhaltiger und eiweißreicher, aber ebenso wie während der Woche wurde es in der Gruppe eingenommen, eher mit Arbeitskollegen als innerhalb der Familie, und die Verzehrsituation spiegelte Hierarchien und Traditionen.
Besonders aufwendige und repräsentative öffentliche Festgelage dienten dazu, diese hierarchischen Ansprüche zu dokumentieren.11 Beispielsweise veranstalteten die Ratsherren der reichen Bodenseestadt Konstanz im Dezember 1452 ein solches Festmahl zu Ehren des Bürgermeisters und des Vogtes. Aus der Tatsache, dass die Stadtrechnungen als Gä12
Es ist jedoch fraglich, welcher Aussagewert diesen Angaben im Rahmen einer Kulturanalyse zukommt. Aßen die Herren tatsächlich pro Kopf zwei Kilo Fleisch sowie mehrere Fische und Beilagen, und tranken sie je fünf Liter Wein? Mit Sicherheit war das nicht der Fall. Man kann eher davon ausgehen, dass die Reste mit nach Hause genommen wurden, an Arme verschenkt oder als inflationsunabhängige Naturalabgabe an städtische Bedienstete gegeben wurden.
Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit fand auf dem Esstisch vergleichsweise wenig Niederschlag, und von den Grundstrukturen der mittelalterlichen Mahlzeiten blieben viele Aspekte bis weit ins 16. Jahrhundert hinein bestehen. Das war bezüglich des Verhaltens bei Tisch durchaus anders. Anhand einer Fülle französischer Benimmregeln aus der Mitte des 15. Jahrhunderts wird deutlich, wie mühsam es auch für die oberen Gesellschaftsschichten war, sich von älteren Normen zu lösen, also nicht zu Beginn des Mahls mit der Hand in alle Schüsseln zu greifen, angenagte Knochen nicht zurück in die Schüsseln zu legen oder hinter sich zu werfen oder sich auch nur die Hände vor dem Essen zu waschen.13 Der "Prozeß der Zivilisation"14 vollzog sich eben allenfalls ganz allmählich. Dem späten 15. Jahrhundert hafteten noch viele archaische Züge an: Einerseits legte man ein angebissenes Hühnerbein wieder in die Schüssel zurück, andererseits machte man sich intensiv Gedanken über Fastengebote und die Gottlosigkeit der Völlerei.
Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurde auch in den stärker urbanisierten Gegenden des deutschen Sprachraumes die so genannte Tischzucht diskutiert. Eines der frühesten Dokumente stellt ein Band aus der Feder der Clara Hätzlerin (1430–1476) dar, den die Augsburger Bürgertochter 1471 unter dem Titel Von tisch zucht publizierte. Ihr ging es unter anderem um die Frage der Rangordnung bei Tisch und um den Stellenwert des Tischgebetes. Auch legte sie den Lesern nahe, das Tischtuch nicht zum Schnäuzen der Nase zu missbrauchen. Ähnliche Regeln wurden bald für das gesamte europäische Bürgertum verbindlich und markieren die beginnende Homogenisierung der Esskultur der europäischen Mittel- und Oberschichten.15
Im Übergang zur Neuzeit war darüber hinaus ein ausdifferenziertes Gaststättenwesen integrativer Bestandteil der europäischen Ess- und Trinkkultur. Vor allem an Handelsstraßen und in Städten waren die multifunktionalen Gasthäuser verbreitet und fungierten als Zentren der Kommunikation und des Neuigkeitenaustauschs, während im ländlichen Raum oder auch in wenig besiedelten Regionen Nord- und Osteuropas die ältere, archaische Gastlichkeit vorherrschend blieb.
Wir können resümieren, dass die Struktur der europäischen Ernährung zwischen 1450 und 1550, auch nach der Entdeckung der Neuen Welt, vergleichsweise geringe Modifikationen erfuhr. Dagegen wirkte die Reformation deutlich einschneidender – denn sie veränderte die Fasten- und Feierkultur fundamental, indem sie vielerorts die Heiligentage abschaffte. Darüber hinaus führte sie vor allem in ihrer calvinistischen Variante zu einer grundsätzlich kritischeren Neubewertung der Nahrungsaufnahme. Martin Luther (1483–1546) prangerte die vermeintliche Trunksucht der Deutschen an, war aber selbst einem irdischen Leben in Fülle nicht grundsätzlich abgeneigt, während Johannes Calvin (1509–1564) und Ulrich Zwingli (1484–1531) jeglicher Völlerei den Kampf ansagten. Zudem wurden die bis dahin strengen Fastengebote in den protestantischen Gebieten gelockert oder gar ins Gegenteil verkehrt. So entbrannte an den Grenzlinien zwischen katholischen und protestantischen Lebenswelten bald erbitterter Streit um die vermeintlich richtige Ernährung, der erhebliche alltagskulturelle Wirkung zeigte. Was in den nördlichen Niederlanden, in der Schweiz oder in Skandinavien fortan auf den Tisch kam und wie die öffentlichen Wirtshäuser bewertet und vor allem auch reglementiert wurden, unterschied sich fortan erheblich von den Praxen des katholisch gebliebenen Raums.
Konsum und Innovation am Beginn der Neuzeit – Reis, Buchweizen und Fleisch
Die strukturell noch immer mittelalterliche, gewürzschwere Küche der Herrschenden sowie die Ernährungskulturen der breiten Bevölkerung erhielten ihre wichtigsten Impulse zu Beginn der Neuzeit noch immer aus Italien. Gerade die Macht des alten Handelshafens Venedig dominierte die Küchen Mitteleuropas, so dass gegen Ende des 15. Jahrhunderts der Anbau von Reis in Oberitalien zu einer frühen Blüte gelangte und über den Alpenhandel rasch den mitteleuropäischen Raum erreichte. Nachdem riso bereits zuvor im klösterlichen Umfeld kultiviert und gemahlen als Salbenbindemittel verwendet worden war, führten politische Vorstöße seitens einzelner Landesherren, vor allem des mailändischen Herzogs Gian Galeazzo Sforza (1469–1494), zum flächenmäßigen Anbau von Reis südlich der Alpen. Besonders im Vergleich zu den etablierten Getreidesorten versprach der Anbau von Reis einen vielfach höheren Ertrag und damit eine weitere Sicherung in den Hungerkrisen. Gefördert durch Ratgeberliteratur wie die Discorsi ("Reden", 1544) von Pietro Andrea Mattioli (1500–1577) verbreitete sich der Reisanbau im Lauf des 16. Jahrhunderts in ganz Oberitalien. In der gut bewässerten Poebene etablierte sich der "Schatz der Sümpfe" (Mattioli) bereits um 1550 fest in den Mahlzeiten der breiten Bevölkerung.16
Auch die gehobene Küche der europäischen Herrschenden wurde von den italienischen Höfen geprägt. Zu den Innovationszentren zählte zum einen noch bis ins 16. Jahrhundert die Hofküche Neapels, in der von Köchen wie Ruperto de Nola zahlreiche katalanische, kastilische und maurische Einflüsse verarbeitet wurden – nachzulesen in frühen Kochbüchern wie Nolas Lybre de doctrina Pera ben Servir: de Tallar: y del Art de Coch ("Lehrbuch des guten Servierens, des Schneidens, und der Kunst des Kochens", 1520). Zum anderen avancierte das Florenz Caterina de Medicis (1519–1589) zum Leitstern für die europäischen Herrschaftsspeisen. Besonders die höfischen Tischsitten erfuhren von Florenz aus eine starke Verfeinerung. Michel de Montaigne (1533–1592) berichtet in seinem Journal du Voyage en Italie ("Tagebuch der Italienreise", 1580/1581): "Vor jene Personen, denen eine besondere Ehre erwiesen werden soll, stellen sie große silberne Platten. Darüber liegen eine vierfach gefaltete Serviette, Brot, Messer, Löffel und Gabel."17 So erreichte auch das Speisen mit der Gabel anstelle der Hand über Caterina de Medicis Hof Frankreich, dessen Königin Caterina seit 1547 aufgrund ihrer Ehe mit Heinrich II. (1519–1559) war. Im Lauf des 16. Jahrhunderts erfuhr das Tischbesteck seine weitere Differenzierung bis hin zum später von der französischen hohen Küche etablierten, bis heute gültigen Standard.
Die breite Bevölkerung Europas tangierte der von den italienischen und später französischen Höfen ausstrahlende Zivilisationsprozess zunächst wenig. Stattdessen avancierte im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit Osteuropa zu einem Innovationsraum der einfachen ländlichen Ernährung. Zu den wichtigsten Neuerungen zählt dabei der flächenmäßige Anbau von Buchweizen, der von Russland aus zunächst nach Ostmitteleuropa vordrang und über den Schwarzmeerhandel auch die Länder südlich der Alpen, Kärnten und Tirol erreichte. Über den Seehandel zwischen Venedig und Antwerpen verbreitete sich der Buchweizenanbau schließlich auch in den Niederlanden und Nordwestdeutschland.
Von hoher Bedeutung für die Versorgung Mitteleuropas waren zudem die großen Viehherden aus den heutigen Gebieten Ungarns, Polens und der Ukraine, die in die mitteleuropäischen Städte getrieben wurden. Der Fleischkonsum in Mitteleuropa fand so im 16. Jahrhundert einen bis ins 21. Jahrhundert nicht mehr erreichten Höhepunkt und wird für die ersten Jahrzehnte nach 1500 auf über 100 Kilogramm pro Kopf geschätzt, was in einer dreiköpfigen Familie einem täglichen Verzehr von fast 1 Kilogramm entspricht.18 Aussagen über die karge Alltagskost der ländlichen Bevölkerung sind angesichts dieser Zahlen zu relativieren. Auch wenn Johannes Boemus (1485–1535) 1520 über die Kost der Bauern schreibt: "Geringes Brot, Haferbrei oder gekochte Bohnen bildet die Speise der Bauern, Wasser oder Molken ihren Trank",19 zeigen die vorhandenen Zahlen, dass ein differenzierter Blick nötig ist. Freilich beschränkte sich der Fleischkonsum in den Mahlzeiten der ländlichen Bevölkerung vorrangig auf eingekochte Stücke, die man mit Brei, Suppen und grobem Brot verzehrte. Diese Zubereitungsweise ermöglichte im Gegensatz zum Braten einen geringen Fettverlust, zumal alle genießbaren Teile verwertet werden konnten. Fleisch als eigenes Gericht oder als Gebratenes nach "Herrenart" findet sich als Statusspeise nur zu hohen kirchlichen Festtagen oder anderen herausgehobenen Brauchterminen, etwa Hochzeiten oder Kirchweihfesten.
Auch die kulturelle Wertigkeit der einzelnen Fleischsorten erfordert einen detaillierten Zugang. So gründete sich der Fleischkonsum in den ländlichen Alltagsküchen Mitteleuropas fast ausschließlich auf Schweinefleisch. Hieronymus Bock (1498–1554) schrieb etwa in seiner 1555 erschienenen Teutschen Speißkammer (für gesunde und Kranke): "Vnsere Bawren essen viel lieber feißt Schweinenfleisch gesotten vnd gebraten, dann alle hüner. Sie sagen auch, wann ein Saw federn hett, vnnd könt über ein Zaun fliegen, übertreffe sie alles gevögel vnd federspil."20 Speiseordnungen, Rechnungen und andere Quellen aus dem bürgerlichen Bereich zeigen allerdings, dass in der städtischen Sphäre Schweinefleisch (und im Gegensatz zu heute) auch Rindfleisch lediglich an hinterer Stelle standen. Den höchsten Status genossen gebratenes Kalb- und Hammelfleisch.
Einen detaillierten Einblick in die unterschiedlichen Verzehrmengen, Fleischsorten und Zubereitungstechniken in Herrenküchen und einfacher Küche gibt eine außergewöhnlich detaillierte Speisenordnung des Reichsgrafen Joachim von Öttingen (1470–1520). Die Fronbauern erhielten laut Ordnung:
Des morgens ain suppen oder gemues [im Sinne von Mus = Brei]. ain millich den arbeittern. den andern ain suppen. – Des Mittags suppen vnd flaisch. ain kraut, ain pfeffer oder eingemacht flaisch. ain gemues oder mylich. IIII essen. – Des Nachts. Suppen vnd flaisch. ruben vnd flaisch oder eingemacht flaisch. ain gemues oder millich. III essen.21
Demgegenüber standen die gebratenen Speisen aus Wildbret, Geflügel und Innereien auf dem Tisch des Reichsgrafen:
An aim flaischtag auff vnsern tisch. Ain voressen. täglich geendert. Alß von voglen, wildpret. wurst. Kalbskopf. kröß. gelung. leber. kudlfleck etc. – Suppen des morgens offt eingeschniten vnd flaisch Henne oder Höner. so die wol vorhanden sind. darain. – kraut vnd ruben gesatten. So gut ochsen da sind ain stuck des flaisch. – Ain pfeffer. darjnn wildpret. zungen. Ejtter etc. – Ain gemues verendert all tag. – Ain eingebickts [Gepökeltes]. Sülts oder kaltfues [Kalbsfuß] etc. Ain prättes [Gebratenes] zwayer oder dreyerley. – So man sew metziget. ain stuck schweines prötlin. Ain reys. gersten. kern. lynsin etc. – Er mag auch geben für ein vor oder mittelessen. Ochsenhyrn gesotten oder gebachen. ein gebaiß [gebeizt] lendpratten von ochssen. Des Nachts sollen zway essen minder gegeben werden. alß ain pfeffer vnd ain gemues. ist VI essen.22
Zum Dritten muss auch in regionaler Hinsicht ein differenzierterer Blick entwickelt werden, denn Art und Menge des Fleischkonsums in Nordeuropa, Süddeutschland, Österreich und Osteuropa unterschieden sich gravierend. So zeichnen Spitalrechnungen und andere Quellen aus dem süddeutschen Raum ein wesentliches kargeres Bild der ländlichen Küche als in den Regionen zwischen den Niederlanden und den deutschen Mittelgebirgen. Während dort eingekochtes Fleisch, verzehrt mit Brot, einen festen Bestandteil der Alltagsküchen bildete, zeigten sich die süddeutschen Küchen zu Beginn des 16. Jahrhunderts wesentlich stärker vegetabilisch geprägt. Auch Brot spielte hier nur eine untergeordnete Rolle gegenüber Suppen, Brei und Mehlspeisen.
Fleischlose Kost gewann in ganz Mitteleuropa spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an Dominanz. Während der Fleischkonsum im Mittelmeerraum zur gleichen Zeit bei etwa 30 Kilogramm pro Kopf und Jahr verhältnismäßig konstant blieb, wurde der Mangel an Fleisch und tierischen Fetten in Mittel- und Nordeuropa zu einer Konstante in der Ernährung, die teils bis ins 20. Jahrhundert Bestand haben sollte. Als ausschlaggebend für die Entwicklung erwies sich ein rasanter Anstieg der Lebensmittelpreise im 16. Jahrhundert bei gleichbleibendem Lohnniveau und starkem Bevölkerungszuwachs.23 Zudem machte der Getreideanbau in Mitteleuropa der Viehzucht die Flächen streitig. Die besonders betroffenen Gebiete in Süddeutschland und im Alpenraum kompensierten den Fleischmangel in den alltäglichen Mahlzeiten mit Mehlspeisen24 – schwäbische Spätzle, bayerische Klöße oder österreichischer Palatschinken zeugen noch heute von diesem Wandel. Fleisch wurde von den breiten Bevölkerungsschichten fast nur noch an hohen Festtagen konsumiert, und der Verbrauch sank im deutschsprachigen Raum von ca. 100 Kilogramm pro Kopf um das Jahr 1500 dramatisch auf ca. 16 Kilogramm um 1800.25
Das sprichwörtliche "tägliche Brot" gewann in dieser Zeit seine alles überragende Bedeutung als europäische Alltagsspeise, mit der zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum bis zu 75 Prozent der Kalorienzufuhr der Gesamtbevölkerung abgedeckt wurden. Zahlreiche Bräuche (vgl. in diesem Kontext etwa die große Bedeutung der Gebildbrote), Sprichwörter und Redensarten zeugen noch immer von der überragenden Bedeutung des Brots für die historische Alltagskultur Mitteleuropas. Grundsätzlich kann die allgemeine Feststellung gelten, dass Brot im mitteleuropäischen Raum früher und in größeren Mengen verzehrt wurde als im vom Mais geprägten Westeuropa und im Mittelmeerraum. Dennoch ist der Brotkonsum im vorindustriellen Europa sowohl in geographischer als auch in sozialer Perspektive zu differenzieren. Während in den von Ackerbau geprägten Landstrichen Mitteldeutschlands bereits im frühen 16. Jahrhundert Brotspeisen überwogen,26 aß man in ärmeren ländlichen Regionen Europas, etwa in den deutschen Mittelgebirgen, noch länger die im Vergleich zum Brot schwerer verdaulichen, aber auch mit weniger Energieaufwand herzustellenden und als rückständig angesehenen Breispeisen. Eine ähnlich hohe Verbreitung ist in den weiten Ackerlandschaften Osteuropas, etwa in Ungarn, anzunehmen.27
Physikatsberichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts illustrieren z.B., dass die Bevölkerung im ländlichen, kaum industriell erschlossenen Ostbayern Brot nur an Festtagen zu sich nahm, während ansonsten Suppe, Kartoffeln und Getreidebrei dominierten. Zum anderen muss bezüglich der verzehrten Brotsorten sozial und räumlich unterschieden werden. Während im Mittelmeerraum fast nur Weizen verbacken wurde, galt das feine Weizenbrot im deutschen Sprachraum als Statusspeise der gehobenen Küche. Nördlich der Alpen wurde hauptsächlich Roggen verwendet, der regional unterschiedlich gewürzt und geschrotet als Grundlage des alltäglichen Brotes diente.28
Frühe Internationalisierung und Innovationen des 17. und 18. Jahrhunderts – Kartoffeln, Mais und Heißgetränke
Einige der wichtigsten Innovationsschübe erfuhr die europäische Esskultur durch den Import neuer Nahrungs- und Genussmittel aus der Neuen Welt. Die moderne Küche Europas ist in wesentlichen Strukturelementen Ergebnis des columbian exchange. Ausgehend von England und den Niederlanden erreichte die Kartoffel im Verlauf des 17. Jahrhunderts als erste der neuen Feldfrüchte die breite Ernährungskultur Mitteleuropas. Ihre Integration in die Mahlzeitensysteme Europas zählt zu den wichtigsten Innovationen der neuzeitlichen Küche und zu den maßgeblichen Schritten zur Überwindung der Hungerkrisen des type ancien, so dass
die Kartoffel zusammen mit Kaffee und Branntwein als prägende Innovation, ja sogar als kulturelle Leitnorm beim Entstehen des modernen Speisen- und Mahlzeitensystems im späten 18. Jahrhundert anzusehen ist. Dadurch ist nämlich die Breikost, die seit dem Mittelalter für breite Bevölkerungsschichten vorherrschend war, definitiv abgelöst worden.29
Gleichwohl etablierte sich die Kartoffel zunächst zögerlich. Erneut wird hier die Bedeutung von sozialen Statuskämpfen in der Kulturgeschichte der europäischen Ernährung deutlich; denn anders als die Kolonialwaren Kaffee, Tee und Schokolade galt die Kartoffel noch weit ins 18. Jahrhundert hinein von Frankreich bis Österreich-Ungarn als prestigearme Speise der unteren Bevölkerungsschichten. Tatsächlich etablierte sich die Kartoffel zunächst als Notnahrung in ländlichen Küchen, doch erwies sich das Beharren auf dem Anbau gewohnter Feldfrüchte bis zu den großen Hungersnöten der 1770er Jahre als gravierendes Hemmnis für die Übernahme der Kartoffel. Erst um 1770–1772, flankiert durch umfassende politische Maßnahmen, konnte sich die Kartoffel allgemein nördlich der Alpen etablieren.
Parallel dazu wurden in weiten Teilen Südeuropas, insbesondere in Spanien, Italien und auf dem Balkan, mit dem Anbau von Mais Hungerkrisen überwunden. Aufgrund ihrer klimatischen Anpassungsfähigkeit sowie der vergleichsweise ertragreichen und stabilen Ernten konnte sich diese Pflanze noch rascher als die Kartoffel ausbreiten. Schon in den 1520er Jahren, lediglich 30 Jahre nach Christoph Kolumbus' (1451–1506) erster Amerikafahrt, kultivierten andalusische Bauern erstmals Mais auf ihren Feldern. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts verbreitete sich der Anbau von Spanien und südlich der Alpen bis nach Kärnten30 und verdrängte dabei meist die Hirse von den Feldern. Über Venetien erreicht der Maisanbau im 17. Jahrhundert Südosteuropa.31 Gerade dort hat der Mais wesentlich zur Überwindung der Hungerkrisen und zum demographischen Aufschwung beigetragen.32
Während die Kartoffel als seltenes Beispiel eines "aufsteigenden Kulturgutes" vergleichsweise rasche Verbreitung fand, zeigt das Beispiel des Kaffees, wie träge an anderer Stelle Veränderungen adaptiert wurden. Kaffee erreichte zunächst wahrscheinlich von Jemen und Äthiopien aus den Mittelmeerraum und verbreitete sich über Venedig im 17. Jahrhundert zunächst nach Norden sowie über den Seeweg von England und den Niederlanden aus nach Mitteleuropa. Die ersten Berichte zum Konsum der neuen exotischen Bohne aus dem Nahen Osten stammen aus dem Umfeld der Höfe. Erneut fungierte der Adel als Innovationsmilieu, wenngleich zögerlich, denn der bittere Kaffeegeschmack erwies sich zunächst als gewöhnungsbedürftig für die europäischen Gaumen. Noch 1710 verglich Liselotte von der Pfalz, seit 1671 Elisabeth Charlotte von Orléans (1652–1722), die das Heißgetränk wohl am Hof von Versailles kennengelernt hatte, Kaffee mit "Ruß und Feigbohnen".
Erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts überwanden die bürgerlich-städtischen Kaffeehäuser als Katalysatoren den Geschmackskonservatismus der breiten europäischen Bevölkerung. Das adlige Modegetränk und Luxusgut Kaffee weckte nun auch in breiteren, bürgerlichen Kreisen Begehrlichkeiten. Die weitere Ausbreitung des Kaffeekonsums im 18. Jahrhundert lässt sich mit der These des "gesunkenen Kulturgutes"33 beschreiben: Das vormalige Luxusgut Kaffee "sank" vom Adel über das städtische Bürgertum zu den breiten, ländlichen Bevölkerungsschichten ab und entwickelte sich seit Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich zu einem allgemeinen Volksgetränk, das sich – meist stark verdünnt oder in Form von Surrogaten –auch ärmere Gesellschaftsteile leisten konnten.34 Den erforderlichen niedrigeren Preis ermöglichte der zunehmende Kaffeeanbau in den englischen und französischen Kolonien.35
Mit der Verbürgerlichung des Kaffeetrinkens verlor das ehemalige Statusprodukt an den Adelshöfen seine Bedeutung wieder, so dass im Verlauf des 17. Jahrhunderts der aus China importierte Schwarze und Grüne Tee an seine Stelle rückte. Am Hof Karls II. (ca. 1630–1685) in London verdrängte etwa der Tee in den 1660er Jahren den Kaffee aus der höfischen Trinkkultur. Bereits um 1580 hatten die ersten Lieferungen über die portugiesische Handelsniederlassung in Macao Europa erreicht. 1610 stieg auch die niederländische Handelsflotte über ihre Stützpunkte in Java und Sumatra in das Teegeschäft ein, bevor im frühen 18. Jahrhundert die britische Ostindien-Gesellschaft zum dominanten Player des weltweiten Teehandels emporwuchs.36 So stieg das Handelsvolumen von Tee, den die Ostindien-Gesellschaft aus Ostasien nach London verschiffte, von 50 Tonnen im Jahr 1700 auf 15.000 Tonnen um das Jahr 1800 an.37 Zwischen 1799 und 1833 betrug die jährliche Einfuhrmenge in ganz Europa etwa 73.000 Tonnen jährlich.38
Während Kontinentaleuropa mit Ausnahme der Niederlande und der benachbarten Gebiete in Friesland den Teegenuss nur zögerlich – wenn überhaupt – übernahm, erfolgte in England bereits im 18. Jahrhundert eine rasche Diffusion quer durch alle Bevölkerungsteile. Die Tatsache, dass Tee im Vergleich zu Kaffee und Schokolade, den beiden anderen Heißgetränken des Kolonialhandels, wesentlich schneller auch die breiteren Bevölkerungsteile erreichte, hat mehrere Ursachen. Vor allem gestaltete sich die heimische Zubereitung der trinkfertig gelieferten Blätter wesentlich simpler als etwa beim Kakao, zumal die benötigten Mengen niedriger ausfielen und nach Bedarf mit einheimischen Kräutern gestreckt werden konnten.39 Die Tasse Tee ließ sich damit einfacher in bestehende Mahlzeitensysteme integrieren, was vor allem im Zeitalter der Fabrikarbeit und der knapp bemessenen Pausen wichtig wurde.
Wie der Humpen Kaffee in Mittel- und Nordeuropa das Morgen- und Abendbier verdrängte, übernahm in England der Tee die Rolle des wichtigsten Beigetränks bei Mahlzeiten, wurde aber auch zum Sozialgetränk der bürgerlichen Milieus. Der rituelle 5-Uhr-Tee mit süßem Gebäck, Marmelade und Scones steht noch heute für englische Teekultur. Und wie in Mitteleuropa aufklärerische Schriftsteller den Kaffeekonsum der Bauern anprangerten, stieß die neue Mode Tee auch in England auf Kritik, wie sie etwa der schottische Schriftsteller William Mackintosh (1662–1743) äußerte:
Wenn ich morgens ins Haus eines Freundes kam, wurde ich gefragt, ob ich schon mein Morgenbier gehabt hätte. Jetzt werde ich gefragt, ob ich schon Tee getrunken hätte. Und anstelle des großen Bechers mit starkem Ale und Toast, und danach ein Schluck von gutem, gesundem schottischen Schnaps, wird nun der Teekessel aufs Feuer gestellt, Teetisch und Silber und Porzellangeschirr hereingebracht, und Marmelade und Sahne!40
Gleichwohl überwogen die positiven Urteile über die belebende, gesundheitsfördernde Wirkung des Getränks, und bereits im 18. Jahrhundert wurde Tee aus traditionellen europäischen Heilkräutern als Surrogat für die breite Bevölkerung hergestellt.41
Ebenfalls unter medizinischen Vorzeichen begann der Kakao in Form von Trinkschokolade seine Karriere in Europa. Kakao ist dabei aufgrund seines Fettanteils und seines Kalorienreichtums ein Nahrungsmittel, galt aufgrund des Koffeinanteils in seinen Bohnen aber auch als Genussmittel mit anregender Wirkung, wenn die Masse der gerösteten, geschälten und gemahlenen Bohnen als Heißgetränk mit Zucker, Vanille und Zimt konsumiert wurde.42
Europas erster Kontakt mit der Kakaobohne erfolgte im Rahmen der spanischen Conquista Mittelamerikas im 16. Jahrhundert. Aus den dortigen Anbaugebieten gelangte der Kakao in Form von Trinkschokolade im Lauf des 17. Jahrhunderts an die europäischen Adelshöfe. Die rasch steigende Nachfrage nach dem Modegetränk befriedigte Spanien durch Plantagenwirtschaft sowie eine Expansion des Anbaugebietes in die Karibik und nach Venezuela,43 wofür die Arbeitskraft westafrikanischer Sklaven ausgebeutet wurde. Die Ausfuhr spanischen Rohkakaos aus Übersee stieg so von etwa 28 Tonnen pro Jahr um 1650 auf ca. 5.000 Tonnen gegen Ende des 18. Jahrhunderts an.44 England, Frankreich und die Niederländische Republik durchbrachen allerdings im 17. Jahrhundert mit der Eroberung der Karibik das spanische Kakaomonopol, und auch Portugal hatte zu dieser Zeit mit dem Anbau von Kakao in seiner Kolonie Brasilien begonnen.45
Wie Tee und Kaffee etablierte sich Kakao in Europa im 17. Jahrhundert zunächst als Statusgetränk der adligen Kreise, bevor auch öffentliche Kaffee- und Schokoladenhäuser, zunächst in Spanien und Italien, das exotische Heißgetränk als sozialisierendes Genussmittel ausschenkten.46 Begünstigt wurde die Diffusion durch die katholische Kirche, die Kakao als Fastengetränk gestattete, sowie durch die Schulmedizin, deren Vertreter seine gesundheitsfördernde Wirkung, etwa als Abführmittel oder Kräftigung im Kindbett, propagierten.47 Die breite Bevölkerung erreichte der Kakao gleichwohl erst im Verlauf der Industrialisierung gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als mit Coenraad Johannes van Houtens (1801–1887) Erfindung des billigen und haltbaren Kakaopulvers sowohl die Zubereitungsmengen und der Preis als auch der Zubereitungs- und Zeitaufwand deutlich gesenkt werden konnten. Ausgehend von der Schweiz wurde Kakao als gesüßte Essschokolade zum vorherrschenden Schokoladenprodukt in Europa.48
Neben Tee, Kakao und Kaffee gewann auch der Zucker immense Bedeutung für die Küchen und die Wirtschaft Europas, denn der Genuss der bitteren Getränke wurde erst durch die Beigabe von Zucker und die angenehme Süße attraktiv für den Massengeschmack. Auch zahlreiche neue Süßigkeiten und Gebäcke als Begleiter zum Tee und Kaffee konnten erst durch den europäischen Zuckerhandel der Neuzeit entstehen.49 Wohl schon im 11. Jahrhundert kamen christliche Kreuzfahrer im Vorderen Orient mit dem Anbau von Zuckerrohr in Berührung. Im Hochmittelalter erreichte der Zucker Europa vor allem über Venedig und zierte zunächst als Luxusprodukt die höfischen Tafeln, etwa in Form kunstvoller Zuckerfiguren. In der adligen Küche verdrängte Rohrzucker seit der frühen Neuzeit Honig als Hauptsüßungsmittel. Als "Konfekt" diente Zucker Medizinern und Apothekern zur Süßung bitterer Arzneien, zudem galt er aufgrund seines Energiegehalts als Stärkungsmittel. Den herausragenden Status von Zucker als Luxusprodukt unterstreicht auch sein enorm hoher Preis: Noch an der Schwelle zur Neuzeit entsprach 1 Kilogramm Zucker preislich 100 Kilogramm Weizen – lediglich die Gewürze des Asienhandels verfügten über einen vergleichbaren Status.50
Erst mit der Entdeckung Amerikas begannen die Zuckerpreise zu sinken. Portugal und Spanien hatten im 15. Jahrhundert mit dem Anbau von Zuckerrohr auf den Kanaren sowie ihren Karibikkolonien begonnen. Die Plantagenwirtschaft des 16. Jahrhunderts mit Millionen verschleppter afrikanischer Sklaven zählt dabei zu den schlimmsten Kapiteln der europäischen Ernährungsgeschichte. Sowohl England als auch die Niederlande und Frankreich beteiligten sich am Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika und steigerten durch gnadenlose Ausbeutung das Exportvolumen von Zucker aus Übersee binnen eines Jahrhunderts auf ca. 140.000 Tonnen im Jahr 1750. Die gewaltigen Einfuhrmengen ermöglichten im 18. Jahrhundert nun auch eine Integration des Zuckers in die bürgerliche Esskultur. Um 1800 war der deutsche Jahresprokopfkonsum auf 1,1 Kilogramm gestiegen – eine Verzwanzigfachung gegenüber dem 16. Jahrhundert. Doch erst die Entdeckung und der massenhafte Anbau von Rübenzucker führte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit den Agrarreformen der Zeit, der Industrialisierung sowie den europäischen Zollreformen zu seinem endgültigen Durchbruch als Süßungsmittel.51 In der Folge bildete Zucker das maßgebliche Grundprodukt für den Erfolg der modernen Schokoladen- und Süßwarenindustrie.52
Der Kolonialhandel mit Zucker, Kaffee, Tee und Kakao führte zu gewaltigen Veränderungen in der gesamten Ernährungskultur des vorindustriellen Europa. Eng verbunden mit der Integration der neuen Genuss- und Nahrungsmittel aus den Kolonien ist erstens die Entstehung der europäischen Kaffeehauskultur. In der damaligen Modemetropole Paris öffnete das erste Kaffeehaus nach orientalischem Vorbild seine Pforten im Jahre 1643. Venedig, London und Hamburg folgten 1645, 1652 und 1671,53 und Wien avancierte nach 1685 mit der Eröffnung seines ersten Kaffeehauses zum Herzen der europäischen Kaffeekultur. Gerade im Zeitalter der Aufklärung verbreitete sich das Kaffeehaus als öffentlicher Ort der Diskussion und des sozialen Konsums rasant und löste mehr und mehr auch in kleineren Städten das spätmittelalterliche Wirtshaus als Ort des repräsentativen Beisammenseins in den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen ab. Über die Eigenschaft des Kaffeehauses als Treffpunkt unterschiedlicher sozialer Schichten nimmt von hier aus auch die Verbreitung des Kaffeekonsums in den ländlichen und proletarischen Milieus ihren Anfang.54
Eine zweite kulturelle und wirtschaftliche Innovation, die entscheidend von der Integration der kolonialen Genussmittel ausging, betrifft die Tischkultur. So erreicht mit den frühen Statusgetränken Tee, Kakao und Kaffee auch chinesisches Tischgeschirr aus Porzellan Europa. Zunächst übernahmen erneut die Höfe das neue edle Material, das aufgrund seiner Geschmacksneutralität Geschirr aus Zinn und Silber ebenso überlegen war wie den europäischen Erdgut- und Glasgefäßen aufgrund seiner relativen Robustheit gegenüber Sprüngen. Die Gründung der europäischen Porzellanindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Zentren in Deutschland und England sorgte für die Verbreitung im gehobenen städtischen Bürgertum.55
Das 19. Jahrhundert – Urbanisierung und Lebensmittelindustrie
Bis zum Beginn des Industriezeitalters hatten die europäischen Gesellschaften allen Unterschieden zum Trotz eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten. So lebte die absolute Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Land und war direkt oder indirekt in der Landwirtschaft tätig. Ferner waren die Menschen und damit auch die Ökonomie und die Kultur unmittelbar von äußeren Einflüssen wie Bodenbeschaffenheit und Klima abhängig. Viele Faktoren änderten sich in den Jahren um 1800 grundlegend; das galt in besonderer Weise für die Ernährungsgewohnheiten.56
Die Neuerungen hatten sich lange zuvor angekündigt, und sie werden auch bei der Analyse der Nahrungsgewohnheiten erkennbar, denn die Kartoffel und der Branntwein, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer weiter verbreitet hatten, waren gewissermaßen die Vorboten des Industriezeitalters. Zu diesen Vorboten gehörten auch ein kräftiges Wachstum der Wirtschaft und der Bevölkerungszahl.57 Wenngleich die Industrialisierungsprozesse nicht parallel ganz Europa erfassten – besonders im mediterranen Südeuropa sollten noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts teils vorindustriell geprägte Strukturen bestehen bleiben –, spiegeln sich die politischen und sozioökonomischen Umstände des 19. Jahrhunderts gerade in den Ernährungsgewohnheiten besonders deutlich wider.
Unmittelbaren Niederschlag fanden die technischen Innovationen der frühen Industrialisierung in einem rasanten demographischen Wandel. Der Zuzug von Arbeitskräften für die neu entstehenden Fabriken führte zu einer Bevölkerungsexplosion in den Städten. Dies veränderte in zweierlei Hinsicht die alltäglichen Ernährungsgewohnheiten fundamental. Zum einen ließ die städtebauliche Verdichtung der industriellen Ballungszentren keine Räume für Selbstversorgung über Gärten oder gar größere Anbauflächen. An die Stelle der agrarischen Subsistenzwirtschaft des ländlichen Europa trat nun das moderne Geld-für-Brot-System, das besonders in Zeiten schlechter Konjunktur, Krankheit oder Arbeitslosigkeit zu Krisen in der Ernährung der neuen Klasse des städtischen Proletariats führte. Zum anderen veränderten sich die Mahlzeitensysteme auch unter der neuen zeitlichen Taktung des Arbeitslebens. Maschinen und Stechuhr ließen gerade in den dynamischen frühindustriellen Jahren kaum Zeit für familiäre Mahlzeiten. Der Individualimbiss zur Befriedigung des Hungers verdrängte das gemeinsame Mahl.
Trotz gravierender sozialer Missstände steigerte die Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Lebensstandard großer Bevölkerungsteile. Besonders der Fleischkonsum kann dabei als Indikator für die fortschreitende Überwindung von Hungersnöten und instabilen Versorgungslagen dienen. 1845 beschrieb Friedrich Engels (1820–1895) die Ernährungssituation der arbeitenden Klasse Manchesters und betonte dabei die starke Lohnabhängigkeit der verfügbaren Speisen:
Die gewöhnliche Nahrung der einzelnen Arbeiter selbst ist natürlich nach dem Arbeitslohn verschieden. Die besserbezahlten Arbeiter, besonders solche Fabrikarbeiter, bei denen jedes Familienmitglied im Stande ist, etwas zu verdienen, haben, solange es dauert, gute Nahrung, täglich Fleisch und abends Speck und Käse. Wo weniger verdient wird, findet man nur sonntags oder zwei- bis dreimal wöchentlich Fleisch, dafür mehr Kartoffeln und Brot; gehen wir allmählich tiefer, so finden wir die animalische Nahrung auf ein wenig unter die Kartoffeln geschnittenen Speck reduziert – noch tiefer verschwindet auch dieses, es bleibt nur Brot, Hafermehlbrei und Kartoffeln, bis auf der tiefsten Stufe, bei den Irländern, nur Kartoffeln die Nahrung bilden. Dazu wird allgemein ein dünner Tee, vielleicht mit etwas Zucker, Milch oder Branntwein vermischt getrunken.58
Obwohl sich die frühe Industrialisierung auf einige wenige europäische Regionen konzentrierte, ergriffen die Innovationsprozesse rasch auch die kleinstädtische und ländliche Sphäre. Neben den demographischen Folgen schlugen sich die Transformationsprozesse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in einer Innovation des Warenangebots und der Übernahme neuer Nahrungsmittel nieder. Drei wesentliche Entwicklungen sind zu skizzieren. Zunächst brachte die Ausweitung des Kartoffelanbaus einen weitreichenden Wandel der Alltagskost mit sich und verdrängte in vielen Gebieten Europas das frühneuzeitliche System der Brot- und Breikost. Die Geschwindigkeit der Innovation hing dabei auch davon ab, wie gut sich das neue Nahrungsmittel in die bestehenden Systeme integrieren ließ. Besonders in der von Mehlspeisen dominierten Küche Süddeutschlands und Österreichs fand sich lange kein Platz für Kartoffeln. Im Norden ersetzte die Kartoffel hingegen recht schnell das Brot als Beilage in den Hauptspeisen. In den deutschen Mittelgebirgen eroberte sich die Kartoffel einen festen Platz in Form von Suppen und den bereits vom Getreide her bekannten Breispeisen.59 Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verlor die Kartoffel schließlich auch den Ruch der Armenspeise, so dass sich zunehmend auch die bürgerliche Küche Europas von der Rezeptvielfalt der Kartoffel überzeugt zeigte.
Zweitens expandierte das Brennereigewerbe, in dem die Kartoffel und andere Substanzen in zunehmendem Maße zu Branntwein verarbeitet wurden. So verdoppelte sich etwa in Preußen die Branntweinproduktion zwischen 1820 und 1840. Die gesellschaftliche Kritik am Schnapskonsum[] folgte auf dem Fuße, doch die verfügbaren Quellen zeigen, dass das Schlagwort der "Branntweinpest" die Realität des Konsums drastisch überzeichnet.60 Drittens führte der großflächige Anbau von Zuckerrüben zu einem Preissturz des vormals teuren Importgutes Zucker sowie seiner weitreichenden Popularisierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die europäische Perspektive verdeutlicht dennoch, dass das 19. Jahrhundert trotz der großen Innovationsschübe in Folge der Industrialisierung im Bereich der Ernährung eine teils dramatische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erlebte. Während die neu entstehenden Fabriken das Leben mancherorts grundlegend veränderten, waren andernorts das Mittelalter und die Abhängigkeit von lokal verfügbarer, klimatisch wie geographisch beeinflusster Versorgung nach wie vor gegenwärtig. So spielte in Skandinavien im 19. Jahrhundert, ebenso wie in den osteuropäischen und russischen Küchensystemen, die Sammeltätigkeit weiter eine große Rolle, und Pilze und Beeren deckten einen bedeutenden Teil der Nahrung ab. In den wasserreichen Gegenden Nordosteuropas sowie Skandinaviens half zudem eine ganzjährige fischreiche Kost, den ansonsten herrschenden dramatischen Proteinmangel zumindest zum Teil auszugleichen.
Auch im Mittelmeerraum war vom Industriezeitalter noch wenig zu spüren. Agrarische Strukturen blieben weitgehend erhalten, so dass ältere Ernährungstraditionen fortgeführt wurden. Sie wurden allerdings von anderer Seite bedroht, denn das Bevölkerungswachstum führte zu einer Verengung des Nahrungsspektrums. Oft wurden die Mahlzeiten sogar noch getreidelastiger. Wichtigste Neuerung war die endgültige Etablierung des Mais in den Küchen der breiten Bevölkerung sowie die Popularisierung der in Südeuropa seit der Antike bekannten Nudeln in den Speiseplänen Süditaliens. Frische sowie trocken konservierte Nudeln aus Mehl, Wasser und Eiern für den Hausgebrauch besaßen hier eine ähnliche Bedeutung, wie sie die Kartoffel nördlich der Alpen innehatte. Als Hauptgericht verspeist prägten sie fortan das Stereotyp der Süditaliener als "Maccheroniesser".61
Am anderen Ende Europas führte im 19. Jahrhundert eine Kombination aus Bevölkerungsexplosion, ungünstigen politischen Verhältnissen und Agrarstrukturen sowie Missernten zur letzten großen europäischen Hungerkatastrophe. Zwischen 1845 und 1849 forderte "The Great Famine" etwa 800.000 Menschenleben. In den irischen Hungerjahren der 1840er Jahre zeichneten sich bereits die negativen Folgen moderner Monokulturen ab: Bereits im späten 18. Jahrhundert hatten die besseren Erträge, die die Kartoffel lieferte, hier zu einem Massenanbau geführt, der das bestehende Nahrungssystem regelrecht zerstörte. Die großen Fäulen führten zu weitreichenden Ernteausfällen, die daher durch anderweitige Feldfrüchte nicht kompensiert werden konnten.62
Die zunehmende Bedeutung der Zuckerrübe während des frühen 19. Jahrhunderts, genauer die Herstellung von industriell raffiniertem Zucker, verweist auf eine weitere Entwicklung, die die Ernährung Europas fortan grundlegend verändern sollte: Wissenschaft und Technik wurden bestimmende Faktoren im Bereich der Ernährungsproduktion und -distribution. Die bedeutendsten Innovationen nach 1850 waren erstens die technische Behandlung von Nahrungsmitteln, vor allem im Bereich der Konservierungstechniken, zweitens die industriell standardisierte Massenfertigung und Normierung63 von Lebensmitteln durch neu entwickelte Maschinen sowie drittens die Herstellung völlig neuer Esswaren, etwa Margarine, Backpulver, Kunsthonig oder Milchpulver.
1840 veröffentlichte Justus von Liebig (1803–1873) sein Standardwerk Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie.64 Liebig und seine Kollegen Gerardus Johannes Mulder (1802–1880) und Jacob Molescott (1822–1893) revolutionierten die Ernährungswissenschaften, indem sie die Nahrungsstoffe in Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate, Wasser und Mineralsalze unterteilten und so die Grundsteine der modernen Ernährungsphysiologie legten. Von diesen theoretischen Neuerungen ausgehend entwickelte Liebig das Fundament für neue Konservierungsmethoden.
Bereits 1810 hatte der französische Chemiker Nicolas Appert (1748–1841) mit seinem Buch Art de conserver, pendant plusieurs années, toutes les substances animales et végétales (Die Kunst alle thierischen und vegetabilischen Nahrungsmittel mehrere Jahre vollkommen geniessbar zu erhalten, 1810)65 die weitreichenden Konservierungsmöglichkeiten ("Appertisieren") von Nahrung aufgezeigt. Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich das gesamte Potential der neuen Konservierungstechniken und des industriellen Einkochens nach Louis Pasteur (1822–1895) ("Pasteurisieren") ab.66 Die Dynamik der industriellen Konserven-, Teigwaren- und Marmeladenproduktion, die Verwendung des Liebig'schen Fleischextrakts67 zur Herstellung von Suppen und Soßen sowie schließlich die Erfindung der Kältemaschinen durch Carl von Linde (1842–1934) im Jahr 187468 ermöglichten jetzt die Ernährung breiter Bevölkerungsschichten und beschleunigten so die Industrialisierung Europas zusätzlich.
In Deutschland avancierte Braunschweig im Zuge dieser Entwicklung bereits seit 1850 zur "Stadt der Konserven" und zum Zentrum der industriellen Herstellung von Konservengemüse.69 Die Erbswurst, eine Entwicklung des Berliner Kochs Johann Heinrich Grüneberg (ca. 1819–1872), die zunächst als billige, transportable und nahrhafte Frontspeise während des Französisch-Preußischen Krieges 1870 zum Einsatz kam, fand deutschlandweit Verbreitung. Laufende Reglementierungen des Dosenmaterials sowie seiner Befüllung und weitere technische Neuerungen, etwa die Erfindung der Verschlussmaschine im Jahre 1889, trieben die Entwicklung weiter voran, senkten die Preise und machten konservierte Nahrung zu einem festen Bestandteil der Ernährung einkommensschwacher Schichten. Im Gegenzug war ein Rückgang des Selbereinmachens zu beobachten.70
Flankiert von fundamentalen Fortschritten im Bereich der Agrarwirtschaft und -politik (etwa dem Einsatz von Kunstdünger und der Entwicklung landwirtschaftlicher Maschinen) sowie wirtschaftspolitischen Erleichterungen des europäischen Warenverkehrs, etwa der Gründung des Deutschen Zollvereins als Beginn einer fortschreitenden Wirtschaftsunion im Jahre 1834, konnte so erstmals seit dem Mittelalter die Grundversorgung der breiten Bevölkerung Europas weitgehend gesichert werden. Während um 1800 noch vier Bauern nötig waren, um einen nichtlandwirtschaftlichen Verbraucher zu ernähren, versorgte 100 Jahre später ein Bauer bereits vier Verbraucher.71 Die letzte große, nicht kriegsbedingte Hungersnot traf Europa 1846/1847. Die demographische Entwicklung Europas im 19. Jahrhundert spiegelt die Verbesserung der Ernährungssituation beeindruckend wider: So wuchs die Bevölkerungszahl zwischen 1850 und 1900 um ein Drittel von 266 Millionen auf 401 Millionen Menschen.72
Zur grundlegenden Verbesserung der Ernährungslage in Europa trug dabei im 19. Jahrhundert auch der Ausbau der Eisenbahnnetze und der Infrastruktur des Kleinhandels bei, der eine beschleunigte, nahezu flächendeckende Grundversorgung weiter begünstigte. In den größeren Städten entstand komplementär die moderne Kaufhauslandschaft.73 Die interkontinentale Dampfschifffahrt ermöglichte zudem eine Pluralisierung der Ernährung auch in den ländlichen Gebieten Europas. Kolonialwaren, Südfrüchte und Importgewürze wurden nun auch Teil der Küchensysteme breiterer Bevölkerungsteile.
Abschluss: 1900–1950
Die enorme ökonomische und soziale Dynamik, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, fand im Bereich der Esskultur kaum eine Entsprechung, denn die Weltkriege verunmöglichten größere strukturelle Veränderungen – sieht man einmal von der zerstörerischen Kraft ab. Die allerdings war gewaltig. Zunächst führten die Kriege rasch zu einer dramatischen Verknappung des Lebensmittelangebots, so dass sich Notspeisen wie gestrecktes Brot oder Rübensuppe verbreiteten.74 Im europäischen Südosten kam es bereits in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts zu einer Umstrukturierung der Ernährungskultur, denn das Ende des maroden Osmanischen Reichs führte zum Verlust der türkischen Dominanz über den Balkan. Mit den türkischen Beamten und Kaufleuten verließen auch deren Nahrungsgewohnheiten Südosteuropa. Im ungarischen, im südslawischen und im bulgarischen Raum verstärkten sich die nationalen Tendenzen in der Alltagsernährung, da sie als konstitutive Faktoren bei der Genese der neuen nationalen Identitäten fungierten. Zudem brachte das Ende der osmanischen Herrschaft auch die weitgehende Abkehr von den muslimischen Speisevorschriften.
Die Gründung der Sowjetunion setzte wiederum eine Kette von Prozessen in Gang, in deren Folge die Kollektivierung der Landwirtschaft zwischen Elbe und Ural regionale und auch ethnische Ernährungsspezifika stark zurückdrängte. Gleichzeitig führte die tiefgreifende Umgestaltung der unter sowjetischem Einfluss stehenden Gesellschaften zum Bedeutungsverlust bürgerlicher Praktiken und zur Ausweitung einer als proletarisch geglaubten Kultur mit einem starken Fokus auf Gemeinschaftsverpflegung. Eine Sonderrolle spielt die als Holodomor bekannte Hungerkatastrophe, die sich aufgrund einer komplexen wirtschaftlichen und politischen Ausgangslage in den Jahren 1932 und 1933 vor allem im Gebiet der heutigen Ukraine ereignete und vom sowjetischen Regime nicht verhindert wurde, so dass sie wohl über 3,5 Millionen Menschen das Leben kostete. Infolge des Zweiten Weltkriegs kam es im Osten des deutschsprachigen Raums, aber auch im Bereich der polnischen Kultur zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen, die zum weitgehenden Niedergang etwa der ostpreußischen oder der schlesischen und auch der ostgalizischen Küche führte. Am dramatischsten war das durch den Holocaust verursachte weitgehende Ende der jüdischen Kochtradition in Europa.75
Nicht nur im sowjetischen Einflussbereich, sondern auch im Nationalsozialismus spielte die gemeinschaftliche Verpflegung eine zentrale Rolle. Prominentestes Beispiel ist der parteilich verordnete "Eintopfsonntag", der die Eintopfspeise ideologisch aufwertete und den gemeinschaftlichen Verzehr im öffentlichen Raum als sichtbares Bekenntnis zur Volksgemeinschaft einführte.
Eine gewisse Statik ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bereich der kommerziellen Gastlichkeit zu beobachten. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten bürgerliche Restaurants die alten Gaststätten vor allem im urbanen Raum zurückgedrängt und waren zum integrativen Bestandteil bürgerlichen Stadtlebens geworden. Nun erlebten sie ihre Blütezeit, die sich erst in den 1970er Jahren ihrem Ende zuneigte. War das Angebot an Speisen in der Gründungsphase des späten 19. Jahrhunderts noch sehr vielfältig, boten die Restaurants in den 1920er Jahren meist nur noch Menus mit vier bis fünf Gängen an. Die Restaurants waren Kristallisationspunkte bürgerlichen Lebens, sowohl an Werktagen als auch am Wochenende, wobei der Schwerpunkt auf dem Mittagessen lag, das meist aus Vorsuppe, Hauptspeise (bestehend aus Fleisch, Sättigungsbeilagen – meist Kartoffeln – und Gemüse) und einer Süßspeise zum Dessert bestand.76
Zu enormen geopolitischen Verschiebungen kam es 1949 durch die Unabhängigkeit der einstigen Kolonien Britisch-Indien und Niederländisch-Indien (Indonesien), die die europäische Esskultur nachhaltig prägten. So hatten sich schon seit dem 18. Jahrhundert Currygerichte und Chutneys in der englischen Küche etabliert, die dann seit 1945 vermehrt in Imbiss-Restaurants der englischen Städte angeboten und bei größeren Bevölkerungsteilen bekannt und populär wurden.77 Ähnlich kennt der niederländische Imbiss neben Frikandel und Pommes Frites auch Erdnusssoße und Satay-Spieße aus Hühnchenfleisch.
Der "Pluralisierung des Geschmacks" wurde Ende der 1940er Jahre auch in (West-)Deutschland der Weg geebnet. Der Kölner Imbiss Puszta-Hütte etwa verkauft seit 1948 ungarisches Gulasch, das Rezept soll der Gründer aus seiner Kriegsgefangenschaft in Ungarn mitgebracht haben.78 Besonderen Einfluss auf die Esskultur hatten auch die nun in Europa stationierten ausländischen Soldaten. Im Falle Deutschlands lernten die Menschen – und im Besonderen die Kinder – durch die amerikanischen GIs Bubble-Gum, Coca-Cola und Hershey's-Schokolade kennen und lieben. Die breite Akzeptanz dieser Produkte deutete um 1950 nur vorsichtig an, was in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts folgen sollte: europäische Speisesysteme, die in weiten Teilen von der amerikanischen Imbisskultur geprägt wurden.79
In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die europäische Ernährungskultur noch schichtspezifisch organisiert, bürgerlich dominiert, regional ausgeprägt und in der Konsumpraxis weitgehend saisonal. Normierung und Standardisierung blickten immerhin auf erste Anfänge zurück: Maggi Würze und Knorr Erbswurst waren etabliert, Margarine wurde schon mit industrialisierter, gleichbleibender Qualität beworben.80 Verpackte Nahrung wurde zunehmend ästhetisiert und daher kaum mehr sensorisch-haptisch wahrnehmbar.81 Freilich ahnte kaum jemand, welche Dynamik sich bald entwickeln sollte: Mit den 1950er Jahren lernte man die seit den 1930er Jahren in den USA verbreitete Tiefkühlkost kennen, 1958 kam mit den Maggi Ravioli erstmals ein Fertigprodukt auf den Markt, das auf außerordentlich breite Akzeptanz stieß, seit 1952 breiteten sich Pizzerien82 aus, später spanische, griechische und jugoslawische Restaurants,83 die Fast-Food-Ketten folgten 1972, und bald wurde auch das System der dreigliedrigen chronologischen Mahlzeitenordnungen gesprengt. So kann die europäische Esskultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückblickend als vergleichsweise ruhender Pol in einer Welt rasanten Wandels gelten.84