Einleitung
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung zur "Nationalitätenpolitik" im Russischen Reich und in der UdSSR stark zugenommen. Diese Explosion des Interesses für "ethnische Minderheiten" oder "Minderheitsnationalitäten" unter der Herrschaft von St. Petersburg oder Moskau hat eine erhebliche Revision der Begriffe Russifizierung und Sowjetisierung mit sich gebracht. Es ist jedoch anzumerken, dass diese Begriffe – auch wenn sie durchaus gemeinsame Aspekte aufweisen – weit davon entfernt sind, identisch zu sein, trotz der verbreiteten Tendenz insbesondere in ehemaligen nicht-russischen Sowjetrepubliken und osteuropäischen Satellitenstaaten, die Nationalitätenpolitik nach 1917 als direkte Fortsetzung der zaristischen Russifizierung anzusehen, die weiter unten definiert wird. Im Folgenden wird dargelegt, dass, obwohl Sowjetisierung nicht im engeren Sinne bedeutete, die Bevölkerung zu zwingen, die russische Sprache und Kultur anzunehmen, der Prozess der Sowjetisierung zwischen 1917 und 1991 in der Praxis viel erfolgreicher bei der Verbreitung der russischen Sprache und russischer kultureller Normen war als die zaristische Russifizierung. Anzumerken ist auch, dass sowohl vor als auch nach 1917 Russifizierung und Sowjetisierung oftmals als eng verbunden mit Modernisierung angesehen wurden, insbesondere mit Blick auf die asiatischen Teile des Reiches. Zu den Bereichen, die am stärksten von Russifizierung betroffen waren, gehörten die Politik, die Verwaltung und die Bildung, obwohl das Russische auch im wirtschaftlichen Bereich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer dominierender wurde. Die Sowjetisierung stellte einen Versuch da, alle Aspekte des Lebens zu verändern, von der Religion und der Kultur über gesellschaftliche und Geschlechterrollen bis hin zur Alltagssprache, gesetzlichen Normen und zur Landwirtschaft.
Begriffe und Definitionen
Bereits vor zwei Generationen identifizierte Edward C. Thaden (1922–2008) drei verschiedene Formen von Russifizierung, zwischen denen die Forschung bis heute oftmals nicht zu unterscheiden in der Lage war: die ungeplante, die administrative und die kulturelle Russifizierung. Die ungeplante Russifizierung bezieht sich auf die Übernahme der russischen Sprache und Kultur von Seiten der Nicht-Russen durch einen Prozess der mehr oder weniger freiwilligen kulturellen Anpassung an die geltenden Normen. Eine derartige Anpassung wurde in der Tat von der Regierung des Russischen Reiches begrüßt, insbesondere im Fall sogenannter "rückständiger", nicht-europäischer Volksgruppen. Die administrative Russifizierung bezieht sich auf die zunehmende Zentralisierung der Bürokratie des Russischen Reiches, die spätestens seit der Regierungszeit von Nikolaus I. (Regierungszeit 1825–1855) ein fortlaufender Prozess war. Im Russischen Reich bedeuteten Zentralisierung und "Standardisierung" zwangsläufig einen hohen Grad an Russifizierung, da Russisch die Sprache der Bürokratie des Reiches war und daher Vorrang vor allen anderen Sprachen hatte. Die kulturelle Russifizierung schließlich bezieht sich auf die vorsätzliche Politik, die Nicht-Russen kulturell zu assimilieren, das heißt, aus Polen, Usbeken oder anderen Nicht-Russen Russen zu machen. Während die russischen Behörden einer kulturellen Diversität keine hohe Wertschätzung entgegenbrachten – womit sie den Normen ihrer Zeit entsprachen –, waren sie dennoch zu konservativ, um gezielte Kampagnen zur Assimilierung der Nicht-Russen durchzuführen. Die Weißrussen und die Ukrainer stellten eine bemerkenswerte Ausnahme dar, obschon diese ohnehin von der Regierung des Reiches als Subkategorien der russischen Nation angesehen wurden.
Die Sowjetisierung beinhaltete weitaus mehr als die Verbreitung der russischen Sprache und eines europäischen – d.h. russischen – Lebensstils. Sinnvollerweise fasst man sie als eine Form der "Modernisierung" auf, die Prozesse wie Industrialisierung, Urbanisierung und eine Zunahme staatlicher Eingriffe ins Alltagsleben umfasst, von der allgemeinen Schulbildung über den Militärdienst bis hin zum Wohlfahrtsstaat. Modernisierung hat unweigerlich eine Zunahme von Bürokratie im zivilen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich zur Folge, und Bürokratie funktioniert am besten in einer gemeinsamen Sprache. Die gemeinsame Sprache, die die gesamte UdSSR zusammenhielt, war natürlich das Russische. Jeder Nicht-Russe, der eine Karriere jenseits der Grenzen seines Geburtslandes anstrebte, musste daher über fortgeschrittene Kenntnisse des Russischen verfügen. So gesehen brachte die Sowjetisierung ganz sicher eine Russifizierung mit sich. In der Tat war die UdSSR weitaus erfolgreicher in der Verbreitung der Russischkenntnisse, als es das Russische Reich gewesen war. Die Sowjetisierung ging jedoch über den bloßen Sprachgebrauch hinaus und zielte auf die Schaffung einer ganz neuen, nicht-ethnischen Identität: den neuen Sowjetmenschen. Dieses neue und überlegene Wesen sollte fortschrittlich, ausgebildet und wissenschaftlich gebildet sein und natürlich Russisch sprechen, entweder als Muttersprache oder als zweite Sprache. Die Sowjetisierung forderte darüber hinaus, dass Frauen beim Aufbau des Sozialismus als absolut gleichberechtigte Partner zu behandeln seien. Zugleich gab es die Tendenz, die Religiösen, die Kleinbauern und die Nomaden als "Überbleibsel" aus einem früheren, weniger fortschrittlichen Zeitalter zu verleumden.
Russifizierung: Theorie und Praxis
Der Beginn der Epoche der Russifizierung wird gemeinhin mit der Niederschlagung der "Januaraufstände" 1863 in St. Petersburg angesetzt. Ihre Wurzeln lassen sich jedoch zumindest bis zur Herrschaft von Nikolaus I. zurückverfolgen, der auf dem Gebrauch des Russischen – und nicht des Französischen – in der internen Regierungskorrespondenz bestand. Die Prägung des Begriffs "Offizielle Nationalität" durch den langjährigen Erziehungsminister von Nikolaus I., Graf Sergej Uvarov (1786–1855) [], scheint die Politik der Russifizierung anzukündigen. Uvarovs berühmte dreiteilige Formel "Orthodoxie, Autokratie, Nationalität" ist sogar als potentielle Grundlage für eine nationalistische Programmatik gesehen worden.1
Es fällt jedoch schwer, diese Sichtweise uneingeschränkt zu akzeptieren. Denn immerhin war "Nationalität" der letzte und am ungenauesten definierte Begriff in Uvarovs drei Säulen des Reiches. In manchen Fällen schien der Gebrauch des Begriffs "Nationalität" zu implizieren, er sei nur eine logische Konsequenz der ersten beiden Begriffe, d.h., dass echte Russen sich zum christlich-orthodoxen Glauben bekannten und dem Zaren gegenüber loyal waren. Ein wichtiger Aspekt der "offiziellen Nationalität" verweist auf das Selbstbild des Russischen Reiches: seine vollständige Ignoranz gegenüber Nicht-Russen. Während sich die Zaren offenbar der Tatsache bewusst waren, dass sie über eine Vielzahl von nationalen Gruppen herrschten, drang diese Erkenntnis außer in Krisenzeiten nicht sehr tief in das russische Bewusstsein und in die Politik des Reiches ein. Somit waren die ethnischen Russen selbst das erste Objekt der "Russifizierung", da sie sich nicht mit den modernen Konzepten von Nation identifizieren wollten und sich selbst in erster Linie oder ausschließlich als orthodoxe Christen definierten. Erst nach der polnischen, oder genauer: polnisch-litauischen Erhebung von 1863 wurde der Russifizierung der Weißrussen und der Ukrainer – die gebräuchlichere Bezeichnung für Letztere war zu dieser Zeit "Kleinrussen" – höhere Priorität beigemessen.2
In der russischen Sprache ist es möglich, zwischen ethnischen Russen (russkij) und Russen als einer administrativen oder geographischen Bezeichnung (rossijski – "Russländer") zu unterscheiden. Sowohl das Russische Reich als auch die heutige Russische Föderation benutzen das Adjektiv rossijskaja, während die meisten Einwohner Moskaus ihre eigene ethnische Zugehörigkeit und die Sprache, die sie sprechen, als russkij beschreiben würden. In der Praxis wurde diese Unterscheidung jedoch oftmals nicht aufrechterhalten. So verlangte der erste Generalgouverneur Turkistans, Konstantin Kaufman (1818–1882), im russkaja Boden Taschkents beerdigt zu werden. Kaufmans Formulierung verweist auf eine allgemeinere Tendenz: Die Verwalter des Russischen Reiches neigten dazu, das Land, das sie verwalteten, als ethnisch russisch anzusehen und sich darauf zu beziehen, oder zumindest anzunehmen, dass es das eines Tages sein würde. Somit ist es möglich, spätestens seit den 1860er Jahren eine "Idealvorstellung von Russifizierung" unter den zaristischen Staatsdienern auszumachen.3
Der Tod Nikolaus I. mitten im Krimkrieg bezeichnet einen wichtigen Wendepunkt in der russischen Geschichte. Auch wenn sogar Nikolaus selbst die Schwachstellen in der Struktur des russischen Staates erkannt und die Unsittlichkeit der Leibeigenschaft mit Sorge gesehen hatte, war er zu konservativ und hatte zuviel Scheu vor Veränderung, um das System zu verändern, das er von seinen Vorfahren geerbt hatte. Der neue Zar, Alexander II. (1818–1881), konnte eine so passive Haltung 1855 nicht mehr einnehmen. Die Niederlage der russischen Armeen auf der Krim hatte die grundlegenden Schwächen der russischen Strukturen im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich offengelegt. Selbst Konservative gaben zu, dass eine tiefgreifende Reform erforderlich sei. Das vorrangige Objekt dieser Reform war selbstverständlich die russische Landbevölkerung, aber das mittelfristige Ziel der Großen Reformen der 1860er und 1870er Jahre war die Schaffung eines stärkeren, moderneren und zentralisierteren russischen Staates. Dieser Modernisierungsdrang musste zwangsläufig Auswirkungen auf die Nicht-Russen haben – aller Wahrscheinlichkeit nach negative.4
Der Ausbruch einer Rebellion in Warschau im Januar 1863, die die Behörden des Reichs bevorzugt als "Meuterei" (miatech) beschrieben, ließ die divergierenden Vorstellungen von "legitimer Herrschaft" der Nicht-Russen – in diesem Fall der Polen und Litauern – und der Behörden des Reiches deutlich werden. Aus Sicht der Aufständischen hatte St. Petersburg das in der polnischen Verfassung, die Zar Alexander I. 1815 gewährt hatte, festgelegte Abkommen nicht eingehalten. Die Regierung sollte sich also ordnungsgemäß wieder an dieses Dokument halten. Für das offizielle Russland war die Verfassung von 1815 bloßes Papier. Die polnischen kulturellen Abweichungen konnten toleriert werden, aber nur insoweit, als diese die Integrität des Reiches nicht nachteilig beeinflussten. Die geographische Position des polnischen Gebiets zwischen dem russischen Kernland und Deutschland machte die Ausrottung jeglicher separatistischen Bedrohung noch dringlicher.5
Die Grundzüge der Russifizierung als Politik waren Ende der 1860er Jahre gelegt. In dieser Region trat sie vor allem als anti-polnische Politik auf, die darauf abzielte, die polnischen und katholischen Einflüsse zurückzudrängen, wobei beide als weitgehend synonym angesehen wurden. Die Politik war jedoch nicht darauf ausgelegt, die polnische Kultur vollständig auszulöschen, denn St. Petersburg war sich bewusst, dass das kein realistisches Ziel war. Darüber hinaus waren die Bürokratie des Reiches und der Zar viel zu konservativ, um eine umfassende Überführung von Individuen von einer Nationalität oder Religion in eine andere zu wünschen. Die Ausnahmen zu dieser Regel sind gleichwohl aufschlussreich. Der russische Historiker Michail Dolbilov hat gezeigt, dass es unter den lokalen Verwaltern in den ethnisch gemischten "nordwestlichen Provinzen", die dem heutigen Weißrussland und Litauen entsprechen, Versuche gab, Massenkonversionen zu befördern.6 Solche Versuche fanden jedoch keine große Unterstützung durch die Zentralbehörden und hatten keine nachhaltigen Auswirkungen.
Es muss festgehalten werden, dass es einen deutlichen Unterschied gab zwischen den "westlichen Provinzen", in denen die Polen eine Minderheit darstellten und wo sie nur in den städtischen und landbesitzenden Schichten in der Mehrheit waren, und dem ehemaligen Königreich Polen, das offiziell in "Weichselland" umbenannt wurde und dessen Bevölkerung mit großer Mehrheit ethnische Polen waren. Die Reichsbehörden erklärten die westlichen Provinzen, die ungefähr dem heutigen Weißrussland, der westlichen Ukraine und Litauen entsprechen, zu "altem russischen Land", auf dem die Polen im Lauf der Jahrhunderte gesiedelt hatten. Folglich musste beispielsweise der polnischen Kultur in Vilnius oder Kiew aktiv entgegengetreten werden.7 In dem überwiegend von ethnischen Polen bewohnten Weichselland – eine Bezeichnung, die selbst von den Beamten nach 1863 jahrzehntelang kaum gebraucht wurde – wurde es jedoch als ausreichend erachtet, die Minderheitsrechte der Russen zu schützen und die Bedrohung des Separatismus abzuwehren. Die Behörden des Reiches sahen Bildung, insbesondere oberhalb des Primarniveaus, zunehmend im Kontext des Gesamtreiches. Die Entscheidung, die polnischsprachige Szkoła Główna ("Hauptschule") in Warschau zu schließen und durch eine russischsprachige Reichsschule zu ersetzen, war in diesem Zusammenhang sinnvoll, auch wenn viele Polen das verständlicherweise anders sahen. Die Angst vor der Bedrohung, die der polnische Einfluss darstellte – eine Angst, die unter den russischen Verwaltungsbeamten und Nationalisten ausgeprägt und weitverbreitet war – bezog sich besonders auf zwei Volksgruppen, die als Teile der russischen Nation angesehen wurden: die Weißrussen und die Ukrainer. Während diese Gruppen heute im Allgemeinen als eigenständige Nationen akzeptiert werden, sahen sie im ausgehenden 19. Jahrhundert nur wenige Russen und noch weniger russische Verwaltungsbeamte als solche an. Für die russischen Verwaltungsbeamten lagen die Alternativen klar auf der Hand: Entweder würden diese vornehmlich bäuerlichen Völker polonisiert und wären damit für die russische Nation verloren, oder sie würden "gerettet", indem man ihre russische und orthodoxe Identität nach Kräften förderte. Der russische Historiker Aleksei Miller hat argumentiert, dass die politischen Maßnahmen, die nach 1863 darauf abzielten, die Ukrainer in die russische Nation zu integrieren, durch die Schwäche des russischen Staates massiv behindert wurden. Als eine moderne nationale Identität für die Ukrainer zum Thema wurde (was für die Mehrheit von ihnen erst im 20. Jahrhundert der Fall war), formierte sich diese in Opposition sowohl zur polnischen als auch zur russischen.8 Der Fall der Weißrussen stellt sich komplexer dar. Da es ihnen – im Unterschied zum ukrainischen oder litauischen Beispiel – nicht gelang, einen bedeutenden Kader nationaler Aktivisten hervorzubringen, waren die Weißrussen für die Russifizierung viel empfänglicher, wenngleich dieser Prozess hauptsächlich nach 1917 einsetzte.9
Russifizierung und Zentralisierungsimpulse gingen Hand in Hand. Dies ist im Fall der Politik gegenüber dem autonomen Großherzogtum Finnland und den baltischen Provinzen Estland, Kurland und Livland am deutlichsten zu sehen. Seit seiner Eingliederung in das Russische Reich 1809 hatte Finnland einen hohen Grad an innerer Autonomie genossen. In den meisten Fällen wickelte Finnland seine Innenpolitik auf Schwedisch (und später auch auf Finnisch) ab, besaß eine eigene Währung, eigene Gesetze und Zölle. Seit den 1890er Jahren begannen die Reichsbehörden, die finnische Autonomie zu reduzieren, indem sie 1890 die eigenständige finnische Post abschafften und daran arbeiteten, das finnische und das russische Rechtssystem aneinander anzupassen. Ab 1898 verfolgte St. Petersburg ein ehrgeiziges Programm zur Russifizierung der finnischen Institutionen und schickte einen neuen Generalgouverneur, Nikolaj Ivanovic Bobrikov (1839–1904), ins Land, um diese Maßnahmen umzusetzen. Das Ergebnis war katastrophal. Die bisher loyalen Finnen opponierten gegen die Einsetzung russischer Bürokraten und den Gebrauch des Russischen in ihren eigenen Institutionen. Bobrikovs Versuch, das Russifizierungsprogramm durchzusetzen, endete 1904 in seiner Ermordung durch einen jungen Finnen. Die chaotischen Revolutionsjahre, die folgten, hinderten St. Petersburg daran, seinen Russifizierungselan fortzusetzen. Weitere Pläne, die finnische Autonomie einzuschränken, wurden gerade noch vor 1914 formuliert, wenngleich sie nie vollständig umgesetzt wurden.10
In den baltischen Provinzen, wo die Landbesitzer traditionell deutsch, die Bauern estnisch oder lettisch sprachen, konzentrierten sich die Russifizierungsbemühungen in den 1880er Jahren darauf, die Macht der lokalen deutschen Eliten zu reduzieren. Um dies zu erreichen, förderte die russische Regierung paradoxerweise die Entstehung lettischer und estnischer kultureller Einrichtungen oder tolerierte sie zumindest wohlwollend. Während die deutsche Universität in Dorpat (heute Tartu, Estland) in den frühen 1890er Jahren in die russische "Jurjew"-Universität umgewandelt wurde, wurden Volksschulen, in denen Estnisch oder Lettisch die Unterrichtssprachen waren, toleriert. Indem die russische Regierung die traditionellen deutschen Privilegien in diesen Provinzen schwächte, unterminierte sie unabsichtlich ihre eigene Position als ein erzkonservativer, von traditionellen Eliten abhängiger Staat. Die neu zum Leben erweckten lettischen oder estnischen Nationalbewegungen waren, wenn man sie vor die Wahl stellte, kaum dazu bereit, den Fortbestand des Russischen Reiches zu unterstützen.11
Im Laufe des 19. Jahrhunderts expandierte das Russische Reich über den Kaukasus hinaus und, besonders seit den 1860er Jahren, nach Zentralasien hinein. Die transkaukasische Region wurde von einer großen Zahl verschiedener Nationalitäten besiedelt, von den muslimischen Tschetschenen und Aseri über die christlichen Armenier bis zu den orthodoxen Georgiern.12 Zentralasien war fast einheitlich muslimisch, aber zugleich die Heimat verschiedener Nationen, von Nomadenvölkern und sesshaften städtischen Kulturen. Weder in Transkaukasien noch in Zentralasien wurden ernsthafte Versuche unternommen, die lokalen Volksgruppen zu russifizieren. Vielmehr verbat der Generalgouverneur von Turkistan, Kaufman, explizit alle Versuche, die lokalen Muslime zu bekehren, weil er fürchtete, derartige Bemühungen wären ineffektiv und könnten gewaltsamen Widerstand provozieren. Zugleich scheint es deutlich, dass die russischen Verwaltungsbeamten den Asiaten und Muslimen gegenüber eine Haltung an den Tag legten, die allgemein unter Europäern vorherrschte: Man sah sie als rückständig an und als von der Geschichte dem Untergang geweiht. Es wurde jedoch wenig unternommen, um diesen Prozess zu beschleunigen. Im Großen und Ganzen lebten die Russen in Zentralasien getrennt von der lokalen muslimischen Bevölkerung, und die beiden Gruppen hatten wenig direkten Einfluss aufeinander.13
Die große jüdische Bevölkerungsgruppe des Russischen Reiches lässt sich nicht leicht unter dem Rubrum "Russifizierung" fassen. Genau wie viele progressive Juden lehnten die Reichsbehörden Jiddisch als einen der modernen Welt nicht entsprechenden "Jargon" ab. Die Reichsbehörden eröffneten darum in den 1850er Jahren drei "rabbinische Schulen" in Vilnius und in Schytomyr in der westlichen Ukraine. Bereits 1826 war in Warschau eine polnische "rabbinische Schule" gegründet worden, die 1863 von den russischen Behörden geschlossen wurde. Ziel dieser Institutionen war es, die Juden des Reiches zu modernisieren und, mit Ausnahme der Warschauer Einrichtung, zu russifizieren. Die Absolventen dieser Schulen sind lange als Gefangene zwischen der russischen und der jüdischen Welt beschrieben worden, denen weder die eine noch die andere Welt wirklich vertraute. Sicher lässt sich der zunehmende Einfluss der russischen Kultur auf die Juden im Zarenreich nicht leugnen.14 Ironischerweise war es jedoch ausgerechnet diese Schicht von russischsprechenden, progressiven (oder radikalen) Juden, die die Aufmerksamkeit der zaristischen Behörden erregte. Angesichts der erheblichen rechtlichen Einschränkungen, unter denen die russischen Juden lebten, ist es nicht überraschend, dass nur wenige ein unreformiertes Russisches Reich unterstützten. Spätestens ab den 1870er Jahren tendierten die russischen Behörden also dazu, junge, gebildete, russischsprechende Juden mit Subversion zu assoziieren. Diese Tatsache zeigt, dass Russifizierung nicht notwendigerweise mit der Schaffung loyaler Untertanen für den Zaren gleichzusetzen war.15
Sowjetisierung: Politische Maßnahmen, Modernisierung und Kultur
Die Revolutionen von 1917, die die Herrschaft des Zaren beendeten und die Kommunisten an die Macht brachten, veränderten nahezu jeden Lebensaspekt für die einstigen Untertanen des Zaren, die jetzt im ersten sozialistischen Staat der Welt lebten. Dies galt auch für die Nationalitätenpolitik. Während man für die Zeit der Zarenherrschaft kaum von einer "Nationalitätenpolitik" als einer einheitlichen, konsistenten Sammlung von Gesetzen und Verordnungen sprechen kann, hatten sich die Bolschewisten bereits vor 1917 mit der nationalen Frage intensiv auseinandergesetzt. Unter ihren ersten Erlassen gab es einige, die sich an die Nicht-Russen innerhalb des Russischen Reiches richteten. In ihnen wurde versprochen, die kulturelle Entwicklung zu respektieren und zu unterstützen; sie verhießen sogar Unabhängigkeit oder "nationale Selbstbestimmung", wenn dies der genuine Wunsch der betreffenden Nation sein sollte.16 In der Praxis betrachteten die Kommunisten derartige Forderungen nach Unabhängigkeit als klaren Beweis für einen reaktionären "bürgerlichen Nationalismus": Sowohl im Fall des Baltikums als auch Finnlands gab Moskau seine territorialen Ansprüche erst auf, nachdem die Rote Armee und ihre Verbündeten eindeutig geschlagen waren. Im Kern war die kommunistische Haltung zum Thema Nationalität durch eine unbehagliche Spannung gekennzeichnet, die fast widersprüchlich zu nennen ist. Auf der einen Seite wurde die Vielfalt der nationalen Kulturen gefeiert und gefördert, besonders während der 1920er Jahre, was sich auf gewisse Weise bis zum Ende der UdSSR fortsetzen sollte. Auf der anderen Seite ließ die Strafe nicht lange auf sich warten, wenn lokale kommunistische Eliten (z.B. Weißrussen, Usbeken, Karelier etc.) Interessen zu verfolgen schienen, die denen Moskaus zuwiderliefen. Die nationalkommunistischen Eliten, die Moskau in den 1920er Jahren förderte, wurden demzufolge zum Großteil durch die Säuberungen der späten 1930er Jahre wieder zerstört.
Sowjetisierung war viel mehr als Nationalitätenpolitik: Sie hatte die Schaffung eines völlig neuen menschlichen Wesens zum Ziel. Wenn man sich die Darstellungen dieser neuen sowjetischen Person in der sowjetischen Literatur oder Bildwelt ansieht, ist er (oder manchmal sie) gewöhnlich als modernes Individuum mit europäischen Gesichtszügen porträtiert. Wenn exotische sowjetische Bürger in bunten Trachten in dieser Ikonographie vorkommen, dann eben genau als exotische, bunte, außergewöhnliche Individuen. Der "Standard" oder die Norm, die sich aus diesen Darstellungen ableiten lässt, ist eindeutig europäisch und russisch. Ein Poster von 1938 illustriert dies: Auf ihm ist eine Reihe von Individuen zu sehen, die verschiedene nationale Gruppen repräsentieren und mit hochgehaltenen Bannern vorwärts marschieren, auf denen "Grüße an den Großen Stalin" in verschiedenen Sprachen vorgebracht werden. Nur der Mann, der das russischsprachige Banner trägt, entspricht jedoch der klassischen Darstellung eines Arbeiters mit Leinenmütze und Jacke.17 Die Kommunisten hatten sehr präzise Ideen von richtig und falsch, progressiv und reaktionär. Mit Marx gaben sie der städtischen, industriellen Entwicklung den Vorzug und sahen darum die traditionellen agrarischen Kulturen – und in noch stärkerem Maße nomadische Gesellschaften – als von der Geschichte zur Auslöschung verdammt an. Die Frage war nur, welche Aspekte dieser Kulturen "gerettet" werden konnten? Die offizielle sowjetische Politik behauptete, dass gewisse kulturelle Eigenheiten, Sprache, Volksmärchen, Tänze und dergleichen aktiv bewahrt werden würden. Die tatsächliche historische Bestandaufnahme fällt jedoch für die kleineren und "weniger entwickelten" – d.h. nicht-industriellen, ländlichen und vorschriftlichen – Ethnien unter sowjetischer Herrschaft weitaus negativer aus.18
Das Chaos der Anfangsjahre der sowjetischen Herrschaft machte die Formulierung einer kohärenten Nationalitätenpolitik unmöglich. Während das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen (Narkomnaz) bereits 1917 eingerichtet worden war, wurde die UdSSR als ein offen multinationaler Staat erst im Dezember 1922 gegründet. In seinem Namen wies das Land keinerlei ethnische Bezeichnung auf und es versprach, eine Union gleichberechtigter Nationalitäten zu sein, die durch die sozialistische Ideologie zusammengehalten wurden. Es gab "Unionsrepubliken" für die größten nationalen Gruppen, und autonome Republiken, Regionen und Distrikte für kleinere Volksgruppen. Jede Union hatte ihre eigene Hauptstadt, ihr Parlament, und, mit einer Ausnahme, ihre eigene kommunistische Partei. Die Ausnahme war die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR). Mit 72 Prozent der Bevölkerung und 90 Prozent des Territoriums der UdSSR war sie 1923 bei weitem die größte der Unionsrepubliken, besaß aber keine eigene kommunistische Partei. Doch die zentralen Organe der Kommunistischen Allunions-Partei der Sowjetunion waren natürlich in Moskau angesiedelt.19 Die Revolution und der Aufbau des Sozialismus – und später des Kommunismus – hatten in allen politischen Überlegungen Vorrang. Gleichzeitig war Lenin sich bewusst, dass es galt, einen offenen "großStalin (1879–1953) hauptsächlich aus taktischen Gründen bezichtigte. Nicht-Russen mussten überzeugt werden, dass die UdSSR nicht einfach eine "rote Version" des Russischen Zarenreiches war, was sie in der Tat ja auch nicht war. Die fortdauernde Existenz verschiedener Nationalitäten, Sprachen und Kulturen wurde vom sowjetischen Staat nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert und subventioniert. Die "nationalen Kulturen", die die Kommunisten förderten, sollten progressiv sein, mehr oder weniger atheistisch und, insbesondere nach den 1930er Jahren, nicht anti-russisch.20
Selbst wo das Ziehen administrativer Grenzen entlang von Volkszugehörigkeiten der wirtschaftlichen Logik widersprach, überwogen im Allgemeinen ethnische die wirtschaftlichen Erwägungen. In Anlehnung an eine Metapher des litauischen Kommunisten Juozas Vareikis (1894–1939) hat der russisch-amerikanische Historiker Yuri Slezkine die UdSSR als "Kommunalka" (Gemeinschaftswohnung) beschrieben, in der jede nationale Gruppe ihr eigenes "Zimmer" hat.21 Selbstverständlich waren nicht alle "Zimmer" gleich groß oder gleich wichtig. Festgehalten werden sollte jedoch, dass die UdSSR bis zum Ende ihrer Existenz zumindest rhetorisch, aber auch auf verschiedene praktische Weisen, der Idee der kulturellen Diversität verpflichtet blieb. Die russische Kultur war sicherlich der primus inter pares, aber ein gewisser Raum wurde immer auch der nicht-russischen Sprache und Kultur eingeräumt.
Die sowjetische Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre wurde zeitgenössisch mit dem Begriff der Korenisazija oder "Einwurzelung" beschrieben. Diese Politik wies zwei hauptsächliche Aspekte auf. Auf der einen Seite zielte sie darauf ab, die neue sowjetische Macht für die Nicht-Russen attraktiv zu machen, indem sie ihnen in ihrer eigenen Sprache vorgestellt wurde und indem ihnen Anreize geboten wurden, am neuen politischen System zu partizipieren. Auf der anderen Seite versuchte die sowjetische Führung, die kulturelle, wirtschaftliche und politische Entwicklung der nicht-russischen Völker zu beschleunigen. Der Historiker Terry Martin hat die UdSSR in dieser Periode als das weltweit erste "affirmative-action-Reich" beschrieben, in dem beträchtliche Regierungsressourcen darauf verwandt wurden, Nicht-Russen in den sozialistischen Mainstream einzubinden.22 Ehrgeizige sowjetische Programme kodifizierten ethnische Besonderheiten, schufen schriftliche Versionen zentralasiatischer Sprachen und richteten individuelle administrative Einheiten entlang ethno-linguistischer Kriterien ein, d.h. die Unions- und autonomen Republiken, Oblasti und Okrugi, die bereits oben erwähnt wurden. Korenisazija geschah auf verschiedenen Ebenen. Auf der lokalen Ebene bedeutete sie, dass die einheimischen Sprachen in den Schulen, Gerichten und in den Einheiten der lokalen kommunistischen Partei gebraucht wurden. In vielen Fällen erforderte dies jedoch die Abfassung neuer Lehrbücher, die Ausbildung von Lehrern in Tatarisch, Kasachisch oder Weißrussisch oder sogar die Etablierung der Schriftform einer Sprache. Weil Russen und russischsprechende Juden einen derart großen Prozentsatz der Kommunisten in der gesamten UdSSR ausmachten, sollte den Nicht-Russen, die Interesse an einem Parteibetritt zeigten, eine Sonderbehandlung zukommen. Diese Sonderbehandlung bezog sich auch auf das Besetzen von Positionen innerhalb der kommunistischen Hierarchie in der Republik oder in der kommunistischen Partei und auf die Beschäftigung im Allgemeinen, inklusive der Direktorenposten in Fabriken, Schulen und anderen Institutionen. Die Tatsache, dass Mitglieder der "Titularnation" (d.h. Ukrainer in der Ukrainischen SSR, Kasachen in der Kasachischen SSR etc.) bevorzugt wurden, bedeutete unweigerlich, dass gleichermaßen qualifizierte Russischsprachige bei Beförderungen, Anstellungen usw. übergangen wurden. Diese Tatsache wurde offen bemerkt und anerkannt, aber russischsprachige Kommunisten wurden angehalten, dieses Opfer für die Partei zu akzeptieren. Ohnehin hatten sie kaum eine Wahlmöglichkeit. Da Russen die Mehrheit der kommunistischen Parteimitglieder in fast allen Teilrepubliken stellten, bestand die Gefahr, die russischen Kommunisten könnten der lokalen Bevölkerung einfach als eine neue Version der russischen Verwaltungsbeamten von vor 1917 erscheinen. Die Förderung eines ethnischen Partikularismus legte auch den grundlegenden Widerspruch bzw. die falschen Prämissen der Korenisazija offen. Die Politik setzte voraus, dass sich die Minderheitennationalitäten in das sowjetische System eingliedern lassen und die progressive und positive Natur des sowjetischen Sozialismus anerkennen würden, solange man ihnen einen beträchtlichen Freiraum gab, um ihre Sprachen, ihre Kultur und ihre nationalen Eliten zu entwickeln. Die Idee, dass eine nationale kulturelle Entwicklung und der Aufbau des Sozialismus in einigen Fällen konfliktreiche oder widersprüchliche Prozesse sein könnten, wurde entweder überhaupt nicht in Betracht gezogen oder als Missverständnis einer "richtigen" kulturellen Entwicklung beiseitegeschoben. Schon 1923 war allerdings der bedeutende tatarische Kommunist Mir Said Sultan Galijew (ca. 1892–ca. 1939) wegen "nationaler Abweichung" festgenommen worden, was soviel bedeutete wie die Interessen der eigenen nationalen Gruppe über die der Partei und der UdSSR als Ganzes zu stellen. In den Folgejahren wurde der Vorwurf des "Sultangalijewismus" gegen eine Reihe nicht-russischer Kommunisten erhoben, was normalerweise ihre Karriere und oftmals auch ihr Leben beendete. Während die allgemeine Parteipolitik der Korenisazija und die Förderung nationaler Kulturen noch ein weiteres Jahrzehnt in Kraft blieb, deutete Sultan Galiews Schicksal darauf hin, dass es in der Tat einen Interessenkonflikt zwischen Moskau und nicht-russischen Kommunisten geben konnte.
Gegen Ende der 1920er Jahre, besonders im Kontext von Stalins fast vollständiger Machtübernahme in der Partei, gab es verschiedene Fälle, die die Interessendivergenz zwischen Moskau und den lokalen Eliten erkennen lassen. Stalin realisierte, dass die Förderung lokaler Eliten und lokaler Kultur leicht einen Raum entstehen lassen konnte, in dem die zentrale Autorität – also seine eigene – in Frage gestellt wurde, und er reagierte mit Härte auf "bürgerliche Nationalisten" in den verschiedenen Republiken der UdSSR. In den 1930er Jahren waren nicht-russische Kommunisten unter denjenigen, die am ehesten verhaftet und exekutiert wurden.
Die Politik der Korenisazija wurde nie offiziell beendet, aber in der Praxis wurde sie in den 1930er Jahren von einem Programm, das weitaus offener von Zentralisierung und Russifizierung geprägt war, überlagert. Die Kollektivierungskampagnen der frühen 1930er Jahre trafen Nicht-Russen, vor allem Ukrainer und Kasachen, besonders hart. In der Ukraine herrscht gemeinhin die Auffassung, dass der "Hungerterror" der Jahre 1932 und 1933 von Moskau als Genozid am ukrainischen Volk organisiert worden sei. Nur wenige westliche Historiker können diese These ohne Einschränkung akzeptieren. Die Wahrscheinlichkeit umzukommen, stellte sich 1932/1933 für Kasachen jedoch höher dar. Ähnliche Hungerzustände herrschten aber auch in von ethnischen Russen bewohnten Gebieten im Ural und im Nordkaukasus. Es scheint allerdings klar zu sein, dass die Hungersnot von Moskau verschlimmert – wenngleich auch nicht gänzlich geschaffen – wurde und dass sie als Instrument gegen diejenigen Regionen eingesetzt wurde, die sich der Kollektivierung widersetzt hatten. Ganz allgemein müssen die 1930er Jahre als eine entscheidende Phase der Sowjetisierung betrachtet werden. Die Vernichtung der Bauernschaft, die die Kollektivierung mit sich brachte, bedeutete, dass die ländliche Bevölkerung der Sowjetunion trotz ihrer großen Anzahl immer Bürger zweiter Klasse waren, die nicht ganz in das sowjetische Projekt passten. Dies bedeutete wiederum, dass überwiegend bäuerliche Nationalitäten – wie beispielsweise die Weißrussen – viel größere Schwierigkeiten hatten, ihre Kultur zu verteidigen und weiterzugeben, als nationale Gruppen, die starke städtische Eliten aufweisen konnten.23
Die folgenschweren Ereignisse des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) hatten auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen russischen und nicht-russischen Nationalitäten. Zu Anfang des Krieges, als die UdSSR noch ein Verbündeter von Nazi-Deutschland war, wurden die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen zusammen mit einem Gebiet in Rumänien, das später Teil der Moldawischen Sowjetrepublik wurde, von der Sowjetunion annektiert. In der Folge des Einmarschs in die Sowjetunion durch Nazi-Deutschland im Juni 1941 wurde eine Reihe von Nationalitäten, die Moskau als verdächtig einstufte, zusammengetrieben und nach Osten deportiert, hauptsächlich nach Kasachstan. Unter diesen Gruppen waren Deutsche, Tschetschenen und Krimtartaren.24 Die sowjetische Propaganda während des Zweiten Weltkriegs war auffallend frei von kommunistischer Ideologie. Vermutlich das bekannteste Poster der Zeit zeigt eine mütterliche slawische Frau, die in Rot gekleidet ist und vor einem Hintergrund aus Bajonetten steht. In der rechten Hand hält sie ein mit "Militärischer Eid" bezeichnetes Papier, mit der anderen winkt sie unter der Überschrift "Das Mutter-Heimatland ruft!" den Betrachter heran. Der Künstler war allerdings kein Russe, sonder ein Georgier: Irakli Toidse (1902–1985). Während des Krieges gegen Deutschland wurde es für die sowjetischen Schriftsteller und Künstler zur Mode, die russische Vergangenheit zu feiern. Plötzlich wurden Militärführer wie Michail Kutusov (1745–1813) und Alexander Newski (ca. 1220–1263) und selbst autokratische Herrscher wie Peter I. (1672–1725) und Iwan der Schreckliche (1530–1584) neu und positiver interpretiert. Auf mehr oder weniger subtile Weise kam es in dieser Phase zu einer beachtlichen Rehabilitierung der vorsowjetischen imperialistischen Vergangenheit Russlands, die jetzt in einem fortschrittlicheren Licht dargestellt wurde.25
Nach dem Sieg brachte Stalin am 24. Mai 1945 einen berühmten Toast auf "die Gesundheit unseres sowjetischen Volkes und vor allem des russischen Volkes" aus. Während noch eine Generation zuvor die Sowjetisierung die Vielfalt der Kulturen betont hatte, waren derartige Aussagen jetzt als Lippenbekenntnisse zu werten oder galten nur noch auf lokaler Ebene. Jeder, der auf der Ebene der Union etwas werden wollte, konnte natürlich eine nicht-russische Identität behalten; er musste jedoch auch in der russischen Kultur zuhause sein. Jetzt herrschte – zumindest in der Öffentlichkeit – eine fast vollständige Abneigung dagegen, irgendeinen Aspekt der russischen Kultur oder der Kreml-Herrschaft zu kritisieren. Mehr als eine Generation nach Stalins Tod kann die Aussage Eduard Shevardnadze (1928–2014), eines hochrangigen Parteibeamten aus Georgien, der später als Gorbatschows Außenminister berühmt werden sollte, als symptomatisch für diesen Russo-Zentrismus angesehen werden: "Kameraden, Georgien wird das Land der Sonne genannt. Aber für uns geht die Sonne nicht im Osten auf, sondern im Norden, in Russland: Das ist die Sonne der Ideen Lenins."26 Der Russo-Zentrismus ging jedoch über bloße Worte hinaus. Volksgruppen, die der Kollaboration mit den Deutschen verdächtig wurden, wurden bald nach dem Abzug der Deutschen brutal aus ihrem Heimatland vertrieben. Es wurden keinerlei Anstrengungen unternommen, die tatsächlichen Kollaborateure herauszufinden; alle Mitglieder der verdächtigen nationalen Gruppe wurden zusammengetrieben und deportiert. In den baltischen Republiken und in der Ukraine, wo tatsächlich viele Einheimische mit den Deutschen kollaboriert hatten – oftmals aus einem anti-sowjetischen Impetus heraus, manchmal aber einfach nur, um zu überleben – wurden Hunderttausende verhaftet und deportiert. In allen Fällen starb ein hoher Prozentsatz der Deportierten auf dem Weg nach Osten aufgrund der brutalen Deportationsumstände. Während sich diese Festnahmen nicht ausschließlich auf die Nationalität gründeten, trug die einfache Tatsache der Massenverhaftungen von Esten, Letten, Litauern und Ukrainern viel dazu bei, die ganze Bevölkerung zu terrorisieren und jede offene Zurschaustellung eines antisowjetischen patriotischen Gefühls zu unterbinden.27
Die Brutalität der Jahre zwischen 1939 und 1945 in der Sowjetunion ist schwerlich zu überschätzen, insbesondere in ihren westlichen Regionen. Zunächst wurde die jüdische Bevölkerung dieses Gebiets, deren Zahl in die Hunderttausende ging, entweder deportiert oder – in der Mehrzahl der Fälle – in den Todeslagern der Nazis ermordet. Eine viel kleinere, aber dennoch bedeutende Bevölkerungsgruppe ethnischer Deutscher war entweder Ende 1939 von den Nazis "heim ins Reich" geholt worden – einige kehrten nach dem Einmarsch der Nazis 1941 wieder zurück – oder war vor der Roten Armee geflohen. Die Westgrenze der UdSSR war erheblich verändert worden, wodurch die sowjetische Grenze zwischen ein- und zweihundert Meilen nach Westen rückte. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung dieses Gebietes veränderte sich noch dramatischer. Im Norden, wo die Grenze zu Finnland ungefähr hundert Meilen nach Westen verschoben wurde, flohen eine Million Finnen, die nicht unter sowjetischer Herrschaft leben wollten. In den baltischen Ländern beraubte die Massenauswanderung nach Westen in Kombination mit Massenverhaftungen diese Nationen einer dringend benötigten, gebildeten Führung. Im westlichen Weißrussland und in der westlichen Ukraine – Gebiete, die in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehört hatten – wurden die polnischen Landbesitzer und die Intelligenzija, die seit Jahrhunderten dort ansässig waren, verhaftet, deportiert und in tausenden von Fällen von ihren ukrainischen Nachbarn ermordet. 1944 unterzeichneten die Sowjetrepubliken Weißrussland, Ukraine und Litauen mit Polen Abkommen über einen freiwilligen Bevölkerungsaustausch. Millionen von Polen verließen ihre Heimat, die sich jetzt in der UdSSR befand; Hunderttausende von Ukrainern mussten sich aus Polen in die ukrainische Sowjetrepublik umsiedeln lassen. Wenngleich diese Bevölkerungsverschiebungen angeblich "freiwillig" waren, wurden sie in einer Atmosphäre von Angst und Gewalt durchgeführt, was es problematisch erscheinen lässt, von einer wirklich freien Entscheidung zu sprechen.28
In die Phase während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fiel auch das Auftreten einer zunehmend negativen Einstellung den Juden gegenüber, was von der sowjetischen Führung sowohl toleriert als auch gefördert wurde. Das bekannteste Beispiel hierfür war die sogenannte "Ärzteverschwörung", im Zuge derer eine Gruppe von Ärzten, viele von ihnen mit jüdischen Namen, öffentlich des angeblichen Mordes an Andrei Schdanow (1896–1948) und anderer hochrangiger sowjetischer Beamter bezichtigt wurden.29 Zunehmend wurden Juden als Verdächtige angesehen, die möglicherweise Sympathien für das gerade unabhängig gewordene Israel und/oder für den Erzrivalen der UdSSR, die USA, hegen könnten. Während Juden im Bereich der sowjetischen Kultur, der Wirtschaft und der Verwaltung weiter sehr wichtig blieben, wurde Jüdischsein für diejenigen zu Bürde, die den Ehrgeiz hatten, es an die Spitze ihres Berufsstandes oder in die höchsten Parteiämter zu schaffen.30
Mit der Ankunft der Roten Armee 1944/1945 wurde die Sowjetisierung auch nach Ostmitteleuropa getragen. Für viele Polen, Ungarn, Tschechen, Rumänen und andere stellte sich heraus, dass eine brutale Besatzungszeit durch die nächste abgelöst wurde. 1948 war überall deutlich geworden, dass Moskau das Fortbestehen einer freien Presse, politischer Parteien oder jeder Form von antisowjetischen (oder antirussischen) Bewegungen nicht zulassen würde. In den späten 1940er Jahren wurde versucht, in diesen Ländern die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzuführen, mit den vorhersehbar desaströsen Konsequenzen. Eine geplante Wirtschaft, eine kompromisslose Sowjetisierung der Kultur und Bildungsreformen nach sowjetischem Vorbild traten in dem Jahrzehnt nach der "Befreiung" in Erscheinung, gemeinsam mit Denkmälern für die Rote Armee und für Stalin. Diese Phase der gewaltsamen Sowjetisierung nach stalinistischem Vorbild dauerte jedoch nicht lange. Die Aufstände von 1953 und 1956 in Berlin und Budapest sowie Unruhen in Polen überzeugten die poststalinistische Führung im Kreml, dass der mechanische Transfer von sowjetischen Modellen auf Osteuropa nicht funktionierte.
Dementsprechend wurde beispielsweise die Kollektivierung in Polen beendet, und die private Landwirtschaft wurde erneut zur Regel. In Ungarn wurde insbesondere ab den 1960er Jahren kleinen privaten Wirtschaftsunternehmen beträchtlicher Spielraum in einem Ausmaß eingeräumt, das in der UdSSR unmöglich gewesen wäre. Auf der anderen Seite führten bereits die vorsichtigen Versuche zu einer Reform des Sozialismus in der Tschechoslowakei 1968 zu einer sowjetischen Invasion, die deutlich werden ließ, dass Abweichungen vom sowjetischen Modell nur so weit gehen konnten. Die russische Sprache war nach wie vor in den meisten ostmitteleuropäischen Ländern Voraussetzung, auch wenn zugegebenermaßen selbst diejenigen, die andere slawische Sprachen wie Polnisch oder Slowakisch sprachen, Russisch selten wirklich gut lernten. Die Sowjetisierung in Osteuropa lief also in der Praxis auf Lippenbekenntnisse hinaus und auf das moskauhörige Einparteiensystem, das der Kreml bis in die späten 1980er Jahre aufrechterhielt, bis das ganze System implodierte.
Nach Stalins Tod nahm die offene Verfolgung der Minderheitennationalitäten in der UdSSR ab. Man kann jedoch nicht sagen, dass Nikita Chruschtschow (1894–1971) oder Leonid Brežnev (1906–1982) irgendwelche radikal neuen Konzepte oder politischen Maßnahmen bezüglich der Nicht-Russen eingeführt hätten. Eine offizielle Zweisprachigkeitspolitik in der Union bedeutete beispielsweise, dass Straßenschilder in Vilnius, Eriwan oder Frunse sowohl in der lokalen Sprache – Litauisch, Armenisch und Kirgisisch – als auch in Russisch beschriftet waren. Die Reform des Sprachunterrichts in den sowjetischen Schulen 1958 hatte zum Ziel, das Russische zur "zweiten Muttersprache" der Nicht-Russen zu machen. Der britische Historiker Geoffrey Hosking hat betont, Ziel dieses Gesetzes sei "nicht die Absicht, zu russifizieren, sondern zu sowjetisieren".31 Es erscheint jedoch schwierig, zwischen diesen beiden Begriffen für die Spätphase der Sowjetunion eindeutig zu unterscheiden, als das Bild des idealen Sowjetmenschen immer enger mit der russischen Kultur identifiziert wurde. Die Verbreitung der russischen Sprache ab den 1960er Jahren war hauptsächlich das Ergebnis praktischer individueller Entscheidungen. So schickten beispielsweise weißrussische Eltern ihre Kinder in russischsprachige Schulen im Wissen darum, dass der Besuch einer weißrussischen Schule ihr zukünftiges Vorwärtskommen behindern würde. Während die Russischkenntnisse zunahmen und russischsprachige Fernseh- und Radioprogramme in der gesamten Union ausgestrahlt wurden, wurde der Widerstand gegen die Sowjetmacht zunehmend mit dem Gebrauch der nicht-russischen Sprachen gleichgesetzt. Während schließlich also ein erheblicher Grad an sprachlicher Russifizierung erreicht wurde, weil immer mehr Nicht-Russen fließend Russisch sprachen, führte diese Russifizierung nicht zu einer Sowjetisierung, denn viele Nicht-Russen, die die russische Sprache annahmen, sahen sie als das Instrument einer Unterdrückungsmacht an.
Schlussfolgerungen
Weder das Russische Reich noch die UdSSR waren ein Nationalstaat. Dennoch sah sich die größte nationale Gruppe selbst als eine Nation, die über einen überwiegend russischen Staat herrschte. Durch die Eingliederung der Weißrussen und der Ukrainer konnte das Russische Reich behaupten, dass fast zwei Drittel seiner Bevölkerung russisch seien. Die UdSSR verwarf diese Inanspruchnahme und versuchte stattdessen, eine Loyalität zum Staat ("Sowjetisierung") auf der Grundlage von Toleranz verschiedener Kulturen und einem geteilten Glauben in den Sozialismus aufzubauen. Sowohl vor wie nach 1917 waren die Probleme von Nationalität und Sprache untrennbar mit anderen Problemen verbunden. Schwierige soziale, wirtschaftliche und politische Problemlagen wirkten sich zu allen Zeiten auf die "Nationalitätenpolitik" aus. Nach 1863 hatte die Russifizierung in erster Linie zum Ziel, zukünftige Aufstände gegen die russische Macht zu verhindern. Sie war aber zugleich mit der Hoffnung verbunden, die russische Sprache unter den Bewohnern der westlichen Grenzregionen des Reiches zu verbreiten, während in dieser Phase fast keine Anstrengungen unternommen wurde, um die Zentralasiaten zu russifizieren.
In der Frühphase der Sowjetunion wurde die Vormachtstellung der russischen Kultur als hässliches Überbleibsel einer vergangenen Ära abgelehnt. Sowjetisch sein bedeutete Loyalität mit der sozialistischen Idee, unabhängig davon, in welcher Sprache diese Loyalität für gewöhnlich ausgedrückt wurde. Korenisazija, oder Einwurzelung, lautete die Parole des ersten Jahrzehnts der UdSSR. Aber schon bald hatten Moskau und Stalin den Verdacht, die Stärkung einer nationalen Identität könnte zu einem Widerspruch führen, der den Aufbau des Sozialismus behindern könnte. Die sowjetischen Zentralbehörden reagierten auf einige Versuche, die nicht-russische Kultur hochzuhalten, mit dem Vorwurf des "bürgerlichen Nationalismus", und die russische Kultur wurde zunehmend als Standard für die gesamte Union definiert und angesehen. Dieser Prozess wurde durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs untermauert. Nach 1945 wurden nicht-russische Sowjetbürger nicht des Rechts beraubt, ihre eigenen Sprachen zu sprechen und ihre eigenen Kulturen zu pflegen, aber sie mussten die wichtige, überlegene Rolle der russischen Kultur anerkennen. Ab den 1960er Jahren beinhaltete Sowjetisierung demzufolge das flüssige Sprechen des Russischen ebenso wie anderer einheimischer Sprachen, die ein Individuum sonst noch sprechen wollte. Leider ließ sich für die Sowjetmacht die Verbreitung des Russischen nicht in eine Akzeptanz der sowjetischen Herrschaft überführen, und in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wurden im Baltikum, in Transkaukasien und in Zentralasien gegen Moskau gerichtete Parolen oft in ausgezeichnetem, wenngleich nicht akzentfreiem, Russisch gebrüllt.