Einleitung
Was wäre geschehen, wenn Christoph Kolumbus (1451–1506) mit seinem Vorhaben nicht bei den Katholischen Königen, Isabella I. von Kastilien (1451–1504) und Ferdinand II. von Aragon (1452–1516), sondern bei Franz I. von Frankreich (1494–1547) Gehör und Unterstützung gefunden hätte; was, wenn im Jahre 1519 statt Karl I. von Aragón und Kastilien (1500–1558) der französische König von den Kurfürsten zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt worden wäre? Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1880–1936) stellte sich eben diese Frage in seinem erstmals 1918 erschienenen kulturpessimistischen Erfolgsbuch Der Untergang des Abendlandes und glaubte auch die Antwort zu kennen: "Die frühe Barockzeit vom Sacco di Roma bis zum westfälischen Frieden, nunmehr in Religion, Geist, Kunst, Politik und Sitte das spanische Jahrhundert … wäre nicht von Madrid, sondern von Paris aus in Gestalt gebracht worden."1 Der historische Zufall aber habe es gewollt, dass nicht die französische, sondern die spanische Monarchie in den gut hundert Jahren zwischen der Plünderung Roms durch die Truppen Kaiser Karls V. im Jahre 1527 und dem Friedensschluss von Münster im Jahre 1648 Europa gleichsam ihren Stempel aufdrückte. Am "Stil der Kirche", geprägt durch Ignatius von Loyola (1491–1556), und das "von seinem Geist beherrschte" Trienter Konzil (1545–1563) sei dies ebenso ablesbar wie am "politischen Stil", geprägt durch "spanische Kriegskunst, … die Kabinettsdiplomatie spanischer Kardinäle und den höfischen Geist des Escorial", wie er nicht zuletzt auch in der Architektur, der Malerei und im Zeremoniell seinen Ausdruck gefunden habe.2
Ob und inwiefern Spanien im 16. Jahrhundert tatsächlich als Vorbild oder Modell für den Rest Europas angesehen werden kann bzw. in welcher Weise sich die Vormachtstellung der spanische Monarchie auf kulturelle Transferprozesse innerhalb und außerhalb Europas auswirkte, soll im Rahmen des folgenden Überblicks diskutiert werden. Den Zeitgenossen dies- und jenseits der Pyrenäen blieb die Hegemonie Spaniens jedenfalls keineswegs verborgen, auch wenn sie noch nicht von einem "spanischen Jahrhundert" sprachen.
Auf der Iberischen Halbinsel setzte schon frühzeitig ein Diskurs ein, der angesichts der sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts abzeichnenden Krisenerscheinungen die jüngere Vergangenheit als "goldenes Zeitalter" verklärte. Seit dem 18. Jahrhundert ist der Begriff Siglo de Oro besonders mit Blick auf das literarische Schaffen der vorangegangenen beiden Jahrhunderte gebräuchlich und hat sich seitdem vornehmlich in der Literaturwissenschaft als Epochenbezeichnung eingebürgert, wenngleich er im Hinblick auf seinen allgemeinhistorischen Gehalt und die genaue Periodisierung unscharf bleibt.3
Gleichsam die Kehrseite dieses Narrativs bildet jenes seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als leyenda negra bezeichnete negative Spanienbild, wie es sich bereits im 16. Jahrhundert in den protestantischen Territorien Europas ausformte und zum Teil bis in die Gegenwart nachwirkt.4 Die Hegemonialmacht Spanien fungierte hier gleichsam als Negativfolie, von der sich ihre Gegner abzugrenzen suchten. Den gemeinsamen Hintergrund für diese beiden gegensätzlichen Einschätzungen bildete Spaniens Aufstieg zur führenden Macht Europas im 16. Jahrhundert.
Der Aufstieg Spaniens zur Weltmacht 1492–1609
Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 auf den Bahamas landete und die neu entdeckten Inseln für die Krone Kastiliens in Besitz nahm, tat er das im Auftrag eines Herrscherpaares, unter dem die christlichen Königreiche auf der Iberischen Halbinsel (mit Ausnahme Portugals, das erst 1580 für die Dauer von etwa sechs Jahrzehnten Teil der spanischen Monarchie werden sollte) erstmals vereint worden waren.5 Dass aus der Verbindung Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragón aber einmal eine dauerhafte Personalunion beider Königreiche hervorgehen würde, war nicht immer gewiss, von den vielen anderen Territorien, die die Nachfolger der Katholischen Könige unter ihrer Krone vereinigen sollten, ganz zu schweigen.6
Es genügt, sich die Chronologie der unerwarteten Todesfälle vor Augen zu führen, um zu ermessen, welche Rolle der dynastische Zufall für die Gründung des spanischen Imperiums spielte: 1497 und 1498 verstarben Johann (1478–1497) und Isabella von Kastilien (1470–1498), die beiden älteren Geschwister von Johanna der Wahnsinnigen (1479–1555), der Mutter Karls V. Im Jahre 1506 ereilte dasselbe Schicksal, mit gerade einmal 28 Jahren, auch den Vater des künftigen Königs und Kaisers, Philipp den Schönen von Burgund (1478–1506). 1509 wurde Ferdinand II. von Aragón, der nach dem Tod Isabellas eine weitere Ehe eingegangen war, noch einmal ein Sohn geboren, der aber nur wenige Stunden am Leben blieb. Als Ferdinand 1516 verstarb, ohne einen direkten männlichen Nachkommen zu hinterlassen, fielen die Reiche der Krone von Aragón an Ferdinands Enkel Karl, der von diesem Zeitpunkt an auch in Kastilien die Herrschaft fü Ein Jahr zuvor hatte er bereits in den Niederlanden das Erbe seines früh verstorbenen Vaters angetreten. Als die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches eben jenen Karl I. von Aragón und Kastilien, den Enkel Kaiser Maximilians (1459–1519), im Jahre 1519 als Karl V. auch noch zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wählten,7 gebot der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal Neunzehnjährige über Territorien von bisher ungekannter Ausdehnung.8
Zwar teilte Karl später sein gewaltiges Erbe, indem er die Kaiserkrone noch zu Lebzeiten an seinen jüngeren Bruder Ferdinand (1503–1564) abtrat.9 Das dynastische Band zwischen den beiden Zweigen des Hauses Habsburg aber blieb auch in der Folgezeit bestehen und wurde durch weitere dynastische Heiraten noch gefestigt. Doch auch ohne die Nachfolge auf dem Kaiserthron anzutreten, erbte Karls erstgeborener Sohn, der spätere Philipp II. von Spanien (1527–1598), ein Reich, in dem die Sonne nicht unterging.10 Als spanischer König war er zugleich Herrscher über die Niederlande, die Freigrafschaft Burgund, die Königreiche Sizilien und Neapel und das Herzogtum Mailand.11 Auch die spanische Expansion in Übersee schritt unter seiner Regierung weiter fort; in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erstreckte sich die spanische Herrschaft nicht allein über weite Teile des amerikanischen Kontinents, sondern griff auch in den pazifischen Raum aus: 1565 wurden die Philippinen für die spanische Krone in Besitz genommen.12
Diese Entwicklung war zu Beginn des 16. Jahrhunderts keineswegs absehbar, und doch wird man dem Gang der Ereignisse kaum gerecht, wenn man darin lediglich eine rein zufällige Verkettung von günstigen Umständen sieht. Dem dynastischen Zufall halfen die gekrönten Häupter Europas, wann immer sich ihnen die Möglichkeit bot, durch gezielte Heiratspolitik nach.13 Dass die Habsburger dabei sprichwörtlich eine besonders "glückliche" Hand hatten – das bekannte Diktum "Bella gerant alii, tu felix Austria nube" (Kriege mögen andere führen, Du glückliches Österreich heirate) lässt sich bereits im 17. Jahrhundert nachweisen –,14 sollte sich 1580 erneut herausstellen, als Philipp II. von Spanien nach dem unerwartetem Aussterben des Hauses Avis in Personalunion auch noch König von Portugal wurde. Damit vereinte der spanische König nicht nur erstmals alle iberischen Reiche unter einer Krone, sondern verleibte auch die umfangreichen portugiesischen Besitzungen in Übersee seinem Kolonialreich ein.15 Zur Zeit der sechs Jahrzehnte währenden Personalunion mit Portugal erlebte die spanische Monarchie ihre größte Ausdehnung.16
Einen so gewaltigen Territorienkomplex über einen so langen Zeitraum zusammenzuhalten und zu regieren stellte, zumal zu einer Zeit, als sich moderne Staatlichkeit erst zu formieren begann und die Kommunikations- und Verkehrsbedingungen vielfach unzureichend waren, eine enorme logistische und administrative Leistung dar. Die spanische Monarchie war für diese Aufgabe aber möglicherweise besser gerüstet als andere frühmoderne Staatswesen. Obgleich sich Karl V. noch in der Tradition des mittelalterlichen Reisekönigtums fortwährend zwischen seinen weitverstreuten Territorien hin und her bewegte, waren die zentralen Verwaltungsinstitutionen der spanischen Krone zu dieser Zeit bereits weit entwickelt. Philipp II. sollte das spanische Imperium dann bereits nur noch von Kastilien aus regieren. 1561 machte der von manchen Zeitgenossen als rey papelero (Papierkönig) verspottete Herrscher, der sich oft bis in die Nacht dem Aktenstudium hingab, Madrid zur Hauptstadt der Monarchie, siedelte dort auch den Hof und die zentralen Verwaltungsorgane an und baute den administrativen Apparat in der Folgezeit immer weiter aus.17
Die Grundlagen für diesen bemerkenswerten Rationalisierungs- und Bürokratisierungsschub hatten freilich bereits die Katholischen Könige geschaffen. Unter ihnen wurden die ersten zentralen Ratsgremien (Consejos Reales) eingerichtet, die teils für bestimmte Sachgebiete zuständig waren, teils für die Angelegenheiten einzelner Herrschaftsgebiete, wie der von den Katholischen Königen begründete Aragón- und Kastilienrat, denen später noch der Indienrat (gegründet vor 1524), der Italienrat (1559), der Portugalrat (1582) sowie der Flandernrat (1588) an die Seite gestellt wurden.18 Darüber hinaus war der spanische König in den einzelnen Teilreichen der Monarchie durch Vizekönige vertreten, die gleichsam als alter ego des abwesenden Monarchen fungierten.19 Außerdem sorgte ein Netz von königlichen Appellationsgerichten (audiencias), die zum Teil auch administrative Funktionen ausübten, für eine Präsenz der königlichen Zentralgewalt selbst in den entlegenen Teilen der Monarchie.20
Dennoch war die spanische Monarchie unter den Habsburgern zu keinem Zeitpunkt "zentralistisch" oder gar "absolutistisch" verfasst, vielmehr haben wir es im Falle der spanischen Königreiche geradezu mit dem Paradebeispiel einer composite monarchy zu tun,21 das heißt, die Institutionen und Rechtstraditionen der unter einer Krone vereinigten Territorien blieben in der Regel unangetastet. Dies gilt nicht nur für die Inkorporation Portugals im Jahre 1580, bei der sich die portugiesischen Stände weitreichende Privilegien garantieren ließen.22 Auch die Länder der Krone Aragóns hatten nach der Personalunion ihre eigenständigen Institutionen behalten, und sogar innerhalb Kastiliens genossen bestimmte Territorien, wie etwa die drei baskischen Provinzen, weiterhin ihre aus dem Mittelalter herrührenden Sonderrechte (fueros), die den Zugriff der Zentralgewalt erheblich einschränkten.23
Die einzige Institution, die über den regionalen Gewalten stand, war die 1478 gegründete Spanische Inquisition. Direkt dem Monarchen unterstellt, war das "Heilige Offizium" daher von Anfang an nicht nur ein Instrument zur "Reinerhaltung" des Glaubens, sondern auch zur Stärkung der Zentralgewalt der Krone.24 Vielen Zeitgenossen schien der gemeinsame Glaube die einzige verbindende Klammer, um den politisch, sprachlich und ethnisch heterogenen Territorienkomplex der spanischen Monarchie zusammenzuhalten.25 Vor diesem Hintergrund ist auch das gerade in ihren Anfangsjahren äußerst rigorose Vorgehen der Inquisition gegen religiöse Minderheiten auf der Iberischen Halbinsel zu sehen. Angesichts der massiven Verfolgung durch die Inquisition verließen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Tausende von Sepharden die Iberische Halbinsel. Ihnen folgten die 1609 gleichfalls aus dem Herrschaftsbereich der spanischen Krone vertriebenen Morisken (unter Zwang zum Christentum übergetretene Muslime).26
Bezeichnenderweise war es, neben anderen Faktoren, auch das Vorgehen der Inquisition in den Niederlanden, an der sich jener Aufstand entzündete, der schließlich in die Abspaltung der nördlichen Provinzen von der spanischen Krone mündete.27 Doch auch in anderen Teilen des spanischen Imperiums machten sich periodisch zentrifugale Tendenzen bemerkbar, zumeist dann, wenn die Zentralgewalt lokale Rechtstraditionen antastete, über Gebühr in die lokalen Belange eingriff oder sich die autochtonen Eliten nicht mehr ausreichend in den politischen Entscheidungsgremien repräsentiert sahen. Dies gilt für die Aufstände in Kastilien und Valencia zu Beginn der Regierungszeit Karls V. ebenso wie für spätere Erhebungen in Aragón, Katalonien oder Portugal.28 Trotzdem gelang es der spanischen Monarchie insgesamt erfolgreich, ihre Herrschaft in ihren zahlreichen Territorien zu behaupten (mit Ausnahme der nördlichen Niederlande und Portugals) und zu konsolidieren. Die Macht der Krone, im Inneren wie im Äußeren, beruhte freilich nicht allein auf effizienter Verwaltung, kluger Herrschaftspraxis und erfolgreicher Heiratspolitik, sondern nicht zuletzt auch auf militärischer Dominanz.
Im ganzen 16. Jahrhundert gab es kaum einen bewaffneten Konflikt, in den nicht auch spanische Truppen involviert gewesen wäre: der Schmalkaldische Krieg, die zahllosen Waffengänge zwischen Spanien und Frankreich um die Vorherrschaft in Italien, die militärischen Auseinandersetzungen der spanischen Monarchie mit den Osmanen im Mittelmeerraum und mit den konkurrierenden Seemächten England und Holland auf den Weltmeeren, die französischen Religionskriege und nicht zuletzt jene achtzig Jahre währende Auseinandersetzung mit den nördlichen Niederlanden, an deren Ende die Vereinigten Provinzen ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone durchsetzen konnten.29 Dass die Tage der weltumspannenden Vormachtstellung des spanischen Imperiums gegen Ende des Jahrhunderts indes bereits gezählt waren, ließ spätestens der im Jahre 1609 auf zwölf Jahre geschlossene spanisch-niederländische Waffenstillstand erkennen, der es den Niederländern unter anderem ermöglichte, ihre Präsenz in Übersee auf Kosten Spaniens weiter auszubauen.30
Die spanische Monarchie als Ausgangs- und Knotenpunkt kultureller Transfers im 16. Jahrhundert
Angesichts der militärischen Omnipräsenz der spanischen Monarchie und der enormen Ausdehnung ihres Herrschaftsgebiets ist es nicht weiter verwunderlich, dass Spanien im 16. Jahrhundert im besonderen Maße zum Ausgangs- und Knotenpunkt von kulturellen Transferprozessen wurde. Dabei spielten zunächst einmal wirtschaftliche Faktoren eine erhebliche Rolle. Finanziert wurde das spanische Imperium durch den scheinbar nie versiegenden Zustrom von Edelmetallen aus Amerika.31 Der lukrative Amerikahandel, obgleich offiziell allein gebürtigen Spaniern vorbehalten, lockte Kaufleute und Unternehmer aus ganz Europa an, die sich in großer Zahl an den zentralen Handelsumschlagplätzen der Iberischen Halbinsel und ganz besonders im prosperierenden Sevilla ansiedelten.32 Natürlich gelangten auf diesem Wege nicht nur Gold und Silber, sondern auch eine Vielzahl anderer in Europa noch nicht bekannter Erzeugnisse, Tiere und Pflanzen über die Iberische Halbinsel in die alte Welt.
Die wertvolle Fracht der jährlichen Silberflotte war aufgrund des ständigen Geldmangels der Krone stets schon im Voraus an auswärtige Kreditgeber verpfändet.33 Nach Ankunft der Flotte in Sevilla wurde der größte Teile des Edelmetalls, falls es nicht schon auf dem Weg englischen oder niederländischen Kaperfahrern in die Hände gefallen war, an die großen europäischen Finanzplätze weitergeleitet. Eine überragende Rolle spielte dabei lange Zeit die Republik Genua, deren Bankiers und Finanziers zugleich erheblichen Einfluss innerhalb der spanischen Monarchie besaßen und zum Teil bis in höchste Staatsämter aufstiegen.34
Die Abhängigkeit von den Genuesen und anderen auswärtigen Geldgebern sollte sich auch durch die periodisch erklärten Staatsbankrotte nicht verringern. Trotz immer wieder auftretender Engpässe verfügte die Monarchie aber das ganze 16. Jahrhundert hindurch immer noch über genügend Mittel, um ihre zahlreichen außenpolitischen Projekte zu finanzieren.35 So waren es neben Kapital und Handelswaren, die ihren Weg über die Iberische Halbinsel in andere Teile Europas fanden, nicht zuletzt Material für die Kriegführung und Soldaten, die innerhalb des weitverzweigten Herrschaftsbereichs der Monarchie zirkulierten und von einer Front an die andere verschoben wurden.36 Betrachtet man die Lebensläufe spanischer Söldner und Offiziere, gewinnt man leicht einen Eindruck von der gewaltigen Mobilität einer Personengruppe, die ebenso wie Kaufleute und Seeleute häufig zu Agenten und Mittlern kultureller Transfers wurden.37
Neben den Netzwerken der Kaufleute, Söldner und Offiziere spielte diesbezüglich aber auch der Hof eine herausragende Rolle. Die ganz Europa umfassenden Heiratsnetzwerke der regierenden Fürstenhäuser, die Praxis der Grand Tour und die Etablierung ständiger Gesandtschaften im 16. Jahrhundert beförderten den personellen und kulturellen Austausch zwischen den einzelnen europäischen Höfen – Madrid bildete diesbezüglich keine Ausnahme. Trotz der zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen bestanden etwa zeitweise durchaus enge Kontakte zwischen dem spanischen und dem französischen Königshaus, dem die dritte Ehefrau Philipps II., Elisabeth von Valois (1545–1568), entstammte.38 Eine ganz besondere Bedeutung aber kam den Verbindungen zwischen Madrid und Wien zu. Allein zwei spätere Kaiser, Ferdinand I. (1503–1564) und Rudolf II. (1552–1612) aus der österreichischen Linie des Hauses Habsburg, hatten ihre Kindheit und Jugend in Spanien verbracht. Hinzu kamen die zahlreichen Eheschließungen zwischen beiden Linien, wobei die "ausländischen" Ehegatten jeweils ihren Hofstaat mitbrachten. Neben Brüssel, dem Sitz des spanischen Statthalters der Niederlande, sowie Antwerpen als Handels- und Finanzzentrum im Nordwesten (bis 1585) kann daher auch Wien als wichtige Schnittstelle für den kulturellen Austausch zwischen Spanien und Mitteleuropa gelten.39
Sprache und Literatur
Fragt man nach den Objekten und den Inhalten kultureller Transfers, wird man nicht allein an Kapital oder Handelswaren denken, die über die Iberische Halbinsel ihren Weg in andere europäische Regionen fanden, sondern vor allem an immaterielle Güter, die dem Bereich der Kultur, im engeren oder weiteren Sinne, zugeordnet werden können. Als zentrales Medium und zugleich Objekt solcher Transfers gerät dabei zunächst die Sprache in den Blick.
Früher als andere Volkssprachen löste das Kastilische Latein als Verwaltungs- und Schriftsprache ab, und als erste europäische Volkssprache überhaupt konnte es eine schriftlich fixierte Grammatik vorweisen. 1492, im dem Jahr, in dem Kolumbus in Amerika landete und mit dem Königreich Granada die letzte noch verbliebene islamische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel erobert wurde, veröffentlichte der Humanist Antonio de Nebrija (1444–1522) seine Gramática de la lengua castellana. Im Vorwort bezeichnet er die Sprache ausdrücklich als "Begleiterin des Imperiums" und empfiehlt den Katholischen Königen, den "barbarischen" Völkern, die sie oder ihre Nachfolger künftig unterwerfen würden, gemeinsam mit ihren Gesetzen auch die spanische Sprache zu bringen.40 Auch wenn Nebrija dabei noch nicht die überseeischen Eroberungen der spanischen Krone im Sinn haben konnte – seine Grammatik erschien noch bevor Kolumbus zu seiner ersten Reise aufbrach –, so scheint die historische Entwicklung ihm nachträglich recht zu geben.41 Heute gehört das Spanische (genauer: das Kastilische) mit fast 500 Millionen Sprechern nach Mandarin-Chinesisch, Hindi und Englisch zu den vier meistgesprochenen Sprachen der Welt. Zwar erlernte anfänglich nur ein sehr geringer Teil der indigenen Bevölkerung Süd- und Mittelamerikas die Sprache der Eroberer, auf lange Sicht aber verdrängte das Spanische, nicht zuletzt aufgrund seiner Bedeutung als Schrift- und Verwaltungssprache, in vielen Regionen fast vollständig die vor der Ankunft der Konquistadoren gesprochenen Sprachen. Andererseits bemühten sich insbesondere die Missionare um das Studium der indigenen Sprachen, die sie zum Teil erstmals verschriftlichten und so vor dem Verschwinden bewahrten. 42
Auch innerhalb Europas erfuhr das Spanische mit dem Machtzuwachs der spanischen Monarchie einen Prestigegewinn. Ablesbar ist diese Entwicklung nicht zuletzt an der Person des Monarchen selbst: Musste Karl V. bei seinem Regierungsantritt den kastilischen Ständen noch geloben, möglichst bald die Landessprache zu erlernen, so bediente er sich dieser rund zwanzig Jahre später sogar außerhalb Spaniens und in Anwesenheit ausländischer Gesandter mit großem Selbstbewusstsein. Als der Kaiser im Jahre 1536 in einer in spanischer Sprache gehaltenen Rede vor Papst Paul III. (1468–1549) und der Kurie den französischen König scharf angriff, beschwerte sich der französische Botschafter, der Bischof von Mâcon, weil er den Inhalt des Gesagten angeblich nicht verstanden hatte. Darauf erhielt er von Karl zur Antwort:
Señor obispo, entiéndame si quiere; y no espere de mí otras palabras que de mi lengua española, la cual es tan noble que merece ser sabida y entendida de toda la gente cristiana.43
Auch der spanische Humanist Juan de Valdés (1490–1541) maß in seinem um 1535 in Neapel entstandenen Diálogo de las lenguas dem Kastilischen bereits eine über die Iberische Halbinsel hinausreichende Bedeutung als Verkehrssprache in adelig-höfischen Kreisen zu.44 Dennoch blieb das Spanische auf lange Sicht lediglich eine europäische Volkssprache neben anderen und erlangte, anders als das Französische im 17. und 18. Jahrhundert, auch nie die Bedeutung einer gemeineuropäischen Hofsprache. In Politik und Diplomatie blieb das Latein zunächst weiter vorherrschend und unter den europäischen Höflingen galt noch lange Zeit eher das Italienische als galante Konversationssprache, wenngleich etwa am Wiener Hof vereinzelt auch Spanisch gesprochen wurde.45
Das größere Prestige des Italienischen spiegelte sich auch in der spanischen Renaissance-Dichtung wider, die zunächst um die Nachahmung italienischer Vorbilder bemüht war. Bald aber verschafften sich auch hier Kritiker Gehör, die den italienischen Einfluss ablehnten.46 An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert schufen dann Autoren wie Lope de Vega (1562–1635), Miguel de Cervantes (1547–1616) oder Calderón de la Barca (1600–1681) literarische Meisterleistungen, die hinsichtlich ihres Einflusses auf die anderen europäischen Literaturen den Werken eines William Shakespeare (1564–1616) oder Molière (1622–1673) in nichts nachstanden. Letzteres gilt wohl vor allem für das vielleicht bekannteste Werk der spanischen Literatur, Cervantes' Don Quijote, der schon bald nach seinem Erscheinen auch außerhalb der Iberischen Halbinsel für Furore sorgte, im 17. Jahrhundert in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt wurde und heute von der Literaturwissenschaft als erster moderner Roman überhaupt angesehen wird.47 Doch auch die spanischen Schelmen- und Ritterromane wie der anonyme Lazarillo de Tormes oder der Amadís de Gaula, auf den Cervantes mit seinem Quijote ironisch Bezug nimmt, hatten schon zuvor über die Grenzen der Iberischen Halbinsel hinaus Verbreitung gefunden.48
Religion und Wissenschaft
Es waren freilich nicht nur literarische Schöpfungen spanischer Autoren, die im Rest Europas gelesen wurden, sondern nicht zuletzt auch Texte, die der religiösen Traktat- und Andachtsliteratur zuzurechnen sind. Werke wie die Guía de los pecadores des Dominikanerpaters Luis de Granada (1504–1588) wurden zu Bestsellern im katholischen Europa und waren im 17. Jahrhundert in jeder französischen Klosterbibliothek zu finden.49 Spanische Theologen hatten maßgeblichen Anteil an der katholischen Reform und Gegenreformation, man denke nur an den 1534 von Ignatius von Loyola gegründeten Jesuitenorden, der im 16. Jahrhundert seinen Siegeszug in Europa und anderen Teilen der Welt antrat.50
Kulturellen Transfers auf dem Feld der Religion und der Wissenschaft waren aber zur gleichen Zeit durch die Inquisition und die von ihr betriebene Bücherzensur enge Grenzen gesetzt. Auf dem Index der Spanischen Inquisition standen nicht nur die Werke der Reformatoren, sondern auch die Schriften des Erasmus von Rotterdam (1469–1536) und anderer Humanisten.51 Aber auch die in Mitteleuropa verbreiteten Hexenhandbücher wie der Malleus Maleficarum des Dominikaners Heinrich Kramer (Henricus Institoris, 1430–1505) waren in Spanien verboten, was zur Folge hatte, dass die vor allem in Zentraleuropa verbreitete Hexenlehre auf der Iberischen Halbinsel nie richtig Fuß fassen konnte und Spanien von den in Mittel- und Nordeuropa wütenden Hexenverfolgungen fast vollständig verschont blieb.52
Mag dies aus heutiger Sicht als positiver Nebeneffekt der Bücherzensur erscheinen, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der geistige Austausch zwischen Spanien und dem Rest Europas noch bis ins 18. Jahrhundert durch die Tätigkeit der Inquisition erheblich erschwert wurde. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich die sogenannte leyenda negra über das spanische Imperium nicht zuletzt aus spanischen Quellen speiste. Mit an erster Stelle zu nennen ist hier der erstmals 1552 erschienene Bericht des Dominikanerpaters und ehemaligen Konquistadors Bartolomé de las Casas (1474–1566) über die an den Bewohnern der von den Spaniern eroberten Gebiete in Übersee begangenen Verbrechen.53 Der Publikation dieser Schrift war eine öffentliche Disputation zwischen las Casas und dem Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda (1490–1573) über die Rechte der indigenen Bevölkerung in Amerika vorausgegangen.54
Es waren freilich nicht nur die polemischen Schriften von las Casas, sondern auch die gelehrten Abhandlungen eines Francisco de Vitoria (1483–1546), Domingo de Soto (1494–1560) oder Francisco Suárez (1548–1617) und anderer Vertreter der Schule von Salamanca, die auch außerhalb Spaniens auf breite Resonanz stießen und den zeitgenössischen theologischen und rechtsgelehrten Diskurs über das Völkerrecht und die Menschenrechte nachhaltig beeinflussten.55 Doch auch in gänzlich anderen Wissensfeldern wie der Botanik und Medizin, der Nautik und der Geographie sorgten spanische Autoren des 16. Jahrhunderts für eine erhebliche Erweiterung des Kenntnisstandes der Europäer. Zwischen 1565 und 1574 veröffentlichte etwa der in Sevilla ansässige Mediziner Nicolás Monardes (1512–1588) ein dreibändiges Werk über Arzneipflanzen aus Übersee, deren medizinischen Nutzen er in jahrelangen Experimenten erprobt hatte.56 Unter den nautischen Schriften sind insbesondere die Werke El Arte de navigar y regimiento de navegación (1545) von Pedro de Medina (1493–1567) und Breve compendio de la sphera y de la arte de navigar (1551) von Martín Cortés (1510–1582) zu nennen, die in ganz Europa verbreitet und übersetzt wurden.57 Ebenso begehrt waren geographische Beschreibungen der neu entdeckten Gebiete und ihrer Bewohner wie etwa Juan López de Velascos (ca. 1530–1598) 1574 erschienene Geografía y Descripción Universal de las Indias.58
Höfische Kultur, Kunst und Architektur
Mindestens ebenso viele Mythen und Legenden wie um die spanische Inquisition ranken sich um das so genannte "Spanische Hofzeremoniell", das die Person des Monarchen in zuvor nicht gekannter Weise entrückte und sakral überhöhte und in dessen rigidem Korsett die Mitglieder des Hofstaats einschließlich des Königs selbst wie Gefangene wirkten. Diese Sichtweise, wie man sie besonders zugespitzt bei Ludwig Pfandl (1881–1942) oder Michael de Ferdinandy (1912–1993) findet,59 schreibt ein Bild des spanischen Hofes fort, wie es sich bereits in Reiseberichten aus dem 17. Jahrhundert nachweisen lässt.60 Von der neueren Forschung ist dieses Bild allerdings in Teilen revidiert worden.61 So heben etwa vergleichende Untersuchungen, trotz aller Unterschiede, die Ähnlichkeit zentraler Elemente und die funktionale Äquivalenz des Zeremoniells an den unterschiedlichen europäischen Höfen hervor.62
Für die Frage nach der Bedeutung Spaniens als Ausgangspunkt kultureller Transfers im 16. Jahrhundert ist das spanische Hofzeremoniell, dem nicht zu Unrecht eine Modellfunktion für die europäische Hofkultur zugeschrieben wird, gleichwohl von erheblichem Interesse. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich einmal mehr, das kulturelle Transferprozesse selten eingleisig in eine Richtung verlaufen, Ausgangs- und Zielkultur vielmehr in einem ständigen Austauschprozess stehen und oftmals nicht klar voneinander geschieden werden können. Schon die Bezeichnung "spanisches" Hofzeremoniell ist eigentlich irreführend, ging letzteres doch aus der Einführung des burgundischen Zeremoniells am Hof Karls V. im Jahre 1548 hervor, das dann unter Ferdinand I. gleichsam als Reimport aus Spanien wieder an den Wiener Hof gelangte. Dass wir es dabei mit komplexen Aneignungs- und Adaptionsprozessen zu tun haben, die am Objekt des Transfers ihre Spuren hinterließen, liegt auf der Hand. Für den Historiker stellt sich jedoch das Problem, dass sich diese Vorgänge kaum mehr rekonstruieren lassen, da erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts systematische Zeremonialordnungen und Etikettevorschriften überliefert sind, die tiefere Einblicke in die zeremonielle Praxis sowohl am spanischen als auch am Wiener Kaiserhof gewähren.63
Die Bezeichnung "spanisches Hofzeremoniell" lässt gleichwohl erahnen, wo schon die Zeitgenossen seinen Ursprung vermuteten, und zeugt von der Wahrnehmung eines kulturellen Gefälles zwischen Spanien und dem Rest Europas. Noch deutlicher lässt sich dieses Phänomen auf dem Feld der Kleidermode nachweisen, denn hier kam dem spanischen Hof während des 16. und 17. Jahrhunderts ganz fraglos Modellcharakter zu: Die so genannte "spanische Tracht" setzte sich, in regional je unterschiedlicher Ausformung, als Kleidungsstil der Oberschichten in ganz Europa durch.64
Der Hof, aber auch die prosperierenden Handelsstädte, allen voran das reiche Sevilla, im 16. Jahrhundert mit fast 130.000 Einwohnern eine der größten Städte der Welt, spielten auch eine zentrale Rolle als Auftraggeber für Künstler und Architekten, deren Schaffen weit über den Herrschaftsbereich der spanischen Krone hinaus wirkte.65 Dabei handelte es sich jedoch in vielen Fällen selbst um Ausländer, die sich teils dauerhaft in Spanien ansiedelten wie etwa der Grieche Dominikos Theotokopoulos (1541–1614), besser bekannt als El Greco[], teils auch nur Auftragsarbeiten ausführten wie etwa Tizian (1477–1576), Anthonis Mor (1517–ca. 1577) oder Peter Paul Rubens (1577–1640).66 Auch die gebürtigen Spanier unter den führenden Künstlern und Architekten ihrer Zeit wie Alonso Sánchez Coello (ca. 1531–1588), Diego de Velázquez (1599–1660), Pedro Machuca (1490–1550) oder Juan Bautista de Toledo (ca. 1515–1567) zeigten sich offen für Einflüsse aus anderen europäischen Regionen, vornehmlich aus Italien und den Niederlanden, oder hatten dort ihre Ausbildung erhalten. Der Kunsthistoriker Jonathan Brown geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er konstatiert: "Spain dominated the politics of Europe, only to be dominated itself by the cultures of Italy and Flanders".67 Gefördert durch das verschwenderische Mäzenatentum des Hofes, des landsässigen und städtischen Adels und der Kirche wurde die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert also gleichsam zu einem Schmelztiegel für Kunststile unterschiedlicher Provenienz, aus denen sich aber auch ganz eigene Formen entwickelten, die zum Teil wieder ins übrige Europa zurückwirkten, wie etwa der hispanische Barock dies- und jenseits des Atlantiks.68
Dies gilt für die bildende Kunst gleichermaßen wie für die Architektur. So vermischten sich in der spanischen Baukunst des 16. Jahrhunderts Einflüsse aus der italienischen Renaissance mit gotisch-maurischen Traditionen.69 Wie ein Solitär, gleichsam herausgelöst aus der Entwicklung der Kunst und Baustile auf der Iberischen Halbinsel, erscheint hingegen der unter Philipp II. zwischen 1563 und 1584 errichtete monumentale Klosterpalast El Escorial, der mit seiner strengen Symmetrie und seinen gewaltigen Abmessungen noch heute wie die steinerne Umsetzung einer abstrakten Idee wirkt.[] Obgleich der Escorial-Palast schon von den Zeitgenossen als achtes Weltwunder bestaunt wurde, ging von ihm jedoch nie eine vergleichbare Wirkung für die europäische Schlossarchitektur aus wie von dem rund hundert Jahre später errichteten Versailles.70 Und selbst im Fall des Escorial handelt es sich keineswegs um eine genuin spanische Schöpfung: Die ursprünglichen Pläne stammten von Juan Bautista de Toledo, der seine Ausbildung in Rom und Neapel erhalten hatte. Für bestimmte Teile der Innenausstattung etwa die Grabdenkmälerder königlichen Familie in der Basilika oder die Ausmalung der Bibliothek engagierte Philipp II. ausschließlich italienische Künstler.71 Auch das Lustschloss Aranjuez war einem italienischen Palast, der Residenz der Herzöge von Mantua in Marmirolo nachempfunden, und für den unter Philipp IV. (1605–1665) zwischen 1630 und 1640 errichteten Buen-Retiro-Palast in Madrid standen ebenfalls italienische Vorbilder Pate.72
Ein "spanisches Jahrhundert"?
Die Frage, ob und inwieweit das 16. Jahrhundert nun als "spanisches" Jahrhundert angesehen werden kann, wird man für unterschiedliche Bereiche der zeitgenössischen Gesellschaft und Kultur je unterschiedlich beantworten. Obgleich die spanische Sprache im 16. Jahrhundert ihren weltweiten Siegeszug antrat, wurde sie in Europa – anders als zuvor das Latein und später das Französische – doch nie zur Lingua franca. Die zeremoniellen Gepflogenheiten und die Kleidung am spanischen Hof wiederum wirkten offenbar durchaus stilbildend in anderen Teilen Europas. Im Bereich der bildenden Kunst, der Architektur und teilweise auch der Literatur nahm Spanien dagegen anfänglich eher Einflüsse aus anderen europäischen Regionen auf. Teilweise sind die Spuren kultureller Transfers heute aber auch verblasst und als solche gar nicht mehr erkennbar. Die oranische Heeresreform etwa, deren Einfluss auf das europäische Kriegswesen im 17. und 18. Jahrhundert unbestritten ist, wäre ohne die Auseinandersetzung mit dem militärisch übermächtigen Gegner Spanien so wohl nie auf den Weg gebracht worden; teilweise entwickelten die Niederländer dabei auch spanische Vorbilder weiter.73 Ähnliches gilt für den Einfluss der Schule von Salamanca auf das Denken Hugo Grotius' (1583–1645), der gemeinhin als Begründer des modernen Völkerrechts angesehen wird.
Diesen wenigen Beispielen ließen sich leicht weitere hinzufügen; doch führt die Frage nach dem "spanischen" Einfluss auf die europäische Kultur des 16. Jahrhunderts letztlich in die Irre. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich vieles von dem, was gemeinhin als "spanisch" apostrophiert wird, bereits als Ergebnis einer métissage. Die Jahrhunderte der convivencia zwischen Islam, Christentum und Judentum auf der Iberischen Halbinsel, der kulturelle Austausch zwischen den unterschiedlichen Teilen des spanischen Weltreichs im 16. Jahrhundert, die dynastischen Verflechtungen des Hauses Habsburg, die Tätigkeit kosmopolitischer Handelsnetzwerke – all dies begünstigte eine kulturelle Synthese, die nie auf den Herrschaftsbereich der spanischen Monarchie begrenzt blieb. Vielleicht kann – allen gegenläufigen Tendenzen zum Trotz – am ehesten in diesem Sinn von einem "spanischen" Jahrhundert als einem Jahrhundert des sich beschleunigenden kulturellen Austauschs innerhalb Europas und über die Grenzen des Kontinents hinaus die Rede sein.