Einleitung
Die große Bedeutung von Musik für die französische Hofkultur gründete einerseits in ihrer Verwendung für repräsentative Zwecke sowie andererseits in der Verankerung musikalischer Gewandtheit im Verhaltensideal des Honnête homme.1 Wie bereits Ludwig XIII. (1601–1643), der sogar selbst als Komponist in Erscheinung getreten war, zeichnete sich auch Ludwig XIV. (1638–1715) durch eine bemerkenswerte musikalische Bildung aus, spielte mehrere Instrumente und befand immer wieder persönlich über die Anstellung von Sängern, Instrumentalisten und Komponisten.
Organisatorisch verteilte sich der Geltungsbereich der Musik am französischen Hof auf drei Abteilungen: Zur Chapelle zählten die Sänger – darunter ein Knabenchor – und Instrumentalisten für den Kirchendienst und die Tafelmusik; die überwiegend aus Bläsern bestehende Instrumentalabteilung der Écurie unterstand dem Marstall und war für Freiluftaufführungen zuständig; der Chambre schließlich gehörten das berühmte Streichorchester des Königs (la grande bande des vingt-quatre violons), sechs weitere Instrumentalisten, ein Sängerensemble sowie ab der Mitte des 17. Jahrhunderts ein kleineres zweites Orchester (la petite bande) an.2
Im Folgenden soll es erstens darum gehen, die Verfestigung eines für die Musik eingeforderten französischen Ideals in den Blick zu nehmen sowie zweitens auf dieser Grundlage die europäische Rezeption des betreffenden Modells zu diskutieren. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf die ästhetischen Prämissen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gerichtet, als unter Ludwig XIV. eine Institutionalisierung und Akademisierung auch auf dem Gebiet der Musik betrieben wurde, die bis ins späte 18. Jahrhundert hinein tiefgreifende Konsequenzen zeigen sollte. Weitgehend ausgeklammert werden hingegen die Abstoßbewegungen im Geiste einer künstlerischen "Natürlichkeit", die in den 1740er Jahren von Charles Batteux (1713–1780) und wenig später in den Schriften und Kompositionen Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) reklamiert wurde.3 So relevant diese für die Musikästhetik der Aufklärung auch werden sollte, so wenig lässt sie sich in funktionaler Hinsicht als dezidiert "französisches" Modell verstehen: Die Natürlichkeitsdebatte zielte primär auf die Frage nach einer allgemeinen menschlichen "Natur" jenseits normierter Vorgaben und betraf höchstens in zweiter Linie spezifisch nationale Ausformungen.
Der Zeitpunkt, an dem sich in Paris eine grundlegende Wende von der vorherrschenden italienischen Musik zu einer französischen (allerdings mit universalem Anspruch) ereignete, lässt sich exakt bestimmen: der Tod des Kardinals Jules Mazarin (1602–1661), Premierminister unter Ludwig XIV., am 9. März 1661. Mazarin hatte zeitlebens die italienische Kunst gepflegt und unter anderem den Bildhauer und Architekten Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) nach Paris geholt,4 ebenso wie Francesco Cavalli (1602–1676), mit dessen Werken er die italienische Oper am französischen Hof zu etablieren suchte.5 Unmittelbar nach dem Tod des unbeliebten italienischstämmigen Premierministers setzte eine von Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) angetriebene Konzentration auf eigene künstlerische Kräfte ein, die als Ausdruck französischer Potenz dienen und damit verstärkt zur Verherrlichung von Ludwig XIV. und dessen Reich beitragen sollten. Fortan galt es, Frankreich symbolträchtig als fruchtbaren Boden zu inszenieren, der auch auf dem Gebiet der Kunst Überragendes hervorzubringen vermochte. Von dieser Neuausrichtung besonders stark betroffen waren neben den bildenden Künstlern hauptsächlich die Musiker: Nachdem 1662 zunäXerxes und Ercole amante im Rahmen der königlichen Hochzeit von 1660 nach Paris gekommen waren, in ihre Heimat zurückkehren mussten, wurden 1666 schließlich konsequent alle italienischen Musiker der königlichen Kapelle entlassen.6 Bereits seit 1661 hatten sie nicht mehr für den König spielen dürfen,7 und dies, obwohl Ludwig XIV. 1660 noch nahezu täglich mehrere Stunden den von Mazarin eingeladenen Sängern zugehört hatte.8
Die von Colbert initiierte Kulturpolitik zielte nicht nur darauf, die praktische Ausführung fortan in die Hände von Franzosen zu legen, sondern hauptsächlich auf die grundsätzliche Emanzipation der künstlerischen Kriterien von Italien. Die Wende dazu, die Bedeutung der italienischen Tradition weit unter die eigene zu stellen, erfolgte zeitgleich mit der Etablierung neuer französischer Kunstinstitutionen – die Académie royale de danse wurde 1662 gegründet, die Académie royale des inscriptions et belles-lettres 1663 und die direkt dem Konkurrenzverhältnis zu Italien entsprungene Académie de France à Rome 1666.9 Im Hintergrund dieser parallelen Entwicklungen stand ein Denkmodell, demzufolge ein universal gültiger, französischer Stil einem nationalen – und damit nur kleinräumig relevanten – italienischen Stil gegenübergestellt wurde. Während das der italienischen Musik nurmehr zugestandene Moment des "Exotischen" eine bloß regionale Bedeutung implizierte – allgemein Verbindliches kann unmöglich exotisch sein –,10 nahm Frankreich für seine akademischen Regeln universelle Gültigkeit in Anspruch. Statt der Beeinflussung durch Italien wurde nun französische Eigenständigkeit auf der Basis zeitloser Werte demonstriert. In der konkreten Umsetzung aber sollte dies mehr eine künstlerische Syntheseleistung als die Entwicklung eines genuin französischen Stils bedeuten.
Von dem Vakuum, das in Paris durch die Entlassung italienischer Musiker und die erforderliche musikalische Neuausrichtung entstanden war, profitierte neben dem Sänger und Komponisten Michel Lambert (1610–1696) hauptsächlich dessen künftiger Schwiegersohn: Jean-Baptiste Lully (1632–1687) []. Bereits ein Jahrzehnt bevor er 1671 durch den Patentbrief für die Académie royale de musique endgültig eine in dieser Form einzigartige musikalische Monopolstellung erlangen sollte, richtete der nur zwei Monate nach Mazarins Tod im Mai 1661 zum Surintendant de la musique du Roi beförderte Lully seine Tonsprache auf die neue kulturpolitische Situation aus. Damit behauptete sich nach der symbolträchtigen Entlassung der italienischen Künstler mit Lully ausgerechnet ein in Florenz geborener Italiener, der just in dieser Zeit gleichsam über Nacht zum naturalisierten Franzosen mutierte, als bestimmende Instanz der französischen Musik.
Das französische Ballet de cour
Tanz und Ballett spielten in der französischen Hofkultur seit dem späten 16. Jahrhundert eine so entscheidende Rolle, dass es auf der Hand lag, die Abgrenzung von italienischer Musik insbesondere auf dem Gebiet der Tanzmusik zu demonstrieren. Während die Airs und Récits von Lambert im Bereich der Vokalmusik endgültig zum zeitgemäß französischen Ideal avancierten, nutzte Lully die Gunst der Stunde, indem er seine Ballets de cour seit dem im Juli 1661 uraufgeführten Ballet des saisons nun in dezidiert nicht-italienischer Weise vertonte; die naheliegende Verbindung des unangefochtenen vokalen mit dem instrumentalen Stil kam spätestens bei der Zusammenarbeit von Lully mit Lambert anlässlich des demonstrativ französischen Ballet des arts (1662) zum Tragen.11 Obwohl Lullys eigener Ruhm als italienischer Baladin (als Tänzer und Komponist virtuoser oder parodistischer Auftritte) begonnen hatte, reduzierte er ab 1661 markant die Zahl solcher als "italienisch" erachteter pantomimischer Entrées und konzentrierte sich in den Ballettvertonungen auf jenen gravitätischen Tanzstil, der bis 1669 auch von Ludwig XIV. selbst ausgeübt wurde.12
Als der vierzehnjährige Ludwig XIV. unmittelbar nach der Niederschlagung der Fronde-Aufstände 1653 erstmals im später so benannten Ballet de la prosperité des armes de la France auftrat, war es dem Minister Kardinal Mazarin noch ratsam erschienen, den Tanz des Königs in einer öffentlichen Erklärung als unmittelbare Folge einer segensreichen Politik zu legitimieren. Gottesdienste allein reichten laut Mazarins Avertissement nicht aus, um die vielen politischen Triumphe zu feiern. Vielmehr müsse der irdische Dank in einem königlichen Ballett zum Ausdruck kommen, das der Kardinal sogar als ebenbürtiges weltliches Gegenstück zur kirchlichen Liturgie verstanden wissen wollte. 13
Die religiöse Überhöhung des Ballet de cour rechtfertigte einen Aufwand, der einerseits in finanzieller Hinsicht bisher ungeahnte Dimensionen erreichte und andererseits die Zusammenarbeit von führenden Dichtern, Tanzmeistern, Komponisten und Malern notwendig machte. Bei den späteren Auftritten des Königs war die gleichsam liturgische Dimension des Ereignisses bereits so tief im allgemeinen Bewusstsein verwurzelt, dass sich weitere Rechtfertigungen erübrigten: Das Ballet de cour war in den 1660er Jahren endgültig zum Mittelpunkt höfischer Repräsentation geworden. Unter dem Deckmantel des Divertissements wurde einerseits auf die Allmacht des Königs im geeinten Frankreich gepocht und andererseits den Höflingen ein genau determiniertes "nobles" Verhalten abverlangt. Diese doppelte Funktion war sowohl für die Hofbälle als auch für die Hofballette konstitutiv – ein Phänomen, das bereits den Zeitgenossen durchaus bewusst war, wie ein Blick in die Tanztraktate des einflussreichen Jesuiten Claude-François Ménestrier (1631–1705) aus dem späten 17. Jahrhundert zeigt.14
Mit dem letzten tänzerischen Auftritt von Ludwig XIV. im Ballet royal de Flore am 13. Februar 1669 fand die Gattung des Ballet de cour zu einem späten Höhepunkt – um sogleich nach dem Rückzug des Monarchen von der Bühne weitgehend an Bedeutung einzubüßen.15 Anlass für das äußerst kostspielige Ballett war ein am 2. Mai 1668 in Aachen unterzeichneter Vertrag, der den Krieg gegen Spanien beendete und der französischen Krone große Ländereien einbrachte.16 Obwohl Ludwig XIV. den Konflikt nach dem Tod seines Schwiegervaters Philipp IV. (1605–1665) selbst provoziert hatte, wurde er im Ballet royal de Flore als europäischer Friedensfürst gefeiert, der den feindlichen Attacken aus dem Süden tapfer standgehalten hatte.17 Die gottgleiche Tugendhaftigkeit von Ludwig XIV. sowie seine antikisierende Überhöhung ist denn auch der eigentliche Inhalt von Isaac de Benserades (1612–1691) Libretto.18
Auch wenn sich wegen des ungewöhnlich hohen Anteils von Chören und solistischen Gesangspartien im Ballet royal de Flore bereits die weitere Entwicklung zum Opéra-ballet abzuzeichnen scheint, sind die fünfzehn Entrées keiner inneren Logik entsprechend angeordnet. Die gegenseitige Überlagerung von Fabel und höfischer Realität wurde nicht allein durch die mehr oder weniger explizite Monarchenverehrung sowie durch die hohe Zahl agierender Adliger gewährleistet (25 von insgesamt 138 Beteiligten waren Angehörige des Hofes), sondern auch durch die von Lully einbezogenen französischen Modetänze Canarie, Bourrée und Menuett.19
Unter dem Eindruck der Ballettsuite dürften schließlich auch die meisten französischen Suiten entstanden sein, die Louis Couperin (ca. 1626–1661) für das Cembalo komponierte. Der Organist von Saint-Gervais begründete mit einem Stil, der sowohl von italienischer Virtuosität als auch von französischer Tanzmusik geprägt war, die besondere Rolle der Tastenmusik für die französische Musik ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine besondere Blüte sollte diese schließlich mit Louis Couperins Neffen, François Couperin (1668–1733) erlangen, der in seinen Werken ebenfalls auf eine Verbindung italienischer Spieltechniken mit französischen Ordnungsprinzipien zielte. Als programmatische Beispiele für François Couperins Streben nach einer sowohl italienischen als auch französischen Kompositionsweise seien die Sammlung Les goûts-réunis genannt und – gleichsam als Hommage an die Begründer des italienischen bzw. französischen Stils – L'Apothéose de Corelli sowie die kurz darauf veröffentlichte Apothéose de Lulli.
Die Académie royale de musique und der hervorragende Stellenwert der Oper
In seinem berühmten Tanztraktat Des Ballets anciens et modernes selon les règles du théâtre von 1682 lobte Ménestrier ohne jede Einschränkung die in Frankreich vollbrachte Leistung, sämtliche Künste zu reglementieren.20 Als eigentliche Kontrollinstanz fungierte eine wachsende Zahl von Akademien, deren Zensurrechte für ganz Frankreich durch königliche Patentbriefe besiegelt waren. Noch unter Ludwig XIII. war eine solche Akademien-Flut nicht durchsetzbar gewesen, da sich das damals einflussreiche Parlament gegen jede potentielle Machtbeschneidung verwahrt hatte – selbst die Patentbriefe für die Académie française vom 29. Januar 1635 konnten erst nach mehrfacher Intervention des Kardinals Armand-Jean du Plessis de Richelieu (1585–1642) am 10. Juli 1637 endlich registriert werden.21
Da ein Patent in jedem Fall eine Monopolstellung nach sich zog, bedeutete es für die auserwählten Akademiker eine höchst lukrative Finanzquelle, die umso kräftiger sprudelte, je kompromissloser die Machtposition ausgenutzt und die Uniformierung vorangetrieben wurde. Lully, der sich dank einer erfolgreichen Intrige 1672 die lukrativen Rechte an der Académie royale de musique (der sogenannten Opéra) sichern konnte, trieb dieses Prinzip gleichsam auf die Spitze.22 Die Grundlage seiner beispiellosen Karriere bot der von Ludwig XIV. unterzeichnete Patentbrief:
… im Wissen um die Intelligenz und die große Kenntnis, die sich unser teurer und wohl-geliebter Jean Baptiste Lully auf dem Gebiet der Musik erworben hat …; haben wir [Ludwig XIV.] besagtem Sieur Lully erlaubt und zugesprochen, erlauben wir und sprechen wir mit vorliegendem Schreiben von unserer Hand zu, eine Academie Royale de Musique in unserer guten Stadt Paris zu gründen, die von einer solchen Anzahl und von solchen Personen zusammengesetzt sein wird, wie er es für richtig halten wird … Sehr ausdrücklich verboten ist allen Personen, von welchem Stand und welcher Anstellung sie auch sind, … einzutreten, ohne zu bezahlen. Ebenso irgendein vollständiges Stück mit Musik aufzuführen, sei es mit französischen Versen oder in einer anderen Sprache, ohne Bewilligung des besagten Sieur Lully, mit einer Buße von 10'000 Livres und der Konfiszierung von Theater, Bühnenmaschinerie, Bühnenbild, der Kostüme etc., wovon ein Drittel uns zu übergeben ist, ein Drittel dem Hospital General und ein Drittel besagtem Sieur Lully …23
Im Gegensatz zur Académie royale de danse, deren Stellenwert darauf gründete, dass der Tanz als Wiege des noblen Verhaltens gepriesen wurde, wurzelte die Bedeutung von Lullys Privileg aus dem Jahre 1672 in einer weit über den höfisch repräsentativen Kontext hinausreichenden, gleichsam an das Motto "Brot und Spiele" gemahnenden Funktion. Die Académie royale de musique entstand nicht zuletzt deshalb, weil der König die wachsende Notwendigkeit eines öffentlichen, breiten Kreisen zugänglichen Divertissements erkannte. So soll Ludwig XIV. den Patentbrief für Lully gegenüber dem einflussreichen Colbert damit entschuldigt haben, dass er wegen der Dringlichkeit solcher Veranstaltungen unmöglich auf den Komponisten verzichten könne und er jenem – durchaus contre cœur – zugestehen müsse, was er verlange.24 Wie für eine Akademie üblich, betraf auch das Monopol der Académie royale de musique laut Patentbrief weniger den Hof, sondern umfasste hauptsächlich das Musikleben in Paris und ganz Frankreich. Ohnehin gewann das nichthöfische Publikum zunehmend an Bedeutung und wurde endgültig maßgebend für die Erfolge Lullys, als sich Ludwig XIV. unter dem Einfluss seiner Mätresse, der Marquise de Maintenon (1635–1719), sowie nach dem Tod der Königin 1683 verstärkt der Kirche zuwandte – eine gleichsam pietistische Wende, die nicht zuletzt das königliche Interesse an den weltlichen Künsten spürbar schmälern sollte.25
Für die geistliche Musik brachte das neue Interesse von Ludwig XIV. an der Kirche einen spürbaren Aufschwung, der umso mehr ins Gewicht fiel, als sich zuvor in der Ausprägung liturgischer Musik eine eigentümliche Zurückhaltung nicht übersehen lässt. Von besonderer Tragweite für die kirchenmusikalische Praxis in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war dabei die Vorliebe des Königs für Motetten, die er bei jeder Form des Gottesdienstes zu hören wünschte. In feierlichen Messen erklangen bis zu drei Motets, während derer der Priester die Liturgie still zu verrichten hatte. Die für die Chapelle Royale zu diesem Zweck komponierten Werke, die in keinem nennenswerten inhaltlichen Verhältnis zur Liturgie stehen mussten, stammten zunächst von Nicolas Formé und Jean Veillot; zunehmend erweiterten sich allerdings Besetzung und Form zum repräsentativen Grand Motet, der neben Jean-Baptiste Lully hauptsächlich von Henry Du Mont (1610–1684) gepflegt werden sollte.26
Wie es bereits der Dachname Opéra nahelegt, handelte es sich bei der Académie royale de musique faktisch um einen Opernbetrieb. Obwohl Lully noch wenige Jahre zuvor kein Interesse an einer Adaption der genuin italienischen Gattung Oper für Frankreich gezeigt hatte, war zweifellos die Aussicht auf den lukrativen Patentbrief für den Gesinnungswandel ausschlaggebend. Selbstverständlich konnte zu diesem Zweck nicht einfach das italienische Modell übernommen, sondern musste eine spezifisch französische Form entwickelt werden, die erstens den Eigenschaften der als wenig sanglich geltenden französischen Sprache gerecht wurde und zweitens den gesellschaftspolitischen Gegebenheiten in Paris entsprach. Lully begegnete den Anforderungen mit dem neuen Typus der Tragédie en musique (auch Tragédie lyrique), deren Name und typische Fünfaktigkeit auf die im Theater traditionellerweise am höchsten stehende Tragödie rekurrierte.
Durch die prominente Rolle, die Lully in der Tragédie lyrique dem Ballett einräumte (eine Eigenheit der französischen Oper, die bis weit ins 19. Jahrhundert prägend bleiben sollte), ergab sich freilich im Ansatz eine Fortführung von Prinzipien aus dem vormals zentralen, repräsentativen Ballet de cour.27 Dass sich der Komponist tatsächlich vom Ballett aus der Oper angenähert haben dürfte, zeigt nicht zuletzt die kurze Phase seiner Zusammenarbeit mit Jean-Baptiste Molière (1622–1673): Dort hatte sich im Comédie-ballet, das in Le Bourgeois gentilhomme (1670) gipfelte, das Ballett bereits mit der Komödie verbunden. Während sich jedoch im Comédie-ballet die musikalischen und schauspielerischen Nummern noch ungefähr die Waage gehalten hatten, kam der Komposition in der Tragédie lyrique nun ein hervorragender Stellenwert zu.28 Auch strebte Lully in seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit dem Librettisten Philippe Quinault (1635–1688) nicht nach einer bloßen musikalischen Untermalung im Sinne einer "Tragédie avec musique", sondern zunehmend nach einer dramaturgisch durchdrungenen "Tragédie en musique".29
Während in Cadmus et Hermione (1673), der ersten Tragédie lyrique, die gleichsam eklektische Verbindung von italienischer Oper, Ballet de cour, solistischen Airs, Chören und instrumentalmusikalischen Formen mit Händen zu greifen ist, erarbeitete Lully in seiner vierten Oper (Atys, 1676) erstmals eine eigenständige großformale Dramaturgie der französischen Tragédie lyrique. Die Entwicklung der französischen Oper im 17. Jahrhundert ist mit Lullys Bühnenschaffen (bis zu seinem Tod 1683 komponierte er nahezu jedes Jahr eine Oper) vollständig deckungsgleich. Mit dem Patentbrief hatte Lully sämtliche Mitkonkurrenten und namentlich Marc-Antoine Charpentier (1643–1704) über Jahre hinweg aus dem Feld geschlagen.30 Die daraus resultierende Modellfunktion, die durch die Akademie verabsolutiert wurde, blieb bis weit ins 18. Jahrhundert hinein für die französische Opernproduktion verbindlich und stellte für die Komponisten nach Lully eine erhebliche Beschränkung dar.31
Freilich: Weder das von Lully bereits 1672 erlangte Monopol auf dem Gebiet der Oper noch die lange Nachwirkung seiner Bühnenwerke konnte verhindern, dass die Konzeption einer genuin französischen Tragédie en musique von Beginn an Gegenstand zahlreicher Streitereien war. So schlug sich bereits die Querelle des Anciens et des Modernes, die 1687 durch Charles Perrault (1628–1703) und sein in der Académie Française vorgetragenes Gedicht Le Siècle de Louis le Grand ausgelöst wurde, in der Diskussion um eine französische Oper nieder.32 Während sich die erste Querelle um die Frage drehte, ob die Antike oder das gegenwärtige Frankreich als primärer Bezugspunkt zu gelten habe, konzentrierte sich der 1705 ausbrechende, nächste Prioritätenstreit auf die Gegenüberstellung Italiens und Frankreichs. Diese 1705 zwischen François Raguenet (ca. 1660–1722) und Laurent Le Cerf de la Viéville (1674–1707) entbrannte Kontroverse um den Vorrang italienischer oder französischer Musik sollte über Paris hinaus ihre Wirkung entfalten und gar über Johann Christoph Gottsched (1700–1766) Eingang in den norddeutschen Diskurs finden. Als weiterer Opernstreit ist die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Lullys und Pierre Rameaus (1674–1748) in den Jahren 1733 bis 1752 zu nennen. Der Stellenwert der französischen "Tragédie" im Verhältnis zu der europaweit dominierenden italienischen Oper führte im Verlauf des 18. Jahrhunderts außerdem zu der berühmten, von 1752 bis 1754 währenden Querelle des Bouffons sowie in den 1770er Jahren zu der heftigen Kontroverse zwischen den Anhängern Christoph Willibald Glucks (1714–1787) und Niccolò Piccinis (1728–1800).33
Französische Musik als europäisches Modell?
Universaler Anspruch
Im Kontext der von Colbert nach Mazarins Tod vorangetriebenen Kulturpolitik galt es, in der Kunst einen universalen Wertekanon zu etablieren und Frankreich als legitimen Erben der griechischen und vor allem der römischen Antike zu stilisieren. Den kulturpolitischen Anforderungen vermochten die bildenden Künste zumindest in theoretischer Hinsicht einfacher Folge zu leisten, da trotz aller Abwandlungen und Umdeutungen immerhin an tatsächlich überlieferte antike Skulpturen angeknüpft werden konnte. Ein solcher Bezugspunkt war in der Musik hingegen bloß über sprachliche Denotation in den Libretti und mit symbolhaften Bühnenbildern zu erreichen – eine Rekonstruktion der längst verlorenen römischen und griechischen Musik, wie sie bereits im 16. Jahrhundert die Académie de Baïf angestrebt hatte,34 wäre für die französische Selbstdarstellung untauglich gewesen, da sie schwerlich für die intendierte Repräsentationsfunktion hätte aktualisiert werden können.
Die für den französischen Antiken-Paragone erforderliche "Syntheseleistung" konnte folglich von den Komponisten unmöglich in derselben Weise wie von den bildenden Künstlern erbracht werden,35 da sich zwar die Libretti in eine fiktive Traditionslinie zum römischen Theater einordnen ließen, nicht aber deren klangliche Realisierung. Indem die Texte der Divertissements eine modernisierte Götterwelt beschworen und damit den nötigen Antikenbezug gewährleisteten, stellte sich die ästhetische Herausforderung für Komponisten und Choreographen in abstrakterer Weise dar. Analog zum Tanz, bei dem ebenso wenig ein Interesse an der Rekonstruktion weit zurückliegender historischer Bewegungsabläufe bestand, ging es letztlich auch in der Musik darum, absolute Kategorien jenseits antiker Vorbilder zu bestimmen. Während die tanzästhetischen Schriften Ménestriers und Michel de Pures (1620–1680) oder der Patentbrief für die Académie royale de danse stereotyp bei der Antike ansetzten, spielte eine Synthese zwischen historischen Idealen und zeitgenössischen Anforderungen in der Praxis keine Rolle.36 Vielmehr ging es darum, mit der aktuellen französischen Kunst über Italien zu triumphieren und Frankreich dadurch als legitimen Erben der Antike zu bestätigen.
Entsprechend erkannte etwa Rameau in seinem einflussreichen Maître à danser von 1725 Lullys Leistung auch nicht in irgendeiner Anknüpfung an antike Ideale, sondern in der praktischen Überbietung italienischer Komponisten in der ihnen ureigenen Domäne des Musiktheaters: "Lully, der bereits in seiner frühesten Jugend an den Hof von Louis le Grand gekommen war, vergaß gewissermaßen seine Heimat. Und seine Arbeiten gelangen so gut, dass Frankreich dank der Anmut genau derjenigen Spektakel, die [einst] in Rom und Venedig erfunden worden waren, ohne Mühe und für immer über Italien triumphierte."37
Die französische Musik habe dank Lully für alle Zeiten den Sieg über Italien davongetragen – der bezeichnenderweise nur wenige Monate nach Mazarins Tod durch königlichen Erlass zum Franzosen erklärte Italiener, der seine Laufbahn in Paris als dezidiert italienischer Komponist begonnen hatte, avancierte in den 1660er Jahren zur musikalischen Instanz Frankreichs. Insbesondere aufgrund seiner Tanzsätze, denen er den nötigen Glanz zu verleihen wusste, habe er den Sieg davongetragen.38 Da das höfische Verhaltensideal im Tanz zu einer stilisierten Überhöhung gefunden hatte, stand Letzterer ebenso wie die dazugehörige Musik in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem zwar französischen, jedoch allgemeingültigen "modernen" Menschenbild: Vor diesem Hintergrund war das entsprechende Ideal auch ohne expliziten Antikenbezug ein universales.
Das Ballet de cour in Europa
Am deutlichsten greifbar wird die Rezeption des französischen Modells auf dem Gebiet der Ballette sowie der Tanzmusik. Es war insbesondere die repräsentative Funktion, die das Ballet de cour für ausländische Fürsten attraktiv erscheinen ließ, um die machtpolitisch relevante Idealisierung auf der Bühne für eigene Zwecke nutzbar zu machen. Die notwendige Voraussetzung für eine direkte Adaption des Ballet de cour war allerdings, dass die Aufführungen unbedingt als genuine Leistung der betreffenden Souveräne verstanden wurden und nicht im Geringsten als künstlerische Kapitulation vor Frankreich fehlgedeutet werden durften. Dass diese Gefahr tatsächlich kaum bestand, lag an einem entscheidenden Charakteristikum des französischen Vorbilds: an dessen universalem Anspruch.
Frankreich musste für seine Prinzipien absolute Verbindlichkeit einfordern, um dem angestrebten Rang einer europäischen Universalmonarchie zumindest symbolisch gerecht zu werden, was zur Kehrseite hatte, dass die mutmaßlich allgemeingültigen künstlerischen Anstrengungen nur bedingt französisch konnotiert waren. So konnte das machtpolitisch geprägte Ballet des saisons (1661) selbst in Italien Begeisterung hervorrufen, da die Hinwendung zu repräsentativen anstatt komischen Entrées aus französischer Sicht zwar im Rahmen des dominierenden Anti-Italianismus – als künstlerischer Beweis der eingeforderten europäischen Vorrangstellung – intendiert war, im Ausland jedoch durchaus als Ausdruck eigener Ideale rezipiert wurde.
Aus dem Kontext der betreffenden Libretti gerissen, kündeten die instrumentalen Tanzsätze, nicht mehr vom Ruhm des französischen Königs, sondern je nach Aufführungsort von der Größe des toskanischen Großherzogs oder gar des österreichischen Kaisers. Trotz der Erbfeindschaft zwischen Wien und Paris waren sich die Hofhaltungen in ihren Grundsätzen so ähnlich,39 dass der repräsentative französische Tanz aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ungeachtet der dezidierten Ausrichtung der österreichischen Musikpraxis an Italien, auch Eingang in die Praxis des Habsburger Hofes fand.
Gerade am Beispiel der Wiener Rezeption wird deutlich, wie nahe sich der noble italienische Tanz (nicht aber die komische Pantomime) und der französische Tanz in ihren Prinzipien standen, war es doch sogar möglich, die Pariser Kompositionen unter einem italienischen Etikett aufzuführen. So findet sich beispielsweise die Musik zu den repräsentativen Entrées, die Lully 1661 für die Uraufführung von Cavallis Ercole amante in Paris verfasst hatte, in einer Abschrift wieder, die unter dem Titel Balletti francesi à 4 del S. Ebner explizit Wolfgang Ebner (1612–1665), den italienisch orientierten Hofkomponisten von Leopold I. (1640–1705), als Autor ausweist.40 Nur Lullys Name scheint aufgrund seiner Funktion als Surintendant de la musique du Roi in Wien nicht tragbar gewesen zu sein, seine Tanzsätze hingegen sehr wohl.
Die Rezeption französischer Musik
Die Rezeption französischer Modelle konzentrierte sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hauptsächlich auf Instrumentalmusik, nur gelegentlich hingegen auf das Ballett und selten auf die Oper.41 Wenig nachhaltig und geographisch punktuell erfolgte denn auch die Übernahme der Tragédie lyrique im europäischen Ausland. Es lassen sich nicht nur an einzelnen deutschen Höfen – wie in Braunschweig oder Hannover – Aufführungen französischer Werke nachweisen, sondern sogar an der von Patriziern getragenen Hamburger Oper am Gänsemarkt.42 An der seit ihren Anfängen am italienischen Repertoire ausgerichteten Bühne wurde 1692 Lullys letzte (und von seinem Schüler Pascal Colasse (1649–1709) vervollständigte) Oper Achille et Polyxène aufgeführt;43 zudem finden sich "französische" Spuren in der nach 1700 beliebten Hamburger Praxis, neben italienischen Arien vereinzelt französischsprachige Nummern in die deutschen Libretti zu integrieren.44 Der enormen Bedeutung der italienischen Oper für das europäische Musiktheater vermochte das französische Modell jedenfalls wenig entgegenzuhalten. Wie auch das Beispiel des florierenden Opernwesens im London des frühen 18. Jahrhunderts verdeutlicht, handelte es sich bei Aufführungen im Geiste der Tragédie lyrique letztlich um episodische Ereignisse.45
Dass vokale französische Gattungen im Ausland nur kurzfristig und höchstens regional zu Nachahmungen anregten, hing (abgesehen von der Vormachtstellung Italiens auf dem Gebiet der Oper)46 wohl nicht zuletzt mit den prosodischen Charakteristika der französischen Sprache zusammen. Sogar in Frankreich selbst wurde dem Französischen immer wieder eine nur mangelhafte Musikalität attestiert. Lamberts Ausformung der Airs, in der die Deklamation bisweilen auf Kosten taktmetrischer Einheitlichkeit gehen konnte, galt vor diesem Hintergrund gleichsam als bestmögliche Lösung, um das als wenig sanglich empfundene Idiom in eine adäquate Vertonung zu fassen. Noch Jean-Jacques Rousseau sollte sich in seinen Texten zur Musik äußerst kritisch über die französische Prosodie äußern: "Wahr ist allerdings, dass ich unsere Sprache – obwohl wir ausgezeichnete Dichter und selbst ein paar nicht ganz talentlose Musiker besitzen – nur wenig für Dichtung geeignet halte und überhaupt nicht tauglich für Musik."47
Nicht die Art der Sprachvertonung taugte also für die Verbreitung französischer Musik, sondern vielmehr instrumentale Modelle im Allgemeinen sowie die französische Ouvertüre und französische Tanzsätze im Besonderen. Die charakteristische repräsentative Qualität dürfte insbesondere für die Verbreitung des instrumentalen Typus' maßgebend gewesen sein, dessen gattungsspezifische Konturen sich seit Lullys Ouvertüre für das Ballet de la Nuit (1653) zunehmend verfestigten.48 Damals hatte der von Mazarin publizistisch sorgfältig vorbereitete Auftritt des jungen Königs den zeremoniellen Aspekt des Ereignisses von Anfang an ins Zentrum gerückt – gleichsam eine getanzte Zeremonie, in der Ludwig XIV. für alle sichtbar und dadurch gleichsam "wirklich" als Sonne in Erscheinung getreten war.49 Und den Introitus des von Mazarin auf dieselbe Stufe mit dem Gottesdienst gestellten Ereignisses bildete Lullys frühe Form der französischen Ouvertüre.50
Endgültig zu verfestigen begann sich der Gattungstypus – in klarer Abgrenzung zum italienischen Gegenstück der "Sinfonia"51 – schließlich in den 1660er Jahren, ab Lullys Ouvertüre zur Pariser Aufführung von Cavallis Xerxes. Charakteristisch für die genuin französische Ouvertürenform sind sowohl die zweiteilige Anlage (später meist mit Da capo), die majestätisch konnotierten Punktierungen im langsamen, geradtaktigen ersten Teil sowie der kontrastierende Mittelteil in raschem Tempo, mit ungeradtaktigem Metrum und imitierenden Stimmeneinsätzen. Dieser von Lully geprägte Typus der französischen Ouvertüre wurde seit dem späten 17. Jahrhundert in ganz Europa adaptiert. So finden sich französische Ouvertüren etwa in Henry Purcells (1659–1695) Oper Dido and Aeneas, in großer Zahl bei Georg Philipp Telemann (1681–1767), bei Johann Sebastian Bach (1685–1750) (Französische Ouvertüre, Partita h-moll BWV 831) oder auch in Georg Friedrich Händels (1685–1759) Wassermusik (HWV 348) sowie in seiner nicht minder repräsentativen Feuerwerksmusik (HWV 335).
Ein hervorragender Stellenwert wurde der französischen Ouvertüre außerdem in der deutschen Musiktheorie zugesprochen, als der (mit Nachwirkung für das ganze 18. Jahrhundert) bedeutende Johann Mattheson (1681–1764) bereits in seiner ersten musiktheoretischen Schrift, dem Neu=Eröffneten Orchestre (1713), die Gattung als wichtigste instrumentale Form überhaupt bezeichnete.52 Und in seinem als Hauptschrift rezipierten Vollkommenen Capellmeister (1739) sollte er die Vorrangstellung der Ouvertüre endgültig bestätigen, indem er festhielt, dass "deren Character die Edelmuth seyn muß" und sie "mehr Lobes verdient, als Worte hieselbst Raum haben".53
Neben der positiven Bewertung der französischen Ouvertüre, deren Entstehung untrennbar mit der höfischen Lebenswelt verflochten war, sticht in Matthesons Schrifttum insbesondere die Dominanz von tanzmusikalischen Modellen ins Auge. Unter den im Vollkommenen Capellmeister beschriebenen 22 instrumentalen Gattungen finden sich außer der Ouvertüre insgesamt 13 Tanztypen: Menuett, Gavotta, Bourrée, Rigaudon, Entrée, Gigue (mit Loure, Canarie, Giga), Polonaise, Angloise (Country dances, Ballads, Hornpipes), Passepied, Sarabanda, Courante, Allemanda und Chaconne (mit Passacaglia).54
In Form von Suiten prägten solche Tanzsätze die Kammermusik des frühen 18. Jahrhunderts, wobei hauptsächlich zwischen französischen Suiten (also mit französischen Tanzsätzen) und italienischen Suiten unterschieden wurde. Dass allerdings nicht nur für Mattheson, sondern auch für den damaligen Tanzdiskurs überhaupt das Ballrepertoire ganz selbstverständlich französisch determiniert schien und sich selbst deutschsprachige Autoren des 18. Jahrhunderts explizit auf die französische Académie royale de danse als Instanz beriefen,55 lässt paradoxerweise sogar die italienischen Suiten in "französischem" Licht erscheinen. Ganz in diesem Sinne führte auch Mattheson aus:
So viel muß man gerne gestehen: In der Instrumental, insonderheit aber in der Choraischen oder Tantz=Music sind die Frantzosen Meister / und werden überall / ohne imitiret zu werden / imitiret. Wenn man dannenhero Musicam Gallicam, respectu Italicae, alteram ab illâ nennen wolte / würde es eben kein groß Unrecht seyn / weil doch diese beyde / die Italiänische und Frantzösische Music nemlich / alleine etwas eigenes und originelles an sich zu haben scheinen; dahingegen andere sich gemeiniglich gerne auf eine oder alle beyde beziehen / und entweder eine Nachahmung oder Vermischung machen.56
Sowohl die Fokussierung der kompositorischen Möglichkeiten auf italienische und französische Musik als auch die "Vermischung" beider Vorbilder, die Mattheson bereits in seiner ersten Schrift darlegte,57 sollten tatsächlich zu bestimmenden Charakteristika der Rezeption werden. Das französische Modell genügte im Sinne Matthesons insofern den gesellschaftlich relevanten Anforderungen an musikalische "Galanterien", als seine klare Gliederung und repräsentative Wirkung der "Mode, dem gout" des gesellschaftlich gewandten Publikums entsprach.58 Im Gegensatz dazu erschienen auf dem Gebiet der Vokalmusik wiederum die Italiener als vorbildlich, da sie mit ihrer "caprice" den affektiven Kontrasten eines Textes unmittelbarer gerecht werden konnten.59 In demselben Atemzug, in dem sich Mattheson in einer Anmerkung des Beschützten Orchestre (1717) unmissverständlich gegen die Vokalmusik der Franzosen aussprach und zu derjenigen der Italiener bekannte, dekretierte er für das Gebiet der Instrumentalmusik genau umgekehrt, dass die "Frantzösische Instrumental=Music vor der Italiänischen einen Streich voraus" habe.60 Die Verbindung "galanter" französischer Modelle mit "kapriziösen" italienischen sollte denn auch für die weitere Entwicklung der Musik dies- und jenseits der französischen Grenzen wegweisend werden.